Zitate zu "Tradition"
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Hermann Futter
Wir leben Tradition in der Veränderung.
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Andreas Gabalier
Ich mag modern gelebte Tradition. Viele Probleme, die wir heute haben, resultieren daraus, dass Traditionen nicht mehr gelebt werden. Ich glaube auch, dass sich die Menschen alle wieder nach ein bisschen Normalität sehnen. Aber das darf man heute ja auch schon nicht mehr sagen. Alles nicht mehr politisch korrekt. Von Winnetou bis Toast Hawaii. Als hätten wir keine anderen Sorgen. (Im KRONE-Interview mit Conny Bischofberger).
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Andreas Gabalier
Lifestyle? Wir lassen einfach viel zu Neues zu! Schauen Sie sich die Jugend von heute an, die bringen fast schon keinen deutschen Satz mehr raus ohne englische Ausdrücke, die sie auf Facebook und Co. aufgeschnappt haben. Dort entstehen Mobbing und Depression. Das sind die Früchte, die wir ernten von diesem super Lifestyle. (Im KRONE-Interview mit Conny Bischofberger).
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Helmut A. Gansterer
Wir müssen uns von den Rucksäcken der Vergangenheit und der Zukunft befreien. Es geht darum, die Qualität des nächsten Schrittes zu optimieren.
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Joachim Gauck
Auch wenn Martin Buber nicht in Heidelberg studiert und gelehrt hat, so sind wir doch an einem passenden Ort, um seiner zu gedenken, der so intensiv mit dem Geistesleben in Deutschland verbunden war. // Wir sind hier in dieser altehrwürdigen Universität, deren philosophische und theologische Tradition Weltruhm genießt. Und dann sind wir auch in der Stadt, die seit mehr als 30 Jahren Sitz einer Hochschule für jüdische Studien ist, die ich heute auch noch besuchen werde. // In Martin Bubers Leben und Werk finden wir beides: auf der einen Seite die große europäische, akademische Tradition des philosophischen und theologischen Denkens, gepaart mit der sprachlichen Kraft des gelehrten Übersetzers, und auf der anderen Seite die gelebte Tradition des Judentums, gerade mit dem östlichen, dem chassidischen Erbe. // Martin Buber, der schon äußerlich mit seinem weisen, aber unbestechlichen Blick und seinem bedeutenden Bart wie ein von Michelangelo oder Dürer gemalter Prophet erschien: Er scheint aus der Tiefe längst vergangener Zeiten zu kommen - und dennoch hat er eine Botschaft, die für die Gegenwart wichtig ist. // Aus längst vergangenen Zeiten: Martin Buber war zu Hause in der Welt der hebräischen Bibel, der er, zusammen mit Franz Rosenzweig, eine deutsche Gestalt gab, wie es sie vorher noch nicht gegeben hatte. // Ich denke jetzt auch an meine eigene Begegnung mit dieser Übersetzung. In der Zeit, als ich in meiner Heimatstadt Rostock Theologie studierte, gab mir ein literatur- und sprachkundiger Assistent diese Übersetzung und ich staunte. Ich kannte die Texte eigentlich doch alle! Aber in seiner Sprache fasste mich die Botschaft des Alten Testaments noch einmal völlig neu und ganz anders an. Es war eine unglaublich bewegende Begegnung mit einem Text, von dem man meinte, er hätte schon alles zu einem gesagt. Das ist meine persönliche Erinnerung an diesen Ausschnitt seines Wirkens. // Die Kraft des Hebräischen, die Bildhaftigkeit und die grammatische Fremdheit jener Sprache, in der zum ersten Mal die Lehre vom einen Gott Ausdruck fand, die hat er auf eine unerhörte Weise ins Deutsche gebracht. Immer neu muss man das lesend begreifen, diese Verwandlung von Fremdheit in Nähe - und begreift so, dass das Heilige eben beides zugleich ist: vertraut und verstörend, erschreckend und faszinierend. // Aus längst vergangenen Zeiten: Welch eine Generation jüdischer Gelehrter ist, wie Buber, um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren worden. Die Muttersprache ihres weltverändernden Denkens war deutsch, und doch sind sie von Deutschland vertrieben worden oder vor Verfolgung ins Exil geflohen. Wir denken an Franz Rosenzweig aus Kassel, Gershom Scholem aus Berlin, Hannah Arendt aus Linden bei Hannover, Walter Benjamin aus Berlin, Erich Fromm aus Frankfurt, Ernst Bloch aus Ludwigshafen, Max Horkheimer aus Zuffenhausen, Hans Jonas aus Mönchengladbach, und wer nicht noch alles: Karl Popper, Ernst Fraenkel, darunter manch einer, der, wie Adorno sagte, erst durch Hitler sein Judentum entdeckt hatte. // Der jüdische Geist, dem wir alle so viel verdanken, er sollte vertrieben und vernichtet werden, jener jüdische Geist, den auf so besondere Weise Martin Buber studierte, lehrte und geradezu verkörperte. Das Judentum mit zwei seiner wichtigsten Wurzeln, der Bibel und der chassidischen Tradition, das war sein Lebensthema - und dann natürlich seine entscheidende philosophische Erkenntnis, dass alles Leben Begegnung sei. // Vielleicht war gerade er dafür besonders berufen, als zentrales Geheimnis des menschlichen Lebens die Beziehung, die Begegnung zwischen Ich und Du zu begreifen. // Denn einerseits war er ein Kosmopolit, im alten Habsburgerreich geboren, in Lemberg in der heutigen Ukraine erzogen, hat dort auf dem polnischen Gymnasium das Abitur abgelegt, danach studiert und gelehrt in München und Berlin und schließlich in Frankfurt, bevor er sich nach Palästina retten konnte, wo er dann als Gelehrter half, den Staat Israel mit aufzubauen. Übrigens sah er von Anfang an, ja sogar lange bevor er selbst den Boden des Heiligen Landes betrat, die Aufgabe, einen gerechten Ausgleich zwischen Arabern und Juden zu schaffen. // Dieser weltgewandte Gelehrte war einerseits ganz fest in jener religiösen Tradition verwurzelt und zu Hause, die mit den Psalmen immer wieder neu versucht, den Unaussprechlichen anzusprechen, den Absoluten mit Lob und Dank und Bitte zu bestürmen, dem Ewigen als einem Du zu begegnen. // Das Prinzip Dialog, das Prinzip wirklicher Begegnung zwischen Ich und Du, das Gegenüber als gleichwertigen, gleich guten, gleich offenen, gleich wahrheitssuchenden Anderen anzunehmen: Könnte es eigentlich heute etwas Wichtigeres geben? // Dieses Denken der Beziehung als Begegnung zwischen Ich und Du, einer Begegnung, die das Du nicht zu einem Es macht, die den anderen Menschen nicht verdinglicht, das ist ein Denken, dass ein kostbares, immer wieder neu zu entdeckendes, widerständiges Erbe ist. // Ein Denken, für das die Begegnung von Ich und Du im Zentrum steht, ist schlechthin antitotalitäres und antiideologisches Denken. Wo der Einzelne "nichts", die Gemeinschaft, das Volk, die Religion, die Klasse oder was auch immer sonst "alles" sein soll, da leistet das dialogische Prinzip Widerstand. Jede Gesellschaft, die eine menschliche sein will, muss der Begegnung freier Individuen Raum geben. // Martin Buber, jener "Erzjude", als der er sich in seiner Friedenspreisrede im Jahr 1953 bezeichnete, hat uns gezeigt, zu welch zutiefst humaner Haltung religiöser Glaube befähigen und ermutigen kann. Das ist in unseren Zeiten vielleicht aktueller, als er sich das hat vorstellen können. Wir können alle - und gerade in Deutschland - noch immer von Martin Buber lernen. Sein Denken kann uns auch heute Orientierung geben. // Auch in unserer heutigen Welt der beschleunigten Kommunikation ist der Weg vom Ich zum Du noch immer genau so weit wie in allen Zeiten. Auf diesem Weg der wahrhaftigen Begegnung gibt es keine Abkürzung. Uns auf diesen Weg zu begeben, dazu ermutigt uns die Erinnerung an jenen großen jüdischen Gelehrten, der vor 50 Jahren, wie wir hoffen dürfen, dem ewigen Du seines Schöpfers begegnet ist. // Ich bin all denen dankbar, die Martin Bubers Glauben, Denken, Suchen und Bekennen in Deutschland wachhalten.
