Zitate zu "Widerstand"
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Dr. Heinz Fischer
Anmerkung der Redaktion. Das Zeichen "/" symbolisiert in der Originalrede immer einen Absatz. / Hochgeschätzte Trauergemeinde! / Wir nehmen heute Abschied von Altbundespräsident Dr. Kurt Waldheim. / Wir tun dies im eindrucksvollen Rahmen dieses geschichtsträchtigen Domes und wir haben versucht, alle Wünsche zu berücksichtigen, die der Verstorbene in seinem letzten Willen geäußert hat. / Mein respektvoller Gruß gilt der Gattin des Verstorbenen, Frau Mag. Elisabeth Waldheim, seinen Kindern und seiner ganzen Familie. / Ich danke allen, die an dieser Trauerfeier teilnehmen und damit ihre Verbundenheit mit dem Verstorbenen und seiner Familie zum Ausdruck bringen. / Verehrte Trauergemeinde! / Dr. Kurt Waldheim hat für Österreich als Diplomat, als Außenminister und als vom Volk gewählter Bundespräsident gearbeitet und sein Bestes gegeben. / Er hat sich um die Lösung der Südtirolfrage verdient gemacht und wesentlich dazu beigetragen, dass wir auf Wien als dritten UNO-Sitz stolz sein können. Und er hat den Vereinten Nationen durch 10 Jahre hindurch in weltpolitisch wahrlich wohl schwierigsten Zeiten mit vollem Einsatz als Generalsekretär gedient. / Ich bin dem verstorbenen Altbundespräsidenten darüber hinaus für viele gute Gespräche seit meiner Wahl zu seinem Nach-, Nachfolger dankbar. / Ich glaube verstanden zu haben, was ihn in den letzten Jahren seines Lebens besonders bewegte und kann bezeugen, wie sehr er sich immer wieder mit den Fragen auseinandersetzte, die Anlass für heftige Kontroversen im In- und Ausland, für Zustimmung und Kritik rund um seine Person waren. / Kurt Waldheim hat es verdient, dass man sein Lebenswerk in seiner GESAMTHEIT würdigt und dass man außer Streit stellt, was nicht bestritten werden kann. / Daher bleibe ich auch heute - und gerade heute - bei der Feststellung, die ich schon vor 15 Jahren, im Juli 1992 als Präsident des Nationalrates in der Bundesversammlung aus Anlass der Verabschiedung von Kurt Waldheim aus der Funktion des Bundespräsidenten getroffen habe. / Nämlich der Feststellung, dass dem Menschen und dem Bundespräsidenten Kurt Waldheim Unrecht geschehen ist, wenn ihm Handlungen, bis hin zu Kriegsverbrechen angelastet wurden, die er NICHT begangen hat. / Verehrte Trauergemeinde! / Wenn ich mich bemühe, mir über die tiefsten Wurzeln der Konflikte um den Verstorbenen durch die Jahre hindurch Klarheit zu verschaffen, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass die Heftigkeit der Auseinandersetzungen über Kurt Waldheim nicht nur aus der Heftigkeit eines Präsidentschaftswahlkampfes erklärbar ist, sondern dass vor allem auch mit einem Paradigmenwechsel im Umgang mit unserer jüngeren Geschichte zusammenhängt. / Kurt Waldheim wurde zu einer Projektionsfläche für schlechtes Gewissen im Zusammenhang mit unserem Umgang mit der NS-Zeit und mit Versäumnissen in der Nachkriegsgeschichte. Vielleicht auch zu einer Projektionsfläche für manche unbeantwortet gebliebene Frage von Kindern und Enkelkindern der Kriegsgeneration an ihre Väter und Großväter. / Es ist wahr: Der Satz von der Pflichterfüllung hat viele betroffen gemacht. Vor allem wenn man bedenkt, wem diese Pflichterfüllung geschuldet wurde. / Aber gleichzeitig müssen wir eingestehen, wie wenig Respekt wir die längste Zeit gerade jenen erwiesen haben, die sich als Einzelkämpfer DIESER Pflichterfüllung entzogen haben oder zu entziehen versuchten. / So z. B. die Tatsache, dass die Witwe von Franz Jägerstätter nach 1945 in Österreich zunächst nicht einmal eine Witwenpension nach dem Opferfürsorgegesetz erhielt, obwohl oder gerade weil Franz Jägerstätter seine Pflicht NICHT erfüllte, und dafür mit seinem LEBEN bezahlen musste? / Haben wir Widerstandskämpfern nach Kriegsende jene Wertschätzung entgegengebracht, die wir ihnen schulden, wenn wir mit dem Begriff der "Pflichterfüllung" als Gegensatz zum Widerstand streng umgehen? / Und haben wir uns jemals wirklich ernsthaft, ehrlich und wahrhaftig in die Situation jener versetzt, die unter den Bedingungen der Jahre 1938 bis 45 leben mussten? / Nur wer die zuletzt gestellten Fragen reinen Herzens und guten Gewissens bejahen kann, der - wie das Wort heißt - "werfe den ersten Stein". / Verehrte Trauergemeinde! / Ich übersehe nicht, dass wir alle in den letzten Jahren und Jahrzehnten DAZUGELERNT haben und wichtige Schritte zur Aufarbeitung unserer Geschichte und unserer Schuld gesetzt wurden. Auch der nunmehr verstorbene Altbundespräsident hat dazugelernt. Er hat BERÜHRENDE LETZTE Worte zu Papier gebracht, er hat Fehler einbekannt und er hat vor allem seine Hand auch in Richtung seiner Kritiker und Gegner ausgestreckt. Er ha VERSÖHNUNG angestrebt. / Ich plädiere dafür, diese Hand nicht auszuschlagen und die menschliche Größe dieser Geste in vollem Umfang anzuerkennen. / Ich plädiere für Gerechtigkeit und für die Bereitschaft zur Versöhnung. / Und ich plädiere für weitere ernsthafte und gemeinsame Anstrengungen zum Zwecke einer um Objektivität bemühten Aufarbeitung der Grauzonen unserer jüngeren Geschichte. / In dieser Stunde des Abschiedes muss es unser Bemühen sein, im ereignisreichen Leben des verstorbenen Bundespräsidenten, in dem es ganz außergewöhnliche Höhepunkte, aber auch schwierige und schmerzliche Stunden gegeben hat, ALLE Teile seines Lebensweges in eine gerechte Relation zueinander zu setzen. / Die großen Leistungen von Kurt Waldheim, seine bleibenden Verdienste und seine Liebe zu Österreich dürfen nicht an den Rand gedrängt werden. Sie verdienen es, anerkannt und gewürdigt zu werden. / In wenigen Minuten wird der Verstobene vom Stephansdom ausgehend seinen letzten Weg zur Präsidentengruft antreten und im Sinne seines letzten Willens an zwei für sein Berufsleben besonders symbolischen Punkten Station machen: Am Ballhausplatz und in der UNO-City. / Im Namen der Republik möchte ich dem Verstorbenen Dank sagen. / Ich möchte der Familie des Verstorbenen und insbesondere seiner Witwe, Frau Elisabeth Waldheim, nochmals unsere aufrichtige Anteilnahme zum Ausdruck bringen. / Und ich verneige mich vor dem von uns gegangenen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim, der sowohl der Völkergemeinschaft, als auch seiner Heimat mit allen seinen Kräften gedient hat, der für die Idee des Friedens gearbeitet hat, und den ich aus ALLEN DIESEN GRÜNDEN einen großen Österreicher genannt habe. / Begleiten wir den Verstorbenen versöhnt zu seiner letzten Ruhestätte. / Er möge in Frieden ruhen.