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Joachim Gauck
Ein ungewöhnlicher, ein stolzer Anlass führt uns heute zusammen: Die deutsche Sozialdemokratie feiert ihren 150. Geburtstag. Keine andere Partei konnte so lange überdauern, weil ihre Kernforderungen auf immer neue Weise aktuell blieben und bleiben: Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe. // Dies ist ein Feiertag für die älteste Partei in Deutschland. Es ist auch ein Feiertag des europäischen Ringens um Freiheit und Demokratie. Es ist auch eine Geschichte voller Siege und Niederlagen, mit schrecklichen und abgründigen Kriegen, mit Aufstand und Widerstand, vor allem mit der Erkenntnis: Gesellschaften sind veränderbar, Demokratie ist möglich, wenn wir wissen, welche Werte wir mit ihr anstreben, verteidigen oder erkämpfen und wenn wir mutig genug sind, die Widerstände zu überwinden. // Immer lag und liegt es an uns, den Ohnmachtsgefühlen zu trotzen, für uns selbst und für andere Partei zu ergreifen und neue Entwicklungen anzustoßen. So viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das in der bewegten Vergangenheit ihrer Partei mit unerschütterlicher Konsequenz getan, haben für ihre Überzeugungen viel riskiert: ihren Aufstieg, ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Existenz und einige - viele - haben sogar ihr Leben hingegeben. // Es ist das Vermächtnis dieser mutigen Menschen, das Jubiläum nicht nur als "Ort der Erinnerung" zu betrachten. Wir fragen heute auch nach unseren Aufgaben in der Zukunft, fragen: Was bedeutet in der Perspektive von heute das alte "Vorwärts"? // Aber lassen Sie mich im Jahr 1863 beginnen, bei Armut und Ausbeutung, bei Arbeitsbedingungen, wie wir sie derzeit nur aus manchen Entwicklungsländern kennen und kritisieren und die damals für Millionen Deutsche bedrückender Alltag waren. Wie konnte die Reaktion derer aussehen, die die Kraft aufbrachten, sich zur Wehr zu setzen: Sollte es Aufruhr sein und dann Revolution und Errichtung einer neuen Herrschaft der zuvor Unterdrückten? Das wäre ja eine naheliegende Option gewesen. Aber Ferdinand Lassalle, der die Revolution von 1848 in der Rheinprovinz miterlebt hatte, fand eine andere Antwort auf Not und Unfreiheit. Wir hören sein Credo - Veränderung der Gesellschaft durch emanzipatorische Politik, die Massenteilhabe ermöglichen sollte. Dazu gehörte nun von Anfang an Bildung, Schulpflicht für alle, aber auch die Arbeiterbildungsvereine, die dem Einzelnen Aufstieg durch Wissen ermöglichten. Emanzipation gelang also durch Teilhabe an verbrieften Rechten, aber immer wieder auch durch Selbst-Ermächtigung. Dieser Ansatz war vor 150 Jahren revolutionär, modern ist er auch heute noch. // In der Gründungszeit der Sozialdemokratie stand selbstverständlich der Kampf für gleiche Rechte der unterdrückten Arbeiterschaft im Vordergrund. Das Eisenacher Programm von 1869 nennt zentral freie, allgemeine und gleiche Wahlen ungeachtet der Herkunft der Wählenden, das Verbot von Kinderarbeit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte. // Im langen, innerparteilichen Kampf setzte sich die Haltung durch, keine neuen Klassenprivilegien zu errichten, Ungleichheit nicht durch neue Ungleichheit zu beantworten. Eduard Bernstein, der bedeutende und lange bekämpfte Theoretiker der SPD, bezeichnete die Demokratie dreieinhalb Jahrzehnte nach der Parteigründung durch Lassalle als "Mittel und Zweck zugleich". In diesem neuen Politikverständnis liegt für mich eines der wirklich größten historischen Verdienste seiner Partei. Es war die SPD, die bedeutende Teile der Arbeiterschaft und der sozialistischen Bewegung in Deutschland frühzeitig und intensiv und stark mit der Demokratie verband. Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren. // Die kommunistische Weltbewegung entschied sich anders - allerdings mit durchgängig fatalen Folgen. Sie schuf eine neue Klasse der Machtbesitzenden und ersetzte die alte durch eine neue Ohnmacht. Auf Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand warteten die Arbeiter vergeblich. // Umso mehr wissen wir heute den reformerischen Ansatz der Sozialdemokratie zu würdigen. Ihm verdanken wir unter anderem die ersten Arbeitsschutzgesetze und das Frauenwahlrecht. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, den Mut gehabt hätten, sich für die politische Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der bürgerlichen Parteien einzusetzen. Vor allem haben die Sozialdemokraten diese Demokratie länger und tapferer verteidigt als die meisten anderen Demokraten. Sie haben die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hoch gehalten und aufbegehrt gegen jene, die Unfreiheit und Krieg entfesselten. // Unvergessen ist die Rede von Otto Wels am 23. März 1933, als die Nazis bereits viele Oppositionelle inhaftiert und in die Emigration getrieben hatten. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht": Es war - wie Peter Struck es einmal beschrieben hat - "die mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde". // Das wollen wir uns merken. Damals haben 94 SPD-Abgeordnete mit ihrem Nein zum sogenannten Ermächtigungsgesetz nicht nur die eigene Ehre gerettet, sondern die der ersten deutschen Demokratie. Sie haben uns - nämlich allen Deutschen - ein Stück aufrechter Demokratiegeschichte geschenkt, ein Gegenstück zu Schuld und Scham, die kostbare Erfahrung, dass Menschen auch dann zu ihren Werten stehen können, wenn sie verhöhnt, gedemütigt und verfolgt sind. Dankbar würdigen wir heute ihren Mut. // Zu diesen Menschen gehörte Kurt Schumacher, einer der Abgeordneten, die das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ablehnten. Nach zehn Jahren KZ-Haft widerstand er nach dem Krieg der Versuchung, aus Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei zu schaffen. Denn er erkannte, dass die Kommunistische Partei Deutschlands - so seine Worte - "nicht eine deutsche Klassen-, sondern eine fremde Staatspartei" war. Im Osten Deutschlands konnte eine eigenständige SPD tatsächlich erst nach 1989 wieder entstehen. Auch dafür bin ich tief dankbar. // Im Westen Deutschlands hingegen hatte die SPD gemeinsam mit Konservativen und Liberalen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesrepublik ein funktionierender, breit legitimierter "demokratischer und sozialer Bundesstaat" werden konnte - so wie es unser Grundgesetz vorsieht, ein Dokument, das übrigens auch, wie wir alle wissen, an einem 23. Mai verabschiedet worden ist. // An Tagen wie heute wird uns bewusst, dass unsere Demokratie so stabil, bisweilen so anfällig war wie ihr jeweiliges Parteiengefüge. Die SPD kann nicht nur auf die längste Tradition der Parteien in Deutschland zurückblicken. Sie hat wohl auch den tiefgreifendsten inneren Wandel vollziehen müssen. Denn die SPD von heute ist ja keine Klassenpartei mehr. Sie hat sich im Zuge eines langen und schwierigen Lernprozesses zu einer Volkspartei entwickelt. Das Godesberger Programm von 1959 hat diesen Wandel dokumentiert, gefestigt und befördert. // Die Verdienste der SPD in der Bundesrepublik stehen den meisten von uns vor Augen. Ich nenne die gesellschaftlichen und sozialen Reformen der 70er Jahre unter Willy Brandt, ich nenne die erste, die innovative Phase der Ostpolitik, die eine Öffnung gegenüber der DDR und anderen osteuropäischen Nachbarn ermöglichte und den Eisernen Vorhang durchlässiger machte. // Der Film hat uns auch das Wirken der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, die heute beide unter uns sind. Auch mit ihrer Kanzlerschaft sind bleibende Verdienste der SPD für die Bundesrepublik verbunden. // Das Kernthema der Sozialdemokratie ist in 150 Jahren geblieben: die solidarische Gesellschaft, die sich beständig verbessernde Demokratie. Aber in der veränderten Welt von heute stellen sich für die SPD wie für alle anderen Parteien auch neue Herausforderungen. Dazu gehört zentral, dass Parteien immer auch Teil einer sich selbst ermächtigenden Bürgergesellschaft sein müssen und erst dann belastbare Bindungen herstellen können für ein umfassendes politisches Programm. // Keine leichte Aufgabe, denn in den letzten Jahren haben wir viele Protestbewegungen erlebt, die oftmals radikaler waren als die Volksparteien und sich - oft in der Konzentration auf nur ein Thema - auch als ihre Gegenspieler darstellen konnten. Sie zeigten den Willen vieler Bürger zur Mitsprache. Das begrüße ich und unterstütze ich. Die Parteien sollten sich davor nicht fürchten, sondern umgekehrt derartige Formen der Beteiligung als so etwas wie ein Frühwarnsystem verstehen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Zugleich brauchen neue Partizipationsformen aber auch umgekehrt die Parteien, damit deren Impulse auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie ihren Weg in unseren Alltag finden. Kurz: Neue Beteiligungsformen sind eine wichtige Ergänzung, aber sie sind kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. // Schauen wir uns das noch einmal an - in einer Frage wird dies besonders deutlich: Bürgerinitiativen vertreten - zumeist berechtigte - Partikularinteressen, Parteien hingegen müssen stärker allgemein ausgerichtet sein, das Ganze im Blick behalten. Manchmal gelingt es Parteien sogar, gerade den eigenen Wählern Zumutungen aufzuerlegen, mit Entscheidungen, die bisherigen Linien oder kurzfristigen Parteiinteressen widersprechen. Ich weiß, so etwas ist innerhalb einer Partei nicht populär. Aber wir haben erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land! // Heute gratuliere ich der SPD zu 150 Jahren ihres Bestehens. Ich sage Dank und Anerkennung all jenen, die in 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben und damit das Leben von Millionen Menschen verbessert haben. // Ich verbinde diesen Dank an die SPD mit meiner Anerkennung für alle, die in allen demokratischen Parteien für unser Gemeinwohl arbeiten - ob im Ortsverein oder in der Europapolitik, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Ihr Wirken trägt zum Gelingen unserer Demokratie bei. Deshalb gratuliere ich auch uns allen - dazu, dass wir unsere demokratischen Parteien haben. Sie sind wie alle menschlichen Geschöpfe mangelhaft und unvollkommen und tun deshalb gut daran, offen für Kritik und Selbstkritik, also lernfähig, zu sein. Unsere demokratischen Parteien waren immer notwendig für das Leben unserer Demokratie und sie werden auch in Zukunft unentbehrlich sein. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
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Joachim Gauck