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Dr. Heinz Fischer
Haben wir Widerstandskämpfern nach Kriegsende jene Wertschätzung entgegengebracht, die wir ihnen schulden, wenn wir mit dem Begriff der "Pflichterfüllung" als Gegensatz zum Widerstand streng umgehen? Und haben wir uns jemals wirklich ernsthaft, ehrlich und wahrhaftig in die Situation jener versetzt, die unter den Bedingungen der Jahre 1938 bis 45 leben mussten? Nur wer die zuletzt gestellten Fragen reinen Herzens und guten Gewissens bejahen kann, der - wie das Wort heißt - "werfe den ersten Stein".
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Joachim Gauck
"Die Freiheit in der Freiheit gestalten". Vor 23 Jahren stand ich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin und ich erinnere mich noch heute an den Klang der Freiheitsglocke, als um Mitternacht die Fahne der Einheit aufgezogen wurde. Es war der Abschluss einer bewegenden Zeit, vom Aufbruch im Herbst 1989 bis zum Tag der Vereinigung - für mich war es die beglückendste Zeit meines Lebens. // Der Freiheitswille der Unterdrückten hatte die Unterdrücker tatsächlich entmachtet - in Danzig, in Prag, in Budapest und in Leipzig. Was niedergehalten war, stand auf. Und was auseinandergerissen war, das wuchs zusammen. Aus Deutschland wurde wieder eins. Europa überwand die Spaltung in Ost und West. // Ich denke auch zurück an die Monate der Einigung, und nicht wenige der Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer sind heute unter uns. Wie viel Bereitschaft zur Verantwortung war damals notwendig, um Deutschland zu vereinen, wie viel Entscheidungsmut, wie viel Improvisationsgabe. Wie vieles war zu regeln: diplomatische und Bündnisfragen, grundsätzliche Weichenstellungen, hochwichtige, aber manchmal auch banale Details. Alle, die damals mitwirkten, waren Lernende, manchmal auch Irrende - aber immer waren sie, waren wir Gestaltende! Der 3. Oktober erinnert uns also nicht nur an die überwundene Ohnmacht. Er zeugt auch von dem Willen, die Freiheit in der Freiheit zu gestalten. // All das klingt nach am heutigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit. // Wir blicken zurück auf das, was wir konnten - dankbar für das Vertrauen, das andere in uns setzten, und stolz auf das, was wir seitdem erreicht haben: Ostdeutsche, Westdeutsche und Neudeutsche, alle zusammen - wir alle hier im Lande, zusammen mit Freunden und Partnern in Europa und der ganzen Welt. Das vereinigte Deutschland, es ist heute wirtschaftlich stark, es ist weltweit geachtet und gefordert. Unsere Demokratie ist lebendig und stabil. Deutschland hat ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das ein hohes Maß an Einverständnis der Bürger mit ihrem Land hervorgebracht hat. Für viele Länder in der Welt sind wir sogar Vorbild geworden - für Menschen meiner Generation fast unvorstellbar. All das ist Grund zur Dankbarkeit und Freude - einer Freude, die uns heute aber vor allem Ansporn sein soll! // Unser Land steht nun wieder vor einem neuen Anfang - so wie alle vier Jahre. Wir hatten eine Wahl. 44 289 652 Deutsche haben darüber abgestimmt, welche Bürgerinnen und Bürger künftig mitbestimmen werden über die Dinge des öffentlichen Lebens. Meine Damen und Herren Abgeordnete hier: Ich wünsche Ihnen Leidenschaft, Ehrgeiz und Achtsamkeit für all das, was Sie gestalten müssen - und was auf uns zukommt. // Denn vieles fordert uns heute heraus. Besonders auf drei große Herausforderungen möchte ich heute eingehen. Entwicklungen, die nicht jederzeit und nicht für jeden im Alltag spürbar sind, weil sie langfristig wirken. Entwicklungen auch, die nicht mehr allein innerhalb der Landesgrenzen zu regeln sind. // Erstens: In einer Welt voller Krisen und Umbrüche wächst Deutschland neue Verantwortung zu. Wie nehmen wir sie an? Zweitens: Die digitale Revolution wälzt unsere Gesellschaft so grundlegend um wie einst die Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine. Wie gehen wir mit den Folgen um? Beginnen möchte ich allerdings - drittens - mit dem demographischen Wandel. Unsere Bevölkerung wird in beispielloser Weise altern und dabei schrumpfen. Wie bewahren wir Lebenschancen und Zusammenhalt? // Tatsächlich wird es immer weniger Jungen zufallen, für immer mehr Ältere zu sorgen. Das schafft eine schwierige Lage, die unsere Kinder und Enkel möglicherweise erheblich einschränken wird. Andererseits entsteht dadurch ein Druck, der manches in Bewegung bringt, ja einfordert, was ohnehin überfällig und richtig ist. Arbeitgeber etwa sind längst dabei, um Zuwanderer zu werben. Oder ältere Menschen erhalten neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zudem nutzen immer mehr Ältere die Zeitspanne nach der Berufstätigkeit für bürgerschaftliches Engagement. Immer mehr Frauen streben ins Arbeitsleben und in Führungspositionen. Dort dürfen es noch mehr werden. Die starren Rollenbilder brechen weiter auf. Neue Vereinbarungen zwischen Mann und Frau, zwischen Familie und Beruf werden möglich. // Wenn die Gesellschaft der Wenigeren nicht eine Gesellschaft des Weniger werden soll, dann dürfen keine Fähigkeiten brach liegen. Wir wissen doch, dass es so viele sind, die mehr können könnten, wenn ihnen mehr geholfen und auch mehr abverlangt würde. Ich meine die formal Geringqualifizierten, die zu fördern und einzubinden sind. Ich meine Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, in denen Bildungsehrgeiz oder Bücher einfach fehlen. // Jeder Einzelne ist doch mit ganz eigenen Möglichkeiten geboren - und es ist ganz egal wo, in Thüringen oder Kalabrien, in Bayern oder in Anatolien. Diese Fähigkeiten gilt es zu entdecken, zu entwickeln und Menschen sogar aus niederdrückender Chancenlosigkeit herauszuholen. Bildung auch als Förderung von Urteilskraft, sozialer Verantwortung und Persönlichkeit, Bildung als Grundlage eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens - das ist für mich ein Bürgerrecht und ein Gebot der Demokratie. // Unser Ziel muss lauten: Niemand wird zurückgelassen, nicht am Anfang und nicht am Ende eines langen Lebens. Angenommen und gestaltet, vermag der demographische Wandel unsere Gesellschaft fairer und solidarischer, aber auch vielfältiger und beweglicher und damit zukunftsfähig zu machen. // Die Bedingungen dafür zu schaffen, ist vor allem Aufgabe der Politik. Die Politik hat sich zwar auf den Weg gemacht, das sehen wir alle - aber oftmals haben wir den Eindruck, sie bewegt sich nicht immer schnell genug. Wie lange ringen wir nun schon um die frühkindliche Betreuung? Oder um die Verbesserung unserer Pflegesysteme? Oder um Modernisierung in der Einwanderungspolitik und des Staatsbürgerschaftsrechts? // Mir ist bewusst - ich müsste noch über viele innenpolitische Herausforderungen sprechen: über die Energiewende, die erst noch eine Erfolgsgeschichte werden muss. Auch über Staatsverschuldung etwa oder die niedrige Investitionsquote, die nicht ausreicht, um das zu erhalten, was vorige Generationen aufgebaut haben. Und darüber, dass noch nicht ehrlich genug diskutiert wird über die Kluft zwischen Wünschenswertem und dem Machbaren. // Viele können in den kommenden Jahren vieles noch besser machen, damit die Jahrzehnte danach gut werden. So wie wir heute davon profitieren, dass wir vor einem Jahrzehnt zu Reformen uns durchgerungen haben, so kann es uns übermorgen nutzen, wenn wir morgen - meine Damen und Herren Abgeordnete! - wiederum Mut zu weitsichtigen Reformen aufbringen. Denn wir wollen doch zeigen und wir wollen es erleben, dass eine freiheitliche Gesellschaft in jedem Wandel trotz aller Schwierigkeiten neue Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und für die Vielen erschließen kann. // Entfaltungsmöglichkeiten! Wie viele haben wir in den vergangenen Jahren hinzugewonnen, durch Internet und durch mobile Kommunikation - ein Umbruch, dessen Konsequenzen die meisten bislang weder richtig erfasst noch gar gestaltet haben. Wir befinden uns mitten in einem Epochenwechsel. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis vom Bürger zum Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich ändern. // Nie zuvor hatten so viele Menschen Zugang zu so viel Information, nie zuvor konnte man weltweit so leicht Gleichgesinnte finden, war es technisch einfacher, Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren. Manchmal denke ich: Hätten wir doch 1989 damals in Mittel- und Osteuropa uns so miteinander vernetzen können! // Die digitalen Technologien sind Plattformen für gemeinschaftliches Handeln, Treiber von Innovation und Wohlstand, von Demokratie und Freiheit, und nicht zuletzt sind sie großartige Erleichterungsmaschinen für den Alltag. Sie navigieren uns zum Ziel, sie dienen uns als Lexikon, als Spielwiese, als Chatraum, und sie ersetzen den Gang zur Bank ebenso wie den ins Büro. // Wohin dieser tiefgreifende technische Wandel führen wird, darüber haben wir einfachen "User" bislang wenig nachgedacht. Erst die Berichte über die Datensammlung der Dienste befreundeter Länder haben uns mit einer Realität konfrontiert, die wir bis dahin für unvorstellbar hielten. Erst da wurde den meisten die Gefahr für die Privatsphäre bewusst. // Vor 30 Jahren, erinnern wir uns, wehrten sich Bundesbürger noch leidenschaftlich gegen die Volkszählung und setzten am Ende das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch. Dafür hat unser Bundesverfassungsgericht gesorgt. Und heute? Heute tragen Menschen freiwillig oder gedankenlos bei jedem Klick ins Netz Persönliches zu Markte. Viele der Jüngeren vertrauen sozialen Netzwerken sogar ihr ganzes Leben an. // Ausgeliefertsein und Selbstauslieferung sind kaum voneinander zu trennen. Es schwindet jene Privatsphäre, die unsere Vorfahren doch einst gegen den Staat erkämpften und die wir in totalitären Systemen gegen Gleichschaltung und Gesinnungsschnüffelei so hartnäckig zu verteidigen suchten. Öffentlichkeit erscheint heute vielen nicht mehr als Bedrohung, sondern als Verheißung, die Wahrnehmung und Anerkennung verspricht. // Sie verstehen nicht oder sie wollen nicht wissen, dass sie so mit bauen an einem digitalen Zwilling ihrer realen Person, der neben ihren Stärken eben auch ihre Schwächen enthüllt - oder enthüllen könnte. Der ihre Misserfolge und Verführbarkeiten aufdecken oder gar sensible Informationen über Krankheiten preisgeben könnte. Der den Einzelnen transparent, kalkulierbar und manipulierbar werden lässt für Dienste und Politik, Kommerz und Arbeitsmarkt. // Wie doppelgesichtig die digitale Revolution ist, zeigt sich besonders am Arbeitsplatz. Vielen Beschäftigten kommt die neue Technik entgegen, weil sie erlaubt, von Hause oder gar im Café zu arbeiten und die Arbeitszeit völlig frei zu wählen. Gleichzeitig wird aber die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt, was ständige Verfügbarkeit bedeuten kann - rund um die Uhr. // Historisch betrachtet, sind Entwicklungssprünge nichts Neues. Im ersten Moment erleben wir sie allerdings ratlos, vielleicht auch ohnmächtig. Naturgemäß hinken dann Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen der technischen Entwicklung hinterher. Wie noch bei jeder Innovation gilt es auch jetzt, die Ängste nicht übermächtig werden zu lassen, sondern als aufgeklärte und ermächtigte Bürger zu handeln. So sollte der Datenschutz für den Erhalt der Privatsphäre so wichtig werden wie der Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Wir wollen und sollten die Vorteile der digitalen Welt nutzen, uns gegen ihre Nachteile aber bestmöglich schützen. // Es gilt also, Lösungen zu suchen, politische und gesellschaftliche, rechtliche, ethische und ganz praktische: Was darf, was muss ein freiheitlicher Staat im Geheimen tun, um seine Bürger durch Nachrichtendienste vor Gewalt und Terror zu schützen? Was aber darf er nicht tun, weil sonst die Freiheit der Sicherheit geopfert wird? Wie muss der Arbeitsmarkt aussehen, damit der allzeit verfügbare Mensch nicht zu so etwas wie einem digitalen Untertanen wird? Wie existieren Familie und Freundschaften neben den virtuellen Beziehungen? Wie können Kinder und Jugendliche das Netz nutzen, ohne darin gefangen zu werden? // Wir brauchen also Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen, die diesem epochalen Wandel Rechnung tragen. // Gerade in Demokratien muss Politik schon reagieren, wenn ein Problem erst am Horizont auftaucht. Und sie muss ständig nachjustieren, sobald die Konturen klarer hervortreten. Das ist übrigens eine ihrer Stärken. // Diese Stärke ist es auch, die wir für eine weitere Herausforderung unserer Zeit brauchen: die europäische Integration. Ohne Zweifel ist das Europa in der Krise nicht mehr das Europa vor der Krise. Risse sind sichtbar geworden. // Die Krise hat Ansichten und Institutionen verändert, sie hat Kräfte und Mehrheiten verschoben. Die Zustimmung zu mehr Vergemeinschaftung nimmt ab. Nicht die europäischen Institutionen, sondern nationale Regierungen bestimmen wesentlich die Agenda. Zudem tauchen in Ländern, denen die Rezession vieles abverlangt, alte Zerrbilder eines dominanten Deutschlands auf. // Dies alles will diskutiert und abgewogen sein. Die gute Nachricht lautet: Ein starkes Band aus Mentalität, Kultur und Geschichte, es hält Europa zusammen. Entscheidend ist aber unser unbedingter Wille zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Europa, so spüren wir jetzt, kennt nicht nur eine Gestalt, auch nicht nur eine politische Organisationsform seiner Gemeinschaft. Da haben wir zu streiten und zu diskutieren über die beste Form der Zusammenarbeit, nicht aber über den Zusammenhalt Europas! Und unsere Einigungen haben wir so zu kommunizieren, dass die europäischen Völker die Lösungen akzeptieren und mittragen können. Es bleibt die Aufgabe der Politik - und als Bundespräsident nehme ich mich da überhaupt nicht aus - das Europa Verbindende zu stärken. // Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten ja eine starke Rolle Deutschlands, aber andere wünschen sie sich. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen. // Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: "Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten." Deutschland hatte, wir wissen es alle, Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte damals eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst ein neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen. // Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, da wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen? // Es gibt natürlich Gründe, diese Auffassung zu widerlegen oder ihr zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, es fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich stark in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren. // Trotzdem, es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste findet sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. // Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zu einem verlässlichen Partner geworden sind. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische Ordnung und unser Sicherheitssystem gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen - das ist unser wichtigstes Interesse. // Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenländer als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen? // Und wenn wir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir dann bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen? // Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen. // Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Und liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei unseren Nachbarn auf Misstrauen stoßen. // Nun habe ich Ihnen an diesem Tag der Deutschen Einheit einiges vorgetragen zur Rolle Deutschlands in der Welt, zur digitalen Revolution und zum demographischen Wandel. Was aber ist die Grundmelodie? Ich sehe unser Land als Nation, die nach Jahrzehnten demokratischer Entwicklung "Ja" sagt zu sich selbst. Als Nation, die das ihr Mögliche und ihr Zugewachsene tut, solidarisch im Inneren wie nach außen. Als Nation, die in die Zukunft schaut und dort nicht Bedrohung sieht, sondern Chancen und Gewinn. // Wir hatten eine Wahl - und wir haben sie weiterhin! Der 3. Oktober zeigt: Wir sind nicht ohnmächtig. Und handlungsfähig, das sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung kennen. Wir sind es bereits, wenn wir Verantwortung annehmen, mit dem, was wir jetzt wissen, jetzt können, gestaltend eingreifen. // Wir, zusammen einzigartig, schauen uns an diesem Festtag um. Wir sehen, was uns in schwierigen Zeiten gelungen ist. Und wir sind dankbar für all das, was gewachsen ist. Und eine Verheißung kann uns zur Gewissheit werden: Wir müssen glauben, was wir konnten. Dann werden wir können, woran wir glauben.
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Joachim Gauck
"Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt / schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Wenn je auf einen politisch wirkenden Deutschen dieses Schiller'sche Wort aus dem Prolog zu "Wallenstein" zutrifft, dann auf ihn: Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, kurz: Fürst von Bismarck - preußischer Ministerpräsident, Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, Reichskanzler des deutschen Kaiserreiches; kurz: eiserner Kanzler. // Bismarck: Preußen, Junkertum, Kaiserreich, Friedrichsruh, Spiegelsaal, Emser Depesche, Kanzelparagraph, Sozialistengesetz - sind das nicht alles Stichworte einer längst versunkenen Epoche? Stoff höchstens für Denkmäler und Museen? Sind das nicht Geschichten aus grauer Vorzeit? // Dazu eine kleine Zeitrechnung: Otto von Bismarck war noch für 22 Jahre Zeitgenosse Konrad Adenauers. Und wir - zumindest viele von uns - waren noch Zeitgenossen Konrad Adenauers, eines anderen großen Kanzlers der Deutschen. Für mich jedenfalls trifft das zu. So gesehen ist Bismarck also doch noch gar nicht so lange her. // Bismarck hat sich, wie andere geschichtliche Persönlichkeiten, die aus den Zeitläuften besonders herausragen, den zentralen Fragen und Herausforderungen seiner Epoche gewidmet. // "Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf. Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus." // In diesen beiden Versen, die Goethe und Schiller gemeinsam verfasst haben, ohne dass man sagen könnte, wer von den beiden welchen Anteil daran hatte, in diesen sogenannten Xenien drückt sich die ganze deutsche Frage aus, die spätestens seit der französischen Revolution und dann stärker noch seit den Befreiungskriegen die meisten Länder deutscher Zunge beschäftigt: Deutschland - aber wo liegt es, aber was ist es, aber wie kommt es zusammen? // Deutschland: Das ist da zwar längst ein Begriff, aber zu diesem Begriff gibt es keine politische Entsprechung. Die Nation: Eine tiefe, seltsam dringliche Sehnsucht nach Einheit erfasst die deutschen Menschen um 1800, obwohl doch, wie ja die Schiller-Goethe'schen Verse es sagen, Kultur und Geist, Bildung und Humanität blühen und gedeihen - und obwohl die Kultur doch eine Einheit bereits darstellt. Später wird man von Deutschland als einer Kulturnation sprechen, zu der die Königreiche, die Fürsten- und Herzogtümer, Grafschaften und geistlichen Territorien verbunden durch die deutsche Sprache längst geworden waren, obwohl oder gerade weil es eine politische Einheit nicht gab. // Eine Nation sein - diese Idee greift, wir wissen es, auch anderswo um sich im Europa des 19. Jahrhunderts. Geboren ist sie im revolutionären Frankreich, davon ist sie so sehr geprägt, dass man geradezu sagen kann, "Nation" sei der "Eigenname Frankreichs". Nation - das hört sich für die Völker Europas auch sofort nach "Freiheit" an. Denn das gehört nach 1792 doch zusammen: Die eine und unteilbare Nation und die Menschen- und Freiheitsrechte, die in ihr gelten sollen. Dass und wie diese Ideen dann mit Gewalt exportiert werden sollten, worunter gerade Deutschland zu leiden hatte, steht auf einem anderen Blatt. // Nach den Befreiungskriegen, nach der Phase der Restauration und nach der letztlich gescheiterten Revolution von 1848 war in Deutschland die Enttäuschung groß. Nationale Einheit und demokratische Freiheit schienen in weite Ferne gerückt. Dazu kamen die umstürzenden neuen technischen und industriellen Entwicklungen, die eine historisch unerhörte Akzeleration bedeuteten. Städte wuchsen plötzlich, eine Massengesellschaft entstand, der Fortschritt brachte fast jährlich neue Segnungen, und gleichzeitig musste man mit seinen unerwünschten Folgen umgehen. // Die Welt, in der Otto von Bismarck politisch zu wirken begann, war also in jeder Hinsicht in Bewegung. "Das ruhelose Reich" hat Michael Stürmer seine Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überschrieben. Dort heißt es: "Nationale Leitbilder wurden [ ] Ersatzformen des Glaubens, gestiftet durch Verlust der Tradition, provoziert durch das Ende aller Sicherheit und erwachsen aus einem Wandel, über dessen Ziele es so wenig Gewissheit gab wie über die Frage, ob er überhaupt ein Ziel habe. Seit 1848 wurde die Nationalisierung der Massen' Grundzug der Epoche " // Wenn wir heute Bismarcks gedenken, der zu den wirkmächtigsten, natürlich auch umstrittensten Gestalten und Gestaltern der deutschen Geschichte gehört, dann müssen wir vor allem die Fragen anschauen, auf die er mit seinem Wirken eine Antwort zu geben versucht hat. // Es ist erstens die nationale Frage, das heißt, in welcher Form kann und soll Deutschland geeint sein? // Es ist zweitens die internationale Frage: Welchen Platz soll Deutschland in der Welt einnehmen, im europäischen Gleichgewicht der Mächte? // Es ist drittens die innenpolitische Frage: Wie soll das Land aussehen, wie kann innerer Frieden hergestellt werden, wie soll seine kulturelle und besonders seine soziale Verfassung aussehen? // Diese Fragen - wir spüren es - sind nicht einfach historisch überholt. Wir erkennen darin - natürlich verwandelt und mit anderen Vorzeichen - Konturen unserer heutigen Fragen wieder. // So wie immer wieder über die Gestaltung von Einheit in Vielfalt nachgedacht wird - Stichwort Föderalismusreform -, so wie wir über Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt immer wieder neu nachdenken, so beschäftigt uns auch die innere Gestaltung unseres Gemeinwesens, das heute durch Einwanderung und demographischen Wandel vor neuen kulturellen und sozialen Herausforderungen steht. // Beispielhaft ist Bismarcks Energie, sein politischer Wille und seine Leidenschaft, sich so wesentlichen Fragen seiner Zeit zu stellen. Beispielhaft seine Fähigkeit, den richtigen Moment abwarten zu können, beispielhaft auch seine Entschlusskraft und seine Standhaftigkeit. // Wir werden natürlich den Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, anders begegnen, ja anders begegnen müssen als Bismarck. Aber nicht deshalb, weil er das Land auf einen abschüssigen Weg geführt hätte. Nein: Es führt eben kein gerader Weg von Bismarck zu Hitler, wie gelegentlich behauptet worden ist. Das ist nicht nur eine unhistorische Spekulation, sondern auch eine ungerechte Beurteilung oder besser: Verurteilung eines Strategen, dem es doch nie um schlichtes Vormachtstreben oder gar so etwas wie ein "Großdeutsches Reich" ging. // Aber was für ihn noch quasi legitime politische Manöver waren, wie etwa Kriege zu führen, um innenpolitische Ziele zu verfolgen oder außenpolitische Interessen zu wahren, das kommt für uns selbstverständlich nicht mehr in Frage - und wo das heute noch anderenorts geschieht, da müssen wir Protest einlegen und nötigenfalls auch Hilfe oder Widerstand leisten. // Die Einheit des Reiches so zu gestalten, dass sich auch die Kleinen nicht übervorteilt fühlen, und dass ein gerechter Ausgleich geschaffen wird, darauf hat Bismarck immer geachtet - und manch einer sieht das als vorbildlich für Europa und dessen Einigungsprozess an, der im gerechten Ausgleich der Einzelinteressen und unter Wahrung der Interessen auch der kleineren Partner gestaltet werden soll. // Eine besondere List der Geschichte ist wohlbekannt, sozusagen die Dialektik des Paternalismus: Um seine sozialistischen Gegner zu bekämpfen, schuf Bismarck die damals weltweit fortschrittlichste Sozialgesetzgebung. Das hat Deutschland nachhaltig geprägt. Gerade die Bismarckzeit zeigt, dass sich soziale Sicherheit und dynamische wirtschaftliche Entwicklung nicht ausschließen, sondern dass sie im Gegenteil einander stärken können und sollten. Inzwischen haben wir allerdings auch gelernt, ohne Bevormundung von oben eine partnerschaftlich strukturierte, soziale