Gestern war ich in Bergen-Belsen. Ich musste daran denken, als ich die Bilder von Mauthausen sah. Heute darf ich mit Ihnen die österreichische Freiheit und Befreiung feiern. Ich bin tief bewegt und dankbar, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Nicht an irgendeinem Tag und zu irgendeinem Anlass, sondern gerade an jenem Tag, an dem Österreich vor genau 70 Jahren die Grundlagen für seine demokratische Nachkriegsordnung legte. // Noch tobten damals Kämpfe hier, aber auch um Breslau und Berlin. Noch befanden sich große Teile Österreichs in der Hand der Wehrmacht. Noch herrschte vielerorts der Terror der Nationalsozialisten: Zivilisten wurden erhängt oder erschossen, weil sie weiße Fahnen gehisst hatten. Soldaten wurden zum Tode verurteilt, weil sie sich von ihren Truppenteilen entfernt hatten. Doch die Hauptstadt Wien befand sich bereits in den Händen der Roten Armee. Und noch bevor die Wehrmacht kapitulierte, erklärte eine neue österreichische Regierung den gewaltsamen Anschluss an Deutschland 1938 für null und nichtig und proklamierte die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich. Voller Erleichterung tanzten die Wiener zwischen den Trümmern ihrer Stadt zum Donauwalzer. // Die Bürger der Republik Österreich und die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wissen sehr genau, warum wir das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Befreiung würdigen. Schrecklich allein die Vorstellung, die Alliierten hätten uns nicht befreit und unsere Vorgängergeneration hätte uns ein Europa unter dem Hakenkreuz hinterlassen. // Heute, nach Jahrzehnten demokratischer und ökonomischer Konsolidierung, leben Österreicher und Deutsche in einem spannungsfreien und freundschaftlichen Verhältnis - von Fußballländerspielen einmal abgesehen. Wir sind einander willkommen - als Köche und Kellner, als Fachärzte, als Wissenschaftler und Theaterleute. Geschäftsleute und Touristen überqueren millionenfach die Grenze in beide Richtungen. Viele unserer Unternehmen sind miteinander verflochten, und unsere Länder sind füreinander ein wichtiger Markt. // Zu Recht ist es oftmals betont worden: Österreicher und Deutsche sind sich besonders vertraut - allein schon wegen der Sprache. Das Publikum fragt kaum mehr, ob ein Schriftsteller, Komponist oder Schauspieler und Sänger in Deutschland oder Österreich geboren wurde und welche Staatsbürgerschaft er besitzt. // Unsere Völker verbindet zudem eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte: dazu gehört das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, aber natürlich auch blutiger Krieg, um Schlesien etwa, in der Vergangenheit, ebenso wie der 1815 gemeinsam ins Leben gerufene Deutsche Bund. Und selbst in der Zeit der Nationalstaatsbildung fühlten wir uns einander so nahe, dass die Debatte über einen gemeinsamen Staat lange Jahre auf der politischen Agenda stand. // Wir wissen, wie die Geschichte ausging. 1871 entstand das Deutsche Reich - ohne Österreich. Die staatliche Vereinigung Deutschlands und Österreichs war auch nach dem Ersten Weltkrieg keine Option, die Siegermächte hatten es so verfügt. Und als der Zusammenschluss dann 1938 als Anschluss Realität wurde, verspielte er im selben Moment jede Zukunftschance. Auch wenn Zehntausende auf den Straßen jubelten, als Adolf Hitler Österreich 1938 anschloss ans Deutsche Reich, so gab es zugleich die vielen anderen Österreicher, die in der nationalsozialistischen Herrschaft von Anfang an nichts als ein menschenverachtendes System der Unterdrückung sahen. Das, Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, ist eine Traditionslinie, auf die sich das moderne freiheitliche Österreich stolz berufen kann. Für die Menschen, die in dieser Tradition standen, war die Einheit mit Deutschland unter dem Vorzeichen der Diktatur eben keineswegs erstrebenswert, sondern erschreckend und bestürzend gewesen. // Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen Deutschland und Österreich getrennte Wege - zunächst in kritischem Respekt, dann in wachsender freundschaftlicher Geneigtheit. Beide Staaten sind im Rückblick gut mit dieser Lösung gefahren. Mit dem Staatsvertrag von 1955, einem Meilenstein der zweiten Republik, wurde Österreich souverän und frei. Das ist nun schon 60 Jahre her. Längst bekennen sich die Österreicher ganz selbstverständlich zu ihrer Identität, voller Stolz auf dieses Land mit seiner wunderschönen Landschaft, seiner tiefverwurzelten Kultur, seiner politischen Stabilität und seinem sozialen Frieden. // In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen Österreich und Deutschland vielfach vor ähnlichen Herausforderungen. Zunächst strebten beide nach dem Ende der Besatzung und nach der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität, was im Falle Deutschlands erheblich länger dauerte als im Falle Österreichs. Beide Länder hatten gewaltige Leistungen zu erbringen, um die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren. Auch in Österreich standen zunächst der Wiederaufbau des Landes und die Mehrung des Wohlstands im Vordergrund. Dabei flüchteten viele Österreicher ebenso wie viele Westdeutsche vor den langen Schatten der Vergangenheit ins große Schweigen oder auch in die Traumwelt von Heimatfilmen oder Schlagermusik. Es hat mich sehr bewegt, Herr Bundespräsident, wie Sie diese Zeit und die Position innerhalb der Bevölkerung hier gerade beschrieben haben. // Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das musste erst erlernt werden, von Deutschen wie von Österreichern. Sie, Herr Bundespräsident, gehörten 1962 zu den ersten, die in Österreich die fortdauernde Weitergabe von antisemitischem oder neonazistischem Gedankengut unter dem Dach einer Hochschule anprangerten. In den 1980er Jahren drangen die Dispute aus der Alpenrepublik bis ins europäische Ausland und bis nach Amerika. Ich weiß zu schätzen, welche große Bedeutung den Worten von Franz Vranitzky zukam, der 1991 als erster Bundeskanzler im Nationalrat aussprach, was lange - für einige viel zu lange - tabuisiert worden war: "Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so, wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten." // Deutschland hat nach seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit nationalsozialistischer, später auch mit kommunistischer Vergangenheit ähnliche Überzeugungen gewonnen wie Österreich: Wenn wir uns offen und unvoreingenommen der Vergangenheit nähern, kann Wissen an die Stelle des Schweigens treten. Wahrheit hilft und Wahrheit befreit. Wir achten die Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Gewiss: Wir sind nationale Narrative gewohnt. Aber wir können durchaus die eigenen Sichtweisen um die Sichtweisen der Anderen erweitern, und wir können unsere bisherigen Sichtweisen, wo es erforderlich ist, verändern: Das beste Korrektiv gegenüber einem Denken, das sich primär am Nationalen orientiert, ist die Orientierung an universellen Werten, an den Menschenrechten und an der Menschenwürde. // Lassen Sie mich noch einen Blick auf die letzten Jahrzehnte werfen. In einem beispiellosen Einigungsprozess ist es gelungen, die Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg verfeindet und misstrauisch gegenüber standen, auf der Grundlage der Prinzipien von Frieden, Freiheit und Menschenrechten zusammenzuführen. Es war ein Einigungsprozess, der zunächst im Westen des Kontinents, Jahrzehnte später auch in der Mitte und im Osten stattfand. Den Europäern ist es fast überall auf unserem Kontinent gelungen, den Dialog an die Stelle der Feindschaft, und das Miteinander der Verschiedenen an die Stelle eines Wettkampfs um Vorherrschaft und Macht zu setzen. Europa ist damit zum Modell für viele demokratische und freiheitsliebende Menschen auf der ganzen Welt geworden. // An dieser Stelle liegt es nahe, einen weiteren Jahrestag ins Gedächtnis zu rufen: Vor fast genau zwanzig Jahren, am 1. Januar 1995, wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Sich militärisch zur Neutralität verpflichtend, ist Österreich politisch doch immer ein Teil jener Völkerfamilie gewesen, die sich der Freiheit des Einzelnen und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung verschrieben hat. Gerade Österreich, das kommunistischen Ländern Nachbar war, wurde ein wichtiger Ort der Sehnsucht und der Zuflucht für Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa. // Die besondere Anteilnahme der Österreicher am Schicksal der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs verdient großen Respekt. Während des Aufstands 1956 standen sie an der Seite der freiheitsliebenden Ungarn. 1968 hofften und bangten sie mit den Tschechen und Slowaken während des Prager Frühlings. Flüchtlingen aus beiden Ländern begegneten sie mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft. Und im Frühsommer 1989 war Österreich gerne bereit, tausenden von DDR-Bürgern ein erstes Obdach zu bieten, als sich die Chance für die Flucht dieser Menschen bot, weil Ungarn schon den Schießbefehl aufgehoben und die Grenzen partiell geöffnet hatte. Das werden wir nicht vergessen und dafür bleiben wir dankbar. // Nachbarschaftliche und kulturelle Bande konnten erneuert werden, als Europa nach 1989 wieder eins wurde und Österreich den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte. Die Wirtschaft profitierte von der Einigung - und mit ihr die Menschen. Und doch haben sich die Hoffnungen auf eine immer engere Zusammenarbeit nicht überall erfüllt. In einigen Ländern Europas, auch innerhalb der Europäischen Union, sehen wir Gefahren für Rechtsstaat und Pluralismus, in anderen das Anwachsen populistischer und nationaler bis nationalistischer Strömungen und Parteien. Sogar ein so großer und für uns alle so wichtiger Partner wie Großbritannien hat Schwierigkeiten, seine Mitgliedschaft in der EU dauerhaft zu bejahen. Dazu kommt noch die Gefahr, die islamistische Terrororganisationen innerhalb Europas darstellen. Angesichts dieser Herausforderungen gewinnt die gemeinsame Verteidigung und Festigung von Einheit, Freiheit und Demokratie in Europa eine neue, eine große Bedeutung. // Deshalb erscheint mir ein abgestimmtes, ja gemeinsames Vorgehen der Europäischen Union in der Außenpolitik besonders bedeutsam zu sein. Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der Europäischen Union neu über ihre gemeinsame Sicherheit nachzudenken. // Unsere beiden Staaten haben je eigene Erfahrungen gemacht mit den Möglichkeiten und den Grenzen der Politik in den Zeiten des Kalten Krieges: Konkurrenz und Konfrontation zwischen den beiden Machtblöcken bargen immer auch die Gefahr eines "heißen" Krieges. Trotz mancher Enttäuschungen setzen wir deshalb heute auf Deeskalation und Gespräch. // Zugleich wissen wir: Es war 1975 die Schlussakte des Helsinki-Prozesses und das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und Grundfreiheiten, das der mitteleuropäischen Freiheitsbewegung auch Inspiration und Ermutigung bot. Es war der erklärte Wille der Menschen dort, unabhängig und selbstbestimmt, in Freiheit und Demokratie zu leben. Was vor einem Vierteljahrhundert bei Polen, bei Ungarn und Tschechen unsere ungeteilte Unterstützung fand, kann uns deshalb heute in der Ukraine nicht gleichgültig lassen. // Heute wie damals besteht Europa auf dem Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität jeden Landes und dessen Recht, seine Partner frei wählen zu dürfen. Heute wie damals weiß Europa, dass nichts den Wohlstand und das friedliche Zusammenleben besser sichert als die Menschen- und Bürgerrechte in einem funktionierenden Rechtsstaat. // Ich freue mich, dass ich an diesem Tag bei Ihnen sein kann. Und ich freue mich vor allem deshalb, weil unsere beiden voneinander getrennten Staaten doch noch mehr verbindet als eine gemeinsame Sprache. Es ist unser gemeinsames Wertefundament und es sind gemeinsame Ideale. Sie verbinden unsere Länder als gleichberechtigte Partner in der großen Familie der Europäischen Union. Und noch etwas verbindet uns: Österreich und Deutschland haben heute die gemeinsame Verantwortung, die Ordnung und die Werte auf denen sie beruht, in der Zukunft zu sichern. Es ist der Geist der europäischen Zusammenarbeit, der unsere Länder auch künftig vereinen wird. Der 70. Jahrestag der Wiedererrichtung der demokratischen Republik Österreich, zu dem ich von Herzen gratuliere, ist ein guter Anlass, sich darüber zu freuen und gemeinsam "Ja" zu sagen zu dieser Verantwortung.
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Joachim Gauck
Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland! // Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein, dass Politik Freude machen kann. Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden, die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben. Ich danke Ihnen. // Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen "unser Land"? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden? // Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema "Freiheit" ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum. // Stattdessen - da ich das nicht will - will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen "Wirtschaftswunder". Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße. // Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des "Demokratiewunders". Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt. // Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen. Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der 68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu, anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. // Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last der Vergangenheit umgehen sollen. // Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus, wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude! // So wie später - 1989 - dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn die Menschen aufstehen und sagen: "Wir sind das Volk", werden sie sagen können: "Wir sind ein Volk", werden die Mauern fallen. // Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt. // Der Sinn dessen, dass ich so spreche, ist, dass ich nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwortung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung. Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften - wenn auch nicht gleich ideal - zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft. // Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen? Es soll "unser Land" sein, weil "unser Land" soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. // Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit - auch soziale Gerechtigkeit - bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, sondern nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. "Unser Land" muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit - und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. // In "unserem Land" sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa. // Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen. // Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses - Ihr - Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen. // Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir. // Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine "wahre Schule" des Miteinanders auf engstem Raum. "Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben." Darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. // Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. // Mit Freude sehe ich auch, dass die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt. // Europa war für meine Generation Verheißung - aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn. // Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen sollen? Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. // Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System handelt. // Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen - aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land. // Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. // Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. // Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben. // Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht. // Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. "Was?", so hören wir es oft im privaten Raum, "Du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?" "Wie bitte, Du bist aktiv in einer Gewerkschaft?" Manche finden das dann "uncool". Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten? // Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet Euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. // Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. // Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben. // Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für ein Land, so Gandhi. // Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur geträumt, sondern das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.
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Joachim Gauck
Heute Morgen ist Bundespräsident Richard von Weizsäcker gestorben. Deutschland trauert. // Unser Land verliert mit ihm einen großartigen Menschen und ein herausragendes Staatsoberhaupt. Richard von Weizsäcker hat das Amt des Bundespräsidenten auf bleibende Weise geprägt. // Mit seinen großen Gaben und mit seiner Glaubwürdigkeit vertrat er die Bundesrepublik Deutschland überzeugend nach Außen. Er verkörperte weltweit ein Deutschland, das seinen Weg in die Mitte der demokratischen Völkerfamilie gefunden hat. // Richard von Weizsäcker war geprägt von der christlichen und aufklärerischen Tradition Europas. Er hatte das Dunkel der Diktatur erlebt. So stand er auch für eine Bundesrepublik, die sich ihrer Vergangenheit stellt. Richard von Weizsäcker hat dem Ansehen Deutschlands in der Welt einen bleibenden Dienst erwiesen. // Nach Innen gelang es ihm, dem überzeugten Demokraten, vielen Bürgern die demokratischen Institutionen näherzubringen. Mit Reden, Handeln und mit seiner Ausstrahlung verkörperte er glaubhaft eine lebendige, demokratische Bürgergesellschaft. // Auch den Menschen in der DDR gab er zu Zeiten der Teilung Orientierung und Motivation, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten. Als erster Bundespräsident des vereinten Deutschland hat er auch einen unschätzbaren Beitrag zum Zusammenwachsen der Bürgerinnen und Bürger aus Ost und West geleistet. // Richard von Weizsäcker hat gesagt: "Wenn Freiheit das Geheimnis der Demokratie ist, dann ist es eine Freiheit zur Beteiligung und zur Mitverantwortung." // Diese Maxime hat vielen Menschen und auch mir vielfach Orientierung gegeben, und ich empfinde sie als Vermächtnis für uns alle. Richard von Weizsäcker hat sich um Deutschland verdient gemacht. Mit vielen Menschen in unserem Land und in vielen anderen Ländern der Welt trauere ich um unseren früheren Bundespräsidenten. // In großer Dankbarkeit verneige ich mich vor einem großen Deutschen.
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Joachim Gauck
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mit dieser Anrede gebe ich die Begrüßungsformel an Sie zurück, Herr Bürgermeister. Sie haben gemeint, stolz und glücklich sein zu sollen, weil ich Sie besuche. Nein, es ist anders. Ich bin stolz und glücklich, dass es Sie gibt, Sie und Ihre Bürgerinnen und Bürger. // Ich bin hierher gekommen, weil ich einmal exemplarisch in der Nähe von gelösten und ungelösten Problemen sein möchte. Wir alle in Deutschland, ob wir Wähler oder Gewählte sind, wir alle wissen: Wir stehen vor schweren Herausforderungen, und landauf, landab wird nun gerätselt - hoffentlich auch geplant und nicht nur gerätselt und geklagt -, was zu tun ist. Und das Erste, was ich nicht nur Ihnen, sondern allen Deutschen sagen möchte, ist: Zu einer Zeit von Herausforderungen gehören Debatten und Kontroversen, aber sie gehören in die Mitte der Gesellschaft. Wir wollen nicht, dass auf der einen Seite die guten Menschen mit den weiten Herzen stehen und auf der anderen Seite die Engherzigen. Die einen dürfen jammern und klagen, und die anderen dürfen schaffen und umsorgen und sich freuen, dass wir so solidarisch sind. So wird das alles nicht funktionieren. // Sie haben sich ja an die Landesregierung gewandt, an die Bundesregierung, manchmal wenden Sie sich auch an die Gebietskörperschaft, und Sie bitten um Verständnis oder um Solidarität und um Hilfe. Wir müssen begreifen, dass wir beides tun können. Wir können solidarisch handeln und gleichzeitig eine Problemanalyse betreiben und Sorgen und Besorgnisse benennen. Wenn wir in der Mitte der Handelnden und der Solidarischen aufhören, die Probleme zu besprechen, die unsere Mitbürger betreffen, dann werden am rechten Rand genug Verführer und Nutznießer sein, die sich dieser Probleme bemächtigen und so tun, als wären sie die Einzigen, die darüber sprechen. So darf das natürlich nicht sein. Und darum müssen wir in der Mitte der Gesellschaft auch ertragen, dass es gesellschaftliche Debatten und manchmal auch Streit gibt. So ist das in der Demokratie. Die offene Gesellschaft kommt ohne diese Form der Kommunikation gar nicht aus. Und dann dürfen auch Abgeordnete mal unterschiedlicher Meinung sein. Und das ist auch noch normal. Und wir, in den Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger, die vor der Situation stehen, dass die Turnhalle ihrer Kinder gerade belegt ist oder dass eine benachbarte Liegenschaft genutzt wird in einer Weise, wie es nicht geplant war, die dürfen das Maul aufmachen. Die dürfen sagen "Bürgermeister, was machst du gerade mit uns?" Und der Bürgermeister ist gut beraten, wenn er rechtzeitig mit den Bürgerinnen und Bürgern spricht, was er zu tun gedenkt. Und dann kann er die Bürgerinnen und Bürger auch fragen: "Ja, was soll ich denn sonst machen? Soll ich die Leute unter Brücken schlafen lassen oder am Fluss oder an der Landstraße liegen lassen?" Und dann wird er hören, was für Antworten er bekommt. // Und deshalb bin ich froh darüber, dass ich in einer Stadt bin, wo es eine ganz herausragende Qualität von Engagement gibt, in der es so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger gibt, in den Vereinen, in den Verbänden, unseren Hilfsorganisationen, einfach überall. Ob es die freiwillige Feuerwehr, die Polizei oder welche Organisation auch immer ist. Diese Unmenge von freiwilligen Helfern, die überall im ganzen Land sind. Ich bin dankbar und glücklich, dass dieses Land sich so selbst erkennt in seinen Potentialen, in seiner Fähigkeit, nicht wegzuschauen, sondern hinzusehen und helfen zu wollen. Wunderbar. Wir haben es so nicht erwartet. Wir könnten unser Land, wenn es eine Person wäre, so ansprechen: "Du, das hätte ich von dir nicht erwartet. Das gefällt mir." Und indem wir unser Land so ansprechen, erkennen wir uns auch in unseren Potentialen, in unseren Möglichkeiten. Und jetzt kommt noch etwas hinzu: So wie Sportler, die Höchstleistungen erbringen, oder Musiker, die wunderbare Werke schaffen, so erkennen wir uns oft erst dann, wenn wir an die Grenzen des uns Möglichen gehen. Wenn wir in uns Fähigkeiten entdecken, von denen wir vorher nicht geglaubt hätten, dass wir sie haben. Und deshalb habe ich eben gesagt, wenn unser Land eine Person wäre, würde ich sagen: "Gut gemacht". // Bei diesem "gut gemacht", das will ich jetzt auch mal mit aller Deutlichkeit sagen, damit meine ich auch alle diejenigen, die beamtet, die angestellt sind, nicht nur die Ehrenamtlichen, die haben wir jetzt in den letzten Wochen dauernd gelobt. Ich will heute auch einmal diejenigen loben, die Überstunden machen, die, wie ich es heute von Ihrem Bürgermeister gehört habe, nachts um drei senkrecht im Bett stehen, um sich Gedanken zu machen und zu fragen: "Wo bringe ich die Leute unter?" Ich hoffe, er macht es nicht jede Nacht, dann haben Sie ihn nicht mehr lange. Aber dieses Bild eines engagierten Mitarbeiters, eines engagierten Bürgermeisters, eines engagierten Abteilungs- oder Referatsleiters, einer engagierten Mitarbeiterin am Computer - für alle die, die bei uns im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, sind das ja auch großartige Zeiten. Und für sie gilt, was ich eben für das ganze Land gesagt habe. Sie lernen sich neu kennen mit ihrer Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und großartig zu sein. Das stärkt sie. // Und warum brauchen wir diese Stärke? Weil sich um uns herum an den Rändern eine Angstkultur entwickelt, die bedrohlich ist. Ängste sind oft etwas anderes als eine Problemanalyse. Sie sind diffus. Es werden Vermutungen geäußert, es werden Stereotypen bedient. Das ist gefährlich. Es werden Horrorszenarien für die Zukunft entwickelt. Und diese Horrorszenarien und diese negativen Stereotypen, sie haben alle eins gemeinsam: Sie entmächtigen uns, sie suggerieren uns, wir seien nicht im Stande, den Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu entsprechen. // Aber, meine Damen und Herren, wir sind die, die wir geworden sind. Wir sind aus einer Nation, die zutiefst danieder lag, moralisch diskreditiert war, zu einer Nation geworden, die sich selber etwas zutraut. Wir sind die, die sich etwas zutrauen. Und indem wir uns das bewusst machen, fürchten wir uns auch nicht mehr vor einer Problemdebatte in der Mitte unserer Gesellschaft. Ich wiederhole mich da, aber das tue ich ganz bewusst, weil ich diese Aufteilung der Gesellschaft in diejenigen, die gutwillig und gutmütig und aufnahmebereit und aktiv sind, und diejenigen, die böswillig und fremdenfeindlich sind, die akzeptiere ich nicht. Ich weiß, dass es böswillige und fremdenfeindliche Menschen gibt, ich finde sie unerträglich. Auch wie sie mit den Ängsten von Menschen manipulieren, um sich selber Einfluss zuzueignen, der ihnen gar nicht zukommt. Das weiß ich. Aber so wenig wie wir diesen Angstmachern die Zukunft unseres Landes überlassen, ja, auch nur eine Rolle bei dieser Zukunft des Landes maßgeblich mitzuwirken, so wenig überlassen wir ihnen die Deutungshoheit über unsere Probleme, auch über unsere ungelösten Probleme. // Und deshalb meine Bitte an Sie und an alle anderen, die sich in der Mitte der Gesellschaft Sorgen machen, ob wir das schaffen: Reden Sie mit Ihrem Bürgermeister. Reden Sie mit Ihren Abgeordneten. Behalten Sie Ihre Befürchtungen nicht für sich. Konfrontieren Sie Ihre Abgeordneten und Minister mit Ihrer Problemanalyse und erwarten Sie von den Politikern, dass sie Handlungsfähigkeit zeigen. Die versuchen es doch. Aber was ihnen zurzeit schwer gelingt, ist Planungssicherheit herzustellen. Ja, wie auch? Wissen wir denn, wie viele Flüchtlinge übermorgen zu uns kommen? Wir wissen es nicht. Und darum brauchen unsere politischen Akteure neben unserer Fähigkeit zur Kritik, neben unseren Anregungen, auch ein gewisses Maß an Verständnis. Ich gehe mal davon aus, meine Damen und Herren, dass die wenigsten von Ihnen es besser machen könnten als Ihre Ministerpräsidentin und die Bundeskanzlerin. Es mag ja sein, dass sich der eine oder andere hier befindet, der fest davon überzeugt ist. Ich nehme dann einen Zettel und schreibe mir Ihre Namen auf. Ja? // Also es gibt Gründe, das haben wir vom Bürgermeister gehört. Es gibt Gründe, dass wir manchmal die Regierung fragen: "Ja, wieso so und nicht anders? Ich habe viel bessere Ideen". Wunderbar wenn es so ist. Und wunderbar, wenn Sie aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem Kreis der Engagierten, dieser positiven Netzwerke heraus diese Frage stellen. Das ist eine lebendige, offene Gesellschaft, die solche Debatten nicht fürchtet. Wir haben es nicht nötig, uns vor dem, was uns als ungeklärtes Problem noch vor den Füßen liegt, weg zu laufen. Menschen, die sich bewährt haben, indem sie Solidarität als eine Lebensform der Gesellschaft entwickelt haben, die laufen nicht einfach weg wegen diffuser Ängste. Ein gutes Beispiel ist dieser Bürgermeister oder viele andere Aktive. Wir können ihm gut zuhören, wenn er die Regierung kritisiert, weil wir an ihm genau merken, er steht nicht irgendwo im Abseits und meckert nur an den gesellschaftlichen Verhältnissen herum. Sondern er beteiligt sich intensiv, bringt seine Gaben ein, und dann hat er jedes Recht der Welt, mit all denen, die über ihm sind, auch kritisch zu sprechen und ihnen kritische Fragen zu stellen. // Jetzt haben wir uns, denke ich, miteinander verständigt. Ja, ich spüre das. Ich weiß, ich habe vorhin schon ein paar Leute getroffen, so eine kleine Blütenlese hier aus Ihrer Gesellschaft. Und ich habe gespürt, ich bin in einem Stück Europa, von dem ich einmal geträumt habe. Ich bin unter Menschen, die sich selber anschauen, und sich fragen: Was kann ich eigentlich tun, um diesen Raum, in dem ich lebe, zu einem lebenswerten und schönen zu machen, zu einem gastfreundlichen? Und ich will die Gelegenheit nutzen, ein herzliches, bürgerschaftliches wie präsidiales Dankeschön zu sagen: all den Lehrerinnen und Lehrern, den Pfarrern und Pfarrerinnen in den Kirchgemeinden, in Diakonien. All den Menschen, die sich sorgen um unser Miteinander, die es gestalten, auch den Menschen, die jungen Leuten in den Sportvereinen beibringen, was Fairness ist und was Regeln sind, all denen, die in irgendeiner Weise aktiv sind. Es ist gut, dass ich Sie erlebe, es ist gut, dass ich dieses Land so erlebe. Und weil ich Sie so erlebe, weiß ich, dass die Probleme, die mit Sicherheit auf uns zukommen, und angesichts derer wir auch mit Sicherheit noch nicht alle Lösungswege wissen, dass diese Probleme uns nicht überwältigen werden. Wir sind die, die sich verpflichtet haben zu stehen und nicht zu fliehen. Und wir haben das Gefühl, genauso soll unser Leben sein. So möchten wir es, auch wenn wir an einen fremden Ort kämen: dass es dort Menschen geben möge, die diese Gesinnung haben. // Indem ich mich vorhin bedankt habe bei den unterschiedlichsten Menschen, bin ich auch bei denen gelandet, die uns - etwa in den Kirchen und in den Schulen - etwas vom Sinn unseres Lebens beigebracht haben. Denken wir daran, das ist eine geprägte Kulturlandschaft. Und zu unserer Kultur gehören nicht nur die Einrichtungen des Wissens, unsere Universitäten, der Kultur, unsere Theater und Museen, gehören auch nicht nur unsere wunderbaren Produktionsstätten, sondern es gehört eine Kultur der Mitmenschlichkeit dazu, die achtsam ist und am anderen nicht vorbei geht, wenn er ohnmächtig und geschlagen am Straßenrand liegt. Viele von uns haben in der Kindheit das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört. Und sie haben begriffen, dass Barmherzigkeit eine Form des Miteinanders ist. Barmherzigkeit heißt in der Sprache der Politik: Solidarität. Beides hat miteinander zu tun. Und die Gesellschaften der Solidarität sind erwachsener - auf dem Boden eines solchen tiefen menschlichen Wissens, dass Zuwendung und Zueinandergehören der Kern dessen sind, was uns miteinander verbindet. // So kommt eine lange kulturelle, religiöse und politische Tradition zusammen. Und all das hat dazu geführt, dass Sie leben, wie Sie hier leben: als Verbundene und nicht jeder als ein Wolf für den Anderen. Als miteinander Verbundene im Streit und in der Solidarität, in der Gestaltung und in der Geduld. Und so soll es bleiben. Und wenn es so bleibt, dann komme ich wieder und bin wieder dankbar und stolz, dass ich unter Ihnen sein kann.