Marktwirtschaft zu gestalten. // Ein bleibender Schatten auf Bismarcks Wirken ist sein hartnäckiger, auch unbelehrbarer Drang, Reichsfeinde zu identifizieren und möglichst auszuschließen, namentlich natürlich Katholiken und dann Sozialisten. Zeitgenossen mit Rang und Namen haben ihn dabei unterstützt. Das war er nicht allein. Das war nicht nur kontraproduktiv, es hat auch lange nachwirkende Wunden geschlagen und Vorurteile auf Jahrzehnte befestigt. // Wie lange mussten sich zum Beispiel auch Sozialdemokraten, bis hin zu Willy Brandt, noch als "vaterlandslose Gesellen" oder die katholische Kirche in Deutschland sich als Vertreterin einer "auswärtigen Macht" bezeichnen lassen! Das war Bismarck'sches Denken in Feindbildern. Wir dürfen es durchaus so formulieren, auch wenn Bismarck selbst die eben genannten Frontlinien später nivellierte, wenn er etwa mit dem Zentrum einen Modus Vivendi fand, der sich auf lange Sicht positiv auf das Miteinander in Deutschland auswirken sollte. // Der Blick auf die Bismarck-Ära zeigt uns, wie wichtig es war, dass die frühe Bundesrepublik eine Gesellschaft zu errichten vermochte, in der die Gräben zwischen den Kulturen und Religionen und - sagen wir es mit einem Wort von damals - den Klassen nicht vertieft, sondern überbrückt oder gar überwunden worden ist. // Bismarcks "Revolution von oben", wie man sein Werk genannt hat, hat damals eine historisch lang wirkende und tiefgreifende Antwort gegeben auf die große Frage der Epoche nach dem Ort und der Gestalt Deutschlands. // Wir stehen heute vor ähnlichen großen Fragen. Unsere Antworten werden andere sein. Aber den Mut, sich mit Tatkraft und Optimismus diesen Herausforderungen zu stellen, den können wir von ihm lernen.
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Joachim Gauck
Ein ungewöhnlicher, ein stolzer Anlass führt uns heute zusammen: Die deutsche Sozialdemokratie feiert ihren 150. Geburtstag. Keine andere Partei konnte so lange überdauern, weil ihre Kernforderungen auf immer neue Weise aktuell blieben und bleiben: Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe. // Dies ist ein Feiertag für die älteste Partei in Deutschland. Es ist auch ein Feiertag des europäischen Ringens um Freiheit und Demokratie. Es ist auch eine Geschichte voller Siege und Niederlagen, mit schrecklichen und abgründigen Kriegen, mit Aufstand und Widerstand, vor allem mit der Erkenntnis: Gesellschaften sind veränderbar, Demokratie ist möglich, wenn wir wissen, welche Werte wir mit ihr anstreben, verteidigen oder erkämpfen und wenn wir mutig genug sind, die Widerstände zu überwinden. // Immer lag und liegt es an uns, den Ohnmachtsgefühlen zu trotzen, für uns selbst und für andere Partei zu ergreifen und neue Entwicklungen anzustoßen. So viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das in der bewegten Vergangenheit ihrer Partei mit unerschütterlicher Konsequenz getan, haben für ihre Überzeugungen viel riskiert: ihren Aufstieg, ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Existenz und einige - viele - haben sogar ihr Leben hingegeben. // Es ist das Vermächtnis dieser mutigen Menschen, das Jubiläum nicht nur als "Ort der Erinnerung" zu betrachten. Wir fragen heute auch nach unseren Aufgaben in der Zukunft, fragen: Was bedeutet in der Perspektive von heute das alte "Vorwärts"? // Aber lassen Sie mich im Jahr 1863 beginnen, bei Armut und Ausbeutung, bei Arbeitsbedingungen, wie wir sie derzeit nur aus manchen Entwicklungsländern kennen und kritisieren und die damals für Millionen Deutsche bedrückender Alltag waren. Wie konnte die Reaktion derer aussehen, die die Kraft aufbrachten, sich zur Wehr zu setzen: Sollte es Aufruhr sein und dann Revolution und Errichtung einer neuen Herrschaft der zuvor Unterdrückten? Das wäre ja eine naheliegende Option gewesen. Aber Ferdinand Lassalle, der die Revolution von 1848 in der Rheinprovinz miterlebt hatte, fand eine andere Antwort auf Not und Unfreiheit. Wir hören sein Credo - Veränderung der Gesellschaft durch emanzipatorische Politik, die Massenteilhabe ermöglichen sollte. Dazu gehörte nun von Anfang an Bildung, Schulpflicht für alle, aber auch die Arbeiterbildungsvereine, die dem Einzelnen Aufstieg durch Wissen ermöglichten. Emanzipation gelang also durch Teilhabe an verbrieften Rechten, aber immer wieder auch durch Selbst-Ermächtigung. Dieser Ansatz war vor 150 Jahren revolutionär, modern ist er auch heute noch. // In der Gründungszeit der Sozialdemokratie stand selbstverständlich der Kampf für gleiche Rechte der unterdrückten Arbeiterschaft im Vordergrund. Das Eisenacher Programm von 1869 nennt zentral freie, allgemeine und gleiche Wahlen ungeachtet der Herkunft der Wählenden, das Verbot von Kinderarbeit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte. // Im langen, innerparteilichen Kampf setzte sich die Haltung durch, keine neuen Klassenprivilegien zu errichten, Ungleichheit nicht durch neue Ungleichheit zu beantworten. Eduard Bernstein, der bedeutende und lange bekämpfte Theoretiker der SPD, bezeichnete die Demokratie dreieinhalb Jahrzehnte nach der Parteigründung durch Lassalle als "Mittel und Zweck zugleich". In diesem neuen Politikverständnis liegt für mich eines der wirklich größten historischen Verdienste seiner Partei. Es war die SPD, die bedeutende Teile der Arbeiterschaft und der sozialistischen Bewegung in Deutschland frühzeitig und intensiv und stark mit der Demokratie verband. Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren. // Die kommunistische Weltbewegung entschied sich anders - allerdings mit durchgängig fatalen Folgen. Sie schuf eine neue Klasse der Machtbesitzenden und ersetzte die alte durch eine neue Ohnmacht. Auf Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand warteten die Arbeiter vergeblich. // Umso mehr wissen wir heute den reformerischen Ansatz der Sozialdemokratie zu würdigen. Ihm verdanken wir unter anderem die ersten Arbeitsschutzgesetze und das Frauenwahlrecht. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, den Mut gehabt hätten, sich für die politische Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der bürgerlichen Parteien einzusetzen. Vor allem haben die Sozialdemokraten diese Demokratie länger und tapferer verteidigt als die meisten anderen Demokraten. Sie haben die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hoch gehalten und aufbegehrt gegen jene, die Unfreiheit und Krieg entfesselten. // Unvergessen ist die Rede von Otto Wels am 23. März 1933, als die Nazis bereits viele Oppositionelle inhaftiert und in die Emigration getrieben hatten. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht": Es war - wie Peter Struck es einmal beschrieben hat - "die mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde". // Das wollen wir uns merken. Damals haben 94 SPD-Abgeordnete mit ihrem Nein zum sogenannten Ermächtigungsgesetz nicht nur die eigene Ehre gerettet, sondern die der ersten deutschen Demokratie. Sie haben uns - nämlich allen Deutschen - ein Stück aufrechter Demokratiegeschichte geschenkt, ein Gegenstück zu Schuld und Scham, die kostbare Erfahrung, dass Menschen auch dann zu ihren Werten stehen können, wenn sie verhöhnt, gedemütigt und verfolgt sind. Dankbar würdigen wir heute ihren Mut. // Zu diesen Menschen gehörte Kurt Schumacher, einer der Abgeordneten, die das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ablehnten. Nach zehn Jahren KZ-Haft widerstand er nach dem Krieg der Versuchung, aus Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei zu schaffen. Denn er erkannte, dass die Kommunistische Partei Deutschlands - so seine Worte - "nicht eine deutsche Klassen-, sondern eine fremde Staatspartei" war. Im Osten Deutschlands konnte eine eigenständige SPD tatsächlich erst nach 1989 wieder entstehen. Auch dafür bin ich tief dankbar. // Im Westen Deutschlands hingegen hatte die SPD gemeinsam mit Konservativen und Liberalen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesrepublik ein funktionierender, breit legitimierter "demokratischer und sozialer Bundesstaat" werden konnte - so wie es unser Grundgesetz vorsieht, ein Dokument, das übrigens auch, wie wir alle wissen, an einem 23. Mai verabschiedet worden ist. // An Tagen wie heute wird uns bewusst, dass unsere Demokratie so stabil, bisweilen so anfällig war wie ihr jeweiliges Parteiengefüge. Die SPD kann nicht nur auf die längste Tradition der Parteien in Deutschland zurückblicken. Sie hat wohl auch den tiefgreifendsten inneren Wandel vollziehen müssen. Denn die SPD von heute ist ja keine Klassenpartei mehr. Sie hat sich im Zuge eines langen und schwierigen Lernprozesses zu einer Volkspartei entwickelt. Das Godesberger Programm von 1959 hat diesen Wandel dokumentiert, gefestigt und befördert. // Die Verdienste der SPD in der Bundesrepublik stehen den meisten von uns vor Augen. Ich nenne die gesellschaftlichen und sozialen Reformen der 70er Jahre unter Willy Brandt, ich nenne die erste, die innovative Phase der Ostpolitik, die eine Öffnung gegenüber der DDR und anderen osteuropäischen Nachbarn ermöglichte und den Eisernen Vorhang durchlässiger machte. // Der Film hat uns auch das Wirken der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, die heute beide unter uns sind. Auch mit ihrer Kanzlerschaft sind bleibende Verdienste der SPD für die Bundesrepublik verbunden. // Das Kernthema der Sozialdemokratie ist in 150 Jahren geblieben: die solidarische Gesellschaft, die sich beständig verbessernde Demokratie. Aber in der veränderten Welt von heute stellen sich für die SPD wie für alle anderen Parteien auch neue Herausforderungen. Dazu gehört zentral, dass Parteien immer auch Teil einer sich selbst ermächtigenden Bürgergesellschaft sein müssen und erst dann belastbare Bindungen herstellen können für ein umfassendes politisches Programm. // Keine leichte Aufgabe, denn in den letzten Jahren haben wir viele Protestbewegungen erlebt, die oftmals radikaler waren als die Volksparteien und sich - oft in der Konzentration auf nur ein Thema - auch als ihre Gegenspieler darstellen konnten. Sie zeigten den Willen vieler Bürger zur Mitsprache. Das begrüße ich und unterstütze ich. Die Parteien sollten sich davor nicht fürchten, sondern umgekehrt derartige Formen der Beteiligung als so etwas wie ein Frühwarnsystem verstehen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Zugleich brauchen neue Partizipationsformen aber auch umgekehrt die Parteien, damit deren Impulse auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie ihren Weg in unseren Alltag finden. Kurz: Neue Beteiligungsformen sind eine wichtige Ergänzung, aber sie sind kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. // Schauen wir uns das noch einmal an - in einer Frage wird dies besonders deutlich: Bürgerinitiativen vertreten - zumeist berechtigte - Partikularinteressen, Parteien hingegen müssen stärker allgemein ausgerichtet sein, das Ganze im Blick behalten. Manchmal gelingt es Parteien sogar, gerade den eigenen Wählern Zumutungen aufzuerlegen, mit Entscheidungen, die bisherigen Linien oder kurzfristigen Parteiinteressen widersprechen. Ich weiß, so etwas ist innerhalb einer Partei nicht populär. Aber wir haben erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land! // Heute gratuliere ich der SPD zu 150 Jahren ihres Bestehens. Ich sage Dank und Anerkennung all jenen, die in 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben und damit das Leben von Millionen Menschen verbessert haben. // Ich verbinde diesen Dank an die SPD mit meiner Anerkennung für alle, die in allen demokratischen Parteien für unser Gemeinwohl arbeiten - ob im Ortsverein oder in der Europapolitik, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Ihr Wirken trägt zum Gelingen unserer Demokratie bei. Deshalb gratuliere ich auch uns allen - dazu, dass wir unsere demokratischen Parteien haben. Sie sind wie alle menschlichen Geschöpfe mangelhaft und unvollkommen und tun deshalb gut daran, offen für Kritik und Selbstkritik, also lernfähig, zu sein. Unsere demokratischen Parteien waren immer notwendig für das Leben unserer Demokratie und sie werden auch in Zukunft unentbehrlich sein. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
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Joachim Gauck
Heute vor 75 Jahren begann hier auf der Westerplatte der Zweite Weltkrieg. Während des Krieges standen mehr als 110 Millionen Menschen unter Waffen, fast 60 Millionen kamen um. Mehr als 60 Staaten waren in diesen Krieg verwickelt, in einem Waffengang, der erst nach sechs Jahren endete und mit dem Völkermord an den Juden eine bis dahin unbekannte Grausamkeit und Menschenverachtung erreichte. // Die Menschen hier in Polen haben entsetzlich gelitten unter diesem Krieg, der ihnen vom Deutschen Reich aufgezwungen worden war. Denn nach der militärischen Niederlage im Oktober 1939 setzte sich die Gewalt als Terror gegen die Zivilbevölkerung fort. Hitler wollte mehr als die Korrektur der Grenzen von Versailles - er suchte sogenannten "Lebensraum" für das deutsche Volk. Hitler wollte auch mehr als einen polnischen Vasallenstaat - er strebte die gänzliche Vernichtung des Staates an - die Auslöschung seiner führenden Schicht und die Ausbeutung der übrigen Bevölkerung. // Hitler nutzte Polen als Laboratorium für seinen Rassenwahn, als Übungsfeld für seine Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Slawen und Juden. Fast sechs Millionen polnische Bürger wurden willkürlich erschossen oder systematisch liquidiert. Sie endeten in Gefängniszellen, bei der Zwangsarbeit, im Bombenhagel oder in den Konzentrationslagern. // Und noch etwas kennzeichnet dieses Land: Keine andere Nation hat in einem derartigen Umfang und so lange Widerstand geleistet. Polen wollten ihr Land eigenständig befreien. Polen wollten ein freies, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Land. // Als die Befreiung dann endlich kam, brachte sie der Nation jedoch weder Freiheit noch Unabhängigkeit. Polen zählte zu den Siegern, doch weder Freiheit noch Unabhängigkeit wurden Ihrem Land zuteil. Mit der sowjetischen Herrschaft folgte eine Diktatur auf die vorangegangene. Frei wurde Polen erst dank Solidarnosc. // Die bitteren Erfahrungen gerade der polnischen Nation zeigen: Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die unabhängig und selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheiden können. Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Anderen respektieren. // Heute dürfte es in Deutschland nur noch wenige Menschen geben, die persönliche Schuld für die Verbrechen des NS-Staates tragen. Ich selber war gerade fünf Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Aber als Nachfahre einer Generation, die brutale Verbrechen begangen oder geduldet hat, und als Nachfahre eines Staates, der Menschen ihr Menschsein absprach, empfinde ich tiefe Scham und tiefes Mitgefühl mit jenen, die unter den Deutschen gelitten haben. Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine ganz besondere Verantwortung für heute und morgen. // Wenn die Beziehungen zwischen Völkern so tief von Unrecht, von Schmerz, von Arroganz und Demütigung geprägt waren wie bei Deutschen und Polen, ist eine Entfeindung alles andere als selbstverständlich. Die Annäherung zwischen unseren Völkern kommt mir daher wie ein Wunder vor. // Um dieses Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, brauchte und braucht es Menschen, die politische Vernunft und einen starken Willen einbringen. Politische Vernunft, um den Weg weiter zu beschreiten, den Westeuropa 1950 mit der Schaffung einer europäischen Völkerfamilie begann und nach 1989 gemeinsam mit Mittel- und Osteuropa fortsetzte. Ferner den starken Willen, die schmerzhafte Vergangenheit wohl zu erinnern, aber letztlich doch hinter sich zu lassen - um einer gemeinsamen Zukunft willen. // Ich kenne die langen Schatten, mit denen Leid und Unrecht die Seelen der Menschen verdunkeln. Ich weiß, dass Leid betrauert werden will und dass Unrecht nach ausgleichender Gerechtigkeit ruft. Deshalb brauchen wir weiter den aufrichtigen Umgang mit der Vergangenheit, der nichts verschweigt und nichts beschönigt und den Opfern Anerkennung zuteilwerden lässt. Ich weiß allerdings auch, dass Wunden nicht heilen können, wenn Groll oder Ressentiments die Versöhnung mit der neuen Wirklichkeit verhindern und dem Menschen die Zukunft rauben. // Um eben dieser Menschen willen dürfen wir altem und neuem Nationalismus keinen Raum geben. Um eben dieser Zukunft willen lassen Sie uns weiter vereint das friedliche und demokratische Europa bauen und mit Dankbarkeit an jene Deutschen und Polen erinnern, die schon früh aufeinander zugingen: mutige Menschen in den evangelischen und katholischen Kirchen, in der Aktion Sühnezeichen, unter den Intellektuellen beider Länder. Gerade wir Deutschen werden nicht den Kniefall von Willy Brandt in Warschau vergessen, jene Geste der Demut, mit der er um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bat. In unserer Erinnerung bleibt auch die Umarmung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz Mazowiecki im schlesischen Kreisau - nur drei Tage nach dem Fall der Mauer 1989. Auf berührende Weise symbolisierte sie das Ende von Feindschaft, von Misstrauen, von Krieg und den Wunsch nach Verständigung und Aussöhnung. // Als sich vor genau fünf Jahren hier auf der Westerplatte 20 europäische Staats- und Regierungschefs versammelten, um gemeinsam der Gräuel des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, sahen wir uns auf dem Weg zu einem Kontinent der Freiheit und des Friedens. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass auch Russland, das Land von Tolstoi und Dostojewski, Teil des gemeinsamen Europa werden könnte. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass politische und ökonomische Reformen unseren Nachbarn im Osten der Europäischen Union annähern und die Übernahme universeller Werte in gemeinsame Institutionen münden würden. // Wohl niemand hat damals geahnt, wie dünn das politische Eis war, auf dem wir uns bewegten. Wie irrig der Glaube, die Wahrung von Stabilität und Frieden habe endgültig Vorrang gewonnen gegenüber dem Machtstreben. Und so war es ein Schock, als wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird. Eine kriegerische Auseinandersetzung um neue Grenzen und um eine neue Ordnung. Ja, es ist eine Tatsache: Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent sind wieder in Gefahr. // Nach dem Fall der Mauer hatten die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen jeweils besondere Beziehungen zu Russland entwickelt und das Land auf verschiedene Weise integriert. Diese Partnerschaft ist von Russland de facto aufgekündigt worden. Wir allerdings wünschen uns auch in Zukunft Partnerschaft und gute Nachbarschaft. Aber die Grundlage muss eine Änderung der russischen Politik und eine Rückkehr zur Achtung der Prinzipien des Völkerrechts sein. // Weil wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten lassen sich in diesen Grundfragen nicht auseinanderdividieren, auch nicht in der Zukunft. // Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht. Und deshalb strebt Deutschland - wie die ganze Europäische Union - nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit und Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit und Elastizität miteinander verbindet - und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten ohne politische Auswege zu verstellen. // Europa steht vor neuen, vor großen Herausforderungen. Was wir augenblicklich erleben ist die Erosion alter Ordnungen und das Aufflackern neuer Formen von Gewalt an unserer Peripherie. Das gilt auch für den Nahen Osten und Nordafrika. Nur an wenigen Orten führte der Arabische Frühling zu Demokratie und Stabilität, vielerorts halten die Unruhen und die Machtkämpfe an. Starken Einfluss gewannen islamistische Gruppen, besonders gewalttätige Fundamentalisten setzten sich in Teilen von Syrien und im Irak durch. // Im Unterschied zu früheren Rebellionen geht es diesen Gruppen nicht um einen Machtwechsel im nationalstaatlichen Rahmen. Sie sind viel radikaler und zielen auf die Errichtung eines terroristischen Kalifats im arabischen Raum. Fanatisierte und brutalisierte Frauen und Männer aus unterschiedlichen Ländern missbrauchen die Religion und die Moral, um alle zu verfolgen und unter Umständen zu ermorden, die sich ihnen widersetzen - Muslime ebenso wie Andersgläubige. Unsere westlichen Staaten und Städte halten sie für Orte der Verderbnis. Die aus der Aufklärung erwachsene Gesellschaftsform der Demokratie wird von ihnen bekämpft und die Universalität der Menschenrechte, sie wird von ihnen geleugnet. // Verhinderung wie Bekämpfung dieses Terrorismus liegen ganz existentiell im gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft und damit Europas. Erstens wegen der geographischen Nähe: Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten kommen zu uns nach Europa, und die Terroristen werben neue Rekruten auch in unseren Staaten an. Zweitens, weil der Konflikt unsere europäischen Länder erreichen kann. Nicht auszuschließen ist, dass auch europäische Staaten zum Ziel islamistischer Angriffe werden. // Wenn wir den heutigen Jahrestag hier auf der Westerplatte gemeinsam begehen, so konfrontieren wir uns nicht nur mit dem, wozu Menschen im Zweiten Weltkrieg fähig waren. Wir konfrontieren uns heute gemeinsam auch ganz bewusst mit dem, wozu Menschen heute fähig sind. // Ja, uns führt heute das Gedenken zusammen, aber genauso stehen wir zusammen angesichts der aktuellen Bedrohungen. Niemand sollte daran zweifeln: Deutsche und Polen stehen beieinander und ziehen am selben Strang. Gemeinsam nehmen wir die besondere Verantwortung an, die uns mit den Konflikten in unserer Nachbarschaft zugewachsen ist. Wir handeln entsprechend und engagieren uns für friedliche Lösungen. // Auch die Europäische Union muss angesichts der neuen Herausforderungen zusammenstehen. Denn nur gemeinsam können wir das demokratische und friedliche Europa der Zukunft bauen. Und nur gemeinsam können wir es verteidigen.
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Joachim Gauck
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging - jener mörderische Schrecken, der von Deutschland ausgegangen war. // Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wurden, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein halbes Jahrhundert geteilt war. // Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein. Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar dafür? // Hier in Schloß Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. // Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang- oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts gab - keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung, keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung -, nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten. // Wenige hundert Meter von hier war das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326 Senne". Mehr als 310.000 Kriegsgefangene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen, Zehntausende sind hier begraben. // Was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. // Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant - und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt. Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef Halder, der im Mai 1941 formulierte: "Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad". Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bis heute in unauslöschlicher Erinnerung. // Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsgefangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab - und er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flugblättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überhaupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden, war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig. // Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der anderen Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrätersein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu gedenken. // Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, "eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs" gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht. // Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. // Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene. // In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert. // Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als "minderwertig" diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe. // Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenenlagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regierungsbeamter fest: // "Der Zweck der Fahrt sollte sein, [ ] einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen. [ ] // Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten. [ ] // Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. [ ]" // Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus, das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer Praxis. // Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kurzer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen Menschenschindern und Mördern werden konnten. // Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischer Regeln. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Menschenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier. // Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt, weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberreihen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen Menschen angetan haben. // So wie wir hier in Schloß Holte-Stukenbrock unsere Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort für hunderttausende Menschen erkennen können, so geht es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Karteikarten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie"geschehen". Es wurde "gemacht", es wurde "verübt", planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind. // Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das kann doch unmöglich wahr sein - das, was hier im "Stalag 326" und an hunderten von anderen, über ganz Deutschland verteilten Orten menschenmöglich war -, und was hier aber doch tatsächlich stattgefunden hat. // Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen, nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen - zuerst und zuletzt - auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das, was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken. // Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren ausfindig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben. // Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und gibt es die Initiative "Blumen für Stukenbrock", darum gibt es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtlicher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit her kommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und begleitet. // Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt, ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns und es beglückt uns gleichzeitig. Danke! // Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov, deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben kurz inne gehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov, bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an diesem Tag begleiten und unter uns sind. // Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erinnerung weiter zu tragen. Das gilt auch für die Polizeischüler, die hier ausgebildet werden, und die sich sehr genau bewusst sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekommen sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die historisches Bewusstsein selbstverständlich ist. // Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land, diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe, die sich auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten heraus zu holen. // Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seufzen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen unsichtbar eingeschrieben bleiben. // Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, "Ja"zu dieser Verpflichtung. Versprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun, um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen und zu beschützen.
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André Gide
Jede neue Idee, die man vorbringt, muß auf Widerstand stoßen. Der Widerstand beweist übrigens nicht, daß die Idee richtig ist.
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Elfriede Hablé
Nur am Widerstand formen sich Kraft und Ausdauer.
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Hans Hauenstein
Oft muß man Feinde haben, die durch ihren Widerstand unsere Schaffenskraft erhöhen, damit wir vorwärts kommen.
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Gerhart Hauptmann
Die Kraft irgendeines Dinges und so auch die Kraft einer Seele, eines Irrtums, eines Wahnes entwickelt sich an seinem Widerstand.
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Robert Hochner
Wo immer ich auf Widerstand gestoßen bin, habe ich überlegt, den Widerstand zu überwinden, statt dem Reflex nachzugeben, zurückzugehen. Also eher einen Schritt in den Konflikt, Kampf oder was immer zu machen - zum Teil aus reiner Blödheit oder aus Widerspruchsgeist - das ist in meiner Person drinnen, das hat mich durch vier Mittelschulen gebracht, das ist nichts Neues.
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David Hume
Alle Menschen, darüber herrscht Einigkeit, streben in gleicher Weise nach Glück, aber nur wenige sind in diesem Streben erfolgreich. Eine Hauptursache dessen ist der Mangel an Willenskraft, die sie zum Widerstand gegen die Lockungen augenblicklicher Annehmlichkeit und Freude befähigen und im Trachten nach entfernterem Gewinn und Genuß bestärken könnte.
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Aldous Leonard Huxley
Es ist unsere Pflicht, den Mächten, die unsere Freiheit bedrohen, mit ganzer Kraft Widerstand zu leisten.
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Samuel Johnson
Das größte Verdienst des Menschen besteht darin, dem Triebe seiner Natur Widerstand zu leisten.
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Joseph Joubert
Man muß dem Himmel nachgeben und den Menschen Widerstand leisten.
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Immanuel Kant
Zorn ist ein Schreck, der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel rege macht.
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Sören Aabye Kierkegaard
Nur solange man ernstlichen Widerstand zu überwinden hat, ist es schön zu lieben.
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Martin Luther King jr.
Durch gewaltlosen Widerstand können wir dem ungerechten System widerstehen und doch zugleich seine Verfechter lieben.
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Ephraim Kishon
Der Mensch bringt sogar die Wüste zum Blühen. Die einzige Wüste, die ihm noch Widerstand bereitet, befindet sich in seinem Kopf.