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Joachim Gauck
Vor genau vier Wochen - einige haben mich schon darauf angesprochen - stand ich auf dieser Bühne. Damals feierten wir den Jahrestag der friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes. Ein festliches Ereignis - ähnlich wie heute. Denn heute ist ein besonderer Tag, weil wir eine Organisation feiern, die nach Jahrzehnten der Teilung in Ost und West 1991 selbst eine Wiedervereinigung erlebt hat. Eine Organisation, die über 150 Jahre hinweg Deutschland und die Deutschen durch ihre so wechselvolle Geschichte begleitet hat: das Rote Kreuz. // Ein rotes Kreuz auf weißem Grund steht für Schutz und Hoffnung in Zeiten der Not. Es steht für den Schutz von Schwachen und Bedürftigen. Es ist eines der bekanntesten - und bemerkenswertesten - Symbole, die es überhaupt gibt. Denn am Anfang der Geschichte der Bewegung des Roten Kreuzes stand das Mitgefühl eines Mannes für das Leid der Soldaten im 19. Jahrhundert, als der Krieg - an der Krim und schließlich in Oberitalien - nach Europa zurückgekehrt war. Die Schlacht von Solferino im Jahr 1859 und ihre über 40.000 Verwundeten und Toten erschütterten den Genfer Geschäftsmann Henry Dunant so sehr, dass er sofort Hilfsmaßnahmen für die verwundeten Soldaten in die Wege leitete. Immer wieder begründete er seinen Einsatz mit den italienischen Worten: tutti fratelli - wir sind doch alle Brüder! Aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl entstand dann eine neue Bewegung, die beispielhaft für das steht, was wir heute humanitäre Hilfe nennen. // Natürlich gab es dafür Vorzeichen und Vorläufer: Dass verwundete Soldaten des Schutzes bedurften, diese Vorstellung hatte sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Aber mit dem Rotkreuzgedanken setzte Henry Dunant entschlossen dem Grauen des Krieges tätige Mitmenschlichkeit und christliche Nächstenliebe entgegen. Die Rotkreuzbewegung steht so nicht nur für die beflügelnde Kraft des Mitgefühls, sondern auch für die Macht eines Einzelnen. Und diese Kraft verbreitete sich aus Genf in ganz Europa und später in der Welt. // Schon im November 1863 - vor 150 Jahren also - wurde der erste Rotkreuzverein auf deutschem Boden, hier in Stuttgart gegründet: der Württembergische Sanitätsverein. Deshalb sind wir hier versammelt, um diese wirkmächtige Idee, die auch in unserem Land sich so kraftvoll entfaltet hat, zu würdigen: Tutti fratelli, alle sind Brüder - e sorrelle, und Schwestern! Natürlich! Ja, gerade hier in Deutschland knüpfte die Rotkreuzbewegung auch an die Tradition der Frauenvereine aus der Zeit der Befreiungskriege an. // In Deutschland hat das Rote Kreuz einen historischen Beitrag dazu geleistet, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft entwickelte, die ihre Geschicke selbst in die Hand nahm und nicht alles dem Staat überließ. Das Deutsche Rote Kreuz steht damit in einer Reihe mit anderen Institutionen des bürgerschaftlichen Engagements, der bürgerschaftlichen Selbstorganisation: den freien Wohlfahrtsverbänden, den freien Gewerkschaften und den eigenständigen Industrie- und Handelskammern. // Gerade mit den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit erkennen wir heute den Wert eines freien zivilen Mitgliederverbands für unsere Demokratie: Nach der "Gleichschaltung", wenn wir an die NS-Zeit erinnern, und auch nach der Freiheitseinschränkung - und ich sage dies trotz einiger innerer Freiräume - in der DDR wurde im wiedervereinigten Deutschland das ganze Rote Kreuz ein aktives Bündnis freier, verantwortungsbewusster Bürger. // Tätig werden, statt untätig zu verharren - die Dinge in die Hand nehmen, statt sie klaglos hinzunehmen - das ist die Handlungsmaxime des Deutschen Roten Kreuzes: Ob in der Pflege oder in der Betreuung älterer Menschen, in der sozialen Arbeit mit Jugendlichen oder in der Beratung von Zugewanderten - das Deutsche Rote Kreuz ist für alle da. Vielen begegnet es bei Erste-Hilfe-Kursen oder bei freiwilligen Blutspenden. Es leistet Notfallhilfe und Katastrophenschutz. Ein Beispiel: Als die Flüsse in diesem Jahr erneut über die Ufer traten und große Teile Deutschlands überschwemmten, da war das Deutsche Rote Kreuz wie selbstverständlich zur Stelle. Damit trägt das Rote Kreuz dazu bei, dass wir uns sicher fühlen. Wir wissen: Ich erhalte Hilfe in der Not oder in der Krise. So stiftet das Deutsche Rote Kreuz gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist zu einem Markenzeichen für die soziale Dimension in unserem Land geworden. // Welchen Stellenwert das Deutsche Rote Kreuz hier hat, das zeigt uns auch die Zahl seiner Mitglieder: fast vier Millionen sind es. Besonders freue ich mich darüber, dass sich so viele Bürgerinnen und Bürger im Roten Kreuz ehrenamtlich engagieren - es sind über 400.000. Ihnen, den Ehrenamtlichen, möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen. Als Bürger helfen Sie Bürgern. Sie sind stets dort zur Stelle, wo Sie gebraucht werden. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt von diesem Engagement. // Das Deutsche Rote Kreuz spielt, auch dies sei erwähnt, eine bedeutende Rolle für das Gesundheits- und Sozialwesen. Es betreibt Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Pflegeheime, steht dabei im wirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen und bringt seine Stimme ein in die Diskussionen, wie unser Sozialstaat auch künftig jedem medizinische Versorgung auf dem Stand der Wissenschaft und menschenwürdige Pflege garantieren kann. Das bedeutet für eine Organisation wie das Rote Kreuz auch besondere Herausforderungen - nämlich das Gemeinnützige und das Ehrenamtliche in eine Balance mit dem Geschäftlichen und den Hauptamtlichen zu bringen. Das setzt ein klares Leitbild voraus und Transparenz - wie Sie beim Deutschen Roten Kreuz sich das vorgenommen haben. Bei Ihrem Wirken für das Soziale in unserem Land helfen Sie so, die ideellen Werte des Deutschen Roten Kreuzes zu bewahren. // Weltweit ist das DRK humanitärer Botschafter unseres Landes. Als ich vor vier Wochen hier in diesem Saal sprach, habe ich auch über die Verantwortung Deutschlands in der Welt geredet. Dass das wiedervereinigte Deutschland als international angesehener und verlässlicher Partner gilt, dazu hat übrigens auch die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes einen wichtigen Beitrag geleistet. // Humanitäre Hilfe - das bedeutet, mit Henry Dunant im Kern daran zu glauben, dass wir im Stande sind, die Welt aus eigener Kraft zu verändern, dass wir diese Welt zu einem besseren Ort machen können. Heute geht es in der internationalen Politik nicht mehr nur um die Sicherheit von Staaten. Es geht auch um die Sicherheit des Einzelnen oder von den Vielen. Das ist eine wesentliche Errungenschaft der Weltgemeinschaft. Und wir sollten es ruhig aussprechen: Es ist ein Erfolg auch unserer Wertegemeinschaft, es ist auch ein Erbe der europäischen Aufklärung in einer Welt, die entgegen mancher Erwartung nach 1989 nicht friedlicher geworden ist. Tatsächlich erleben wir seither doch eine Fülle neuer Konflikte: zunehmend nicht nur zwischen Staaten, sondern innerhalb von Staaten zwischen unterschiedlichen Interessengruppen oder politischen, ethnischen und religiösen Gruppierungen. Einzelne fragile Staaten können die Sicherheit ihrer eigenen Bürger überhaupt nicht mehr gewährleisten. Oftmals haben sie auch gar kein Interesse daran. Dies stellt die weltweite humanitäre Hilfe vor ganz neue Herausforderungen. // Was das bedeutet, das habe ich auch bei meiner Begegnung mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, Peter Maurer, erfahren. Das Internationale Komitee mit seinem ganz besonderen Mandat im Völkerrecht ist ein unverzichtbarer Partner der Bundesregierung in ihrer humanitären Hilfe - denken wir allein an die humanitäre Krise in Syrien. Deutschland gehört dort zu den größten Geldgebern und arbeitet eng mit dem Roten Kreuz zusammen. // In Syrien wie an vielen anderen Brennpunkten müssen wir uns fragen: Wie schaffen wir ein Umfeld, in dem Frieden möglich ist und in dem die Ursachen von Gewalt und damit von individuellem Leid verschwinden oder doch zumindest eingehegt werden? // Durch seine Prinzipien steht das Rote Kreuz beispielhaft für gelungene internationale Kooperation - nicht nur über Landesgrenzen hinweg, sondern auch zwischen den Weltreligionen. Die Rotkreuz- und die Rothalbmondgesellschaften genießen gleiche Rechte und Pflichten und sind in vielen Krisenregionen die einzigen Organisationen, die von allen Konfliktparteien anerkannt und respektiert werden. // Es ist entscheidend, dass das Rote Kreuz - ebenso wie der Rote Halbmond - auch weiterhin als Schutzsymbole akzeptiert werden, die eine unüberwindbare Grenze für Gewalt und Aggression darstellen. Übergriffe, welcher Art auch immer, auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes können wir nicht hinnehmen. Nur wenn dieser Schutz gewährleistet ist, können Hilfsorganisationen ihrer Aufgabe nachkommen. Nur dann kommt eben die Hilfe bei den Bedürftigen an. Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds setzen Leib und Leben aufs Spiel, um anderen Menschen zu helfen und das verdient doch unsere Unterstützung - und zwar unsere volle Unterstützung. // Nun könnte man sagen: Der humanitäre Gedanke, wie wir ihn heute kennen, hat sich in Europa entwickelt, auch weil der Kontinent so zahlreiche und so grausame kriegerische Auseinandersetzungen erlebt hat. Die Staaten Europas haben sich nach diesem schmerzvollen Weg miteinander versöhnt. Humanitäre Hilfe war nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wesentlich für den Aufbau des Kontinents - das Rote Kreuz hat einen besonderen, einen ganz besonders "menschlichen" Beitrag in dieser Zeit geleistet, indem es half, Familien zusammenzuführen, die in den Wirren des Krieges auseinandergerissen worden waren. Ich habe noch in Erinnerung, wie wir, als ich ein Junge war, an den Radiogeräten saßen und ganze Namenslisten verlesen wurden. Der Suchdienst hat hier unglaublich dabei geholfen, Menschen zusammenzuführen, die durch Krieg und Kriegsfolgen auseinandergerissen waren. Aus dieser Zeit erinnere ich mich auch an die humanitären Aktionen, die Deutschland geholfen haben nach dem Krieg, etwa an die Schwedenspeisung im Hungerwinter 1946/47. Mit Lebensmittelpaketen, Kleidung und Schuhen halfen Schweden, Dänen, Schweizer, Briten und viele andere über die Rotkreuzorganisationen den Deutschen in ganz existenzieller Not. Ich möchte nicht, dass Deutschland vergisst, wie ihm einst geholfen wurde. Das war schließlich über die Hilfe für das schiere Überleben hinaus eine große Geste der Humanität, in der sich wieder Henry Dunants kraftvoller Gedanke zeigte: tutti fratelli e sorrelle - wir sind Schwestern und Brüder. An diese Erfahrung der Deutschen möchte ich heute dankbar erinnern. // Humanitäre Hilfe bedeutet, auf der Grundlage von Werten und Überzeugungen zu handeln. In diesem Grundsatz, den man auf Vieles übertragen kann, sehe ich eine Zukunftsaufgabe für uns in Europa. Wir als Europäer müssen unsere eigenen Werte ernst nehmen und ihnen auch in unserem praktischen Handeln folgen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen vor den vielen Versuchen überall in der Welt, den Geltungsbereich der Menschenrechte etwa einzuschränken. Das geschieht beispielsweise unter Verweis auf distinkte "kulturelle Konventionen" oder "traditionelle Werte", die angeblich nicht mit den Menschenrechten übereinstimmen würden. Aber das ist immer unrichtig. Das ist immer taktisches Kalkül von Menschen, die sich davor fürchten, allen Menschen Menschenrechte und Bürgerrechte zuzuerkennen. Es gibt nicht zwei Arten von Menschenrechten. Die Vereinten Nationen haben sich auf eine Liste, auf einen Katalog geeinigt. Deshalb sind Menschenrechte nicht verhandelbar. Sie sind universell. Sie gelten überall und für jede Frau, für jedes Kind, für jeden Mann. // Bei der Durchsetzung der Menschenrechte sind wir ein großes Stück vorangekommen. Doch auch diese Geschichte, die Geschichte dieser Rechte, ist noch nicht zu Ende. Sie ist es schon deshalb nicht, weil Menschenrechte offensichtlich immer wieder aufs Neue erstritten werden müssen. // Und da sind wir alle gefordert: Wir erleben gerade zutiefst schockierende Tragödien an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dazu können wir doch nicht schweigen, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir müssen uns fragen: Wie begegnen wir jenen, unseren Schwestern und Brüdern menschlicher, die sich aus Leid und Verzweiflung auf den Weg nach Europa gemacht haben und vor unseren Grenzen in akute Not geraten sind? Wie gehen wir mit denen um, die bei uns Schutz suchen? Wie gestalten wir die notwendigen Verfahren schnell und fair? Und ich möchte die Frage hinzufügen: Wie gestalten wir auch die oft notwendige Ablehnung von Asyl menschlicher? Welche Perspektiven bieten wir Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind? Gewiss, wir wissen es doch alle, wir werden nicht alle Menschen aufnehmen können, die auf der Welt in Not sind. Aber wir können mehr tun, und wir können es menschlicher tun. // An einer gesamteuropäischen Verantwortung für die Sicherheit in den Gewässern des Mittelmeers darf kein Zweifel bestehen. Der Schutz jedes einzelnen Menschenlebens geht allem voran. // Wir sollten uns von dem Idealismus, mit dem die Mitarbeiter des Roten Kreuzes ihre Aufgaben angehen, inspirieren lassen. Wir müssen zugleich abwägen, was realistischer Weise möglich ist - auch das gehört zu verantwortungsvollem Handeln. Doch mit Toleranz, ehrlichem Mitgefühl und einem offenen Auge für die Nöte anderer Menschen, ob nah oder fern, wird es uns gelingen, noch weiter auf diesem Weg zu einer friedlicheren und gerechten Welt voranzukommen. // Sie, meine Damen und Herren, bitte ich: Führen Sie Ihre Arbeit zum Wohl der Menschen, die Hilfe benötigen, auch weiterhin mit Energie, mit Hingabe und mit Weitsicht fort. Ich danke allen Haupt- und Ehrenamtlichen für ihren großen Einsatz. // Aber einen Satz muss ich noch hinzufügen: Heute, da dürfen Sie auch einmal stolz sein, in dieser großartigen Institution mitzuarbeiten. Ich danke Ihnen.
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Joachim Gauck
Wer Sie würdigen möchte, hat es eigentlich leicht. Denn Ihr beruflicher Lebensweg ist derartig abwechslungsreich und spannend, dass man nur die einzelnen Stationen aufzuzählen hätte und eine Laudatio hielte sich gewissermaßen von selber. // Aber wer von Roman Herzog spricht, der hat natürlich zuallererst den Bundespräsidenten Roman Herzog vor Augen. Und die Erinnerung an diese fünf Jahre lässt naturgemäß die anderen Stationen des Berufslebens etwas in den Hintergrund rücken. Das Stichwort für ihre Amtszeit haben Sie bei Ihrem allerersten Auftritt schon selber gegeben, als Sie davon sprachen, Sie wollten unser Land" unverkrampft" repräsentieren. Um diesen Begriff gab es zunächst ein wenig Aufregung, da einige schon vermuteten, damit solle etwa ein verharmlosender Umgang mit der deutschen Geschichte gemeint sein. // Das war aber nicht der Fall. Sie zeigten es schon sehr bald mit jenen entschiedenen und unzweideutigen Reden, die Sie zum Gedenken an Krieg und Holocaust kurz nacheinander in Bergen-Belsen, Dresden und zum 8. Mai hielten. Hier wurde jedem klar, dass Sie nicht nur mit einer unmissverständlichen Haltung zur Vergangenheit die Köpfe und Herzen zu bewegen vermochten, sondern auch mit Lehren für die deutsche Gegenwart und Zukunft. // Auf Ihre Initiative und Ihre Entscheidung geht es auch zurück, dass wir den 27. Januar als den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begehen. Sie haben ihn proklamiert und haben gleich zwei Mal zu diesem Anlass vor dem Deutschen Bundestag gesprochen: "Wenn wir den Anfängen wehren wollen", so sagten Sie, "müssen wir unablässig wachsam sein." // Dass "unverkrampft" in diesem Zusammenhang ein besonders faires und gerechtes, aber auch ein entschiedenes Urteil ohne falsche Rücksichten meint, zeigte sich in einer anderen wichtigen Rede, die Sie uns Deutschen mit auf den Weg gegeben haben. Sie nahmen Stellung zur damaligen Debatte um Martin Walser und Ignatz Bubis. Sie bedankten sich zugleich bei beiden Kontrahenten, weil beide notwendige Fragen zur "Zukunft der Erinnerung" gestellt hatten. // Das scheint mir typisch für Sie zu sein: Bei aller Belesenheit, bei aller Hinwendung zur Geschichte, ging es Ihnen doch in erster Linie um die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft. Sie haben darüber nicht nur gesprochen, sondern dadurch dafür gesorgt, dass es seit Ihrer Amtszeit den "Deutschen Zukunftspreis" gibt. Ihr Interesse an Innovationen war stark und wirkte motivierend auf andere. Jedenfalls fanden sich genügend Mitstreiter, um den Preis auszuloben. Inzwischen haben die meisten wohl den Eindruck, den Deutschen Zukunftspreis gebe es schon immer. // So haben Sie mit dem Gedenktag des 27. Januar und mit dem Deutschen Zukunftspreis als Bundespräsident zwei bleibende Einrichtungen ins Leben gerufen, die eine die Vergangenheit, die andere die Zukunft betreffend. // Es gibt aber ein Wort - ein Stichwort -, das wie kein zweites mit Ihnen verbunden wird, nämlich den "Ruck". Es würde zu weit führen, all jene Debatten und Wortmeldungen zu rekapitulieren, die mit Ihrer sogenannten "Ruck-Rede" verbunden sind. // Ich will nur noch einmal daran erinnern, mit welch unerschrockenem Elan und tatsächlich unverkrampfter Direktheit Sie sich damals so ziemlich alle Gruppen und Grüppchen des Landes vorgeknöpft hatten, um allen, wirklich allen Mut und Lust zur Veränderung zu machen - Mut und Lust, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. // Eine der Wirkungen dieser Rede ist nun für uns Nachfolger im Amt die mit voraussagbarer Sicherheit immer wieder aufkommende Frage von Journalisten, ob diese oder jene Rede des Bundespräsidenten denn nun seine "Ruck-Rede" gewesen sei oder wann seine "Ruck-Rede" denn nun endlich komme. So haben Sie mit einem der kürzesten deutschen Wörter einen wirklich langen Schatten geworfen. // Ich sprach gerade von Ihrer Ermutigung, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. Das ist, wenn ich es richtig sehe, überhaupt eine Ihrer intellektuellen Lieblingsbeschäftigungen: nämlich Ihre Zuhörer durch überraschende Ideenverknüpfung und so-noch-nicht-Gedachtes zu verblüffen. Verblüffung aber nicht als Selbstzweck des Neunmalklugen, sondern als Anstoß, sich wenigstens gedanklich, gern aber auch politisch-praktisch auf Neuland zu begeben. // Gerade weil Ihnen intellektuelle Trägheit immer ein Gräuel war und ist, sind Sie zwar Mitglied einer Partei geworden, aber Ihr Denken ließ sich nicht von Parteitagsbeschlüssen leiten. Und wer glaubte, dass Sie im Bundesverfassungsgericht nun einfach die sogenannte konservative Fraktion starkmachten, der sah sich durch manches Urteil, an dem Sie beteiligt waren, zum Beispiel jenes zur Demonstrationsfreiheit in Brokdorf, eines anderen belehrt. Aber vielleicht ist das auch Ihr Begriff von Konservativismus: im Zweifel für die Freiheit - und im Zweifel nicht für die felsenfeste Überzeugung, sondern für das bessere Argument. // Dass Sie Ihre bundespräsidialen Reden zur Kultur unter dem Titel "Freiheit des Geistes" herausgegeben haben, spricht für sich. Und es passt zu ihrer unruhigen und unbequemen Art, wenn sie dort "den Mut, echte Fragen zu stellen" fordern und Geduld anmahnen, wenn es nicht sofort eine Antwort gibt: "Wo keine Fragen gestellt werden", so sagen Sie, "wird nichts wirklich Neues entstehen, da erstarren die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wer auf Fragen verzichtet, der hat im Grunde auch auf neue Lösungen schon verzichtet." // In der Tradition des "echten Fragens" scheint mir auch das Institut zu stehen, das Ihren Namen trägt, das Roman Herzog Institut. Es versteht sich selbst als "Plattform für freies Nach-, Vor- und Querdenken." // Freies Denken in alle Richtungen: Das haben Sie in Ihren politischen Ämtern geübt, aber Sie waren lebenslang weit mehr als ein unverbindlicher Ideenschmied. Sie haben als Universitätsprofessor geforscht und gelehrt, als Minister der Exekutive angehört und als Richter und Präsident des Bundesverfassungsgerichts der Jurisdiktion. Erst dann, sozusagen nach dem akademischen und politischen Schwarzbrot - und nachdem Sie das Amt des Bundespräsidenten im Grundgesetzkommentar sorgfältig bedacht und beschrieben hatten - konnten Sie im Amt des Bundespräsidenten laut denken und frei reden. // Vieles wäre noch zu sagen, zum Beispiel zu Ihrem tatkräftigen Engagement für Europa im Verfassungskonvent, oder auch zu Ihrem jüngsten Appell, Europa neu zu denken, auch zu Ihren von tiefer Sorge getragenen Ausführungen zu Demokratie und Demoskopie. Aber wir wollen ja noch ein bisschen miteinander reden und miteinander essen und trinken. // Deswegen will ich ganz zum Schluss noch sagen: Was mich und viele andere immer sehr beeindruckt hat, das ist Ihre Gabe, auch sich selbst auf den Arm zu nehmen. Mir hat man erzählt, Sie hätten einmal auf die Frage, ob Sie sich erklären könnten, warum Sie bei den Leuten so gut ankämen, geantwortet, Sie könnten sich leider nicht von Ihrem bayrischen Dialekt befreien, und darum hätten die Zuhörer, sobald Sie den Mund aufmachten, schon das Gefühl, sie seien im Urlaub und bekämen deswegen umgehend gute Laune. Das ist nicht nur unverkrampft, das ist - verzeihen Sie: cool. // Unendlich viele Menschen in Deutschland denken gern und dankbar an Ihre Präsidentschaft zurück. Ich gehöre zu ihnen, so wie Sie, meine Damen und Herren, die Sie unserem Ehrengast freundschaftlich verbunden sind. Deshalb erheben wir voller Freude unser Glas auf Bundespräsident Roman Herzog.
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Joachim Gauck
Wie sollte man eine Rede an der Universität, die Johann Wolfgang von Goethe im Namen führt, anders beginnen, als mit dem wohl berühmtesten Seufzer der deutschen Literaturgeschichte: "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemüh'n." // Zugegeben, ein ziemlich überraschungsfreier Start in diese Rede. Und wahrscheinlich hätte ich mir das "ach!" verkniffen, wenn nicht vor kurzem in einem Blog der Brief einer Hochschulabsolventin an ihre Universität zu lesen gewesen wäre, der den Monolog des Faust mehr als 200 Jahre später gewissermaßen in unsere Gegenwart übersetzt: // Ich zitiere: "Liebe Uni, ich habe Dich mir anders vorgestellt, jahrelang hatte ich von dir geträumt. Von Diskussionen, von Austausch, von dem Gefühl der Freiheit . Ich hatte mir vorgestellt, wie wir an der Universität wilde Debatten führen. Keynes! Marx! Weber! Liebe Uni, ich dachte Du wärst ein Ort zum Streiten [ ] Diese Leidenschaftslosigkeit war unerträglich " // Nun, es gab natürlich eine Menge leidenschaftlicher Antworten auf diesen vehementen Klagebrief, dem eigentlich nur noch die Faustische Beschwerde fehlte: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor". Viele stimmten der Autorin zu, viele widersprachen aber auch und berichteten von guten Erfahrungen mit ihrer Universität, ihrem Studium und ihren Professoren. // Ich hatte an dieser Stelle das Gefühl, wonach sehnt sich wohl diese Schreiberin? - hoffentlich nicht etwa nach den wilden Zeiten von 1970, als eine der merkwürdigen Seiten dieser Universität geschrieben wurde. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte der Adorno-Lehrstuhl neu besetzt werden, und man kam auf einen der wohl bedeutendsten Marxismus-Forscher der Zeit, auf Leszek Kolakowski. Aber Kolakowski war gerade von seiner kommunistischen Führung in Polen gemaßregelt worden. Nun passierte das Merkwürdige: An dieser schönen freien Universität gab es linke, linksextreme und marxistische Mehrheiten, die ihn wegen fehlender marxistischer Linientreue abwiesen. Der arme Mann musste dann in die akademische Wüste nach Oxford. Soviel zum Zeitgeist. // Die Universität und ihr Zustand, sie lassen die Gemüter nicht kalt. Und das ist gut so. Denn wenn es um die Bildung kommender Generationen geht, steht immer die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Deshalb sollen Universitäten blühen und gedeihen, und zwar zuallererst im Interesse der Studierenden. Hier in Frankfurt sind es 46.000, die durch bestmögliche universitäre Bildung entscheidende Chancen für einen gelingenden Lebensweg erhalten, die aber auch als gut gebildete und gut ausgebildete Absolventen Leistungen erbringen sollen, die dann für die ganze Gesellschaft wertvoll sind. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche: Wenn es um die Zukunft der Universität geht, steht immer auch die Frage zur Debatte, was eine Gesellschaft von ihren Hochschulen erwartet und was sie deshalb bereit ist, für ihre Hochschulen zu tun. Aber dazu kommen wir später. Nur Gutes! // Die Frankfurter Universität, zu deren 100. Geburtstag ich heute von ganzem Herzen gratuliere, sie scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um dieses Wechselspiel zwischen einer Gesellschaft und ihren Hochschulen ein wenig näher zu beleuchten. Diese Universität ist nämlich aus verschiedenen Gründen herausragend: einer davon ist, das wissen wir fast alle oder alle hier im Raum, ihre Entstehungsgeschichte, die sich von anderen Universitäten nun doch deutlich unterscheidet. Zur Gründung der älteren Universitäten in Deutschland führte meist der Wille eines Landesherrn, den Ruhm seines Fürstentums und manchmal auch seinen eigenen zu mehren und die Wirtschaftskraft des Territoriums zu stärken - letzteres durchaus ehrenwerte Motive. // Zur Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren aber führte nicht Fürsten-, sondern Bürgerwille. Frankfurts Bürger, zumindest hinreichend viele, waren der Überzeugung, dass höhere Bildung das Beste ist, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Als"Bildungsbürger" ein rundum positiver Begriff war, "Bürger" im vollsten und eigentlichen Sinne nur der gebildete Bürger war, da begriff man in Frankfurt, dass die Gründung einer Universität so etwas wie eine selbstverständliche Bürgerpflicht war. Mit Recht sind deshalb die Frankfurter Universität und mit ihr die Stadt Frankfurt stolz darauf, dass diese Hochschule eine Bürgeruniversität ist. // Eine Bürgeruniversität lebt vom Engagement. Das war und ist hier in Frankfurt in reichem Maße zu finden, weil man weiß, was eine Universität, eine sehr gute und sehr gut ausgestattete Universität einer Stadt und einer Gesellschaft geben kann, in geistiger wie auch in materieller Hinsicht. Zum einen hilft Bildung, die Welt zu verstehen und zu deuten, und damit auch, in der Gemeinschaft freier Bürger miteinander zu leben. Zum anderen aber bietet sie auch schlicht handfeste Vorteile. // Machen wir uns nichts vor: Wissenschaftliche Bildung wurde schon vor 100 Jahren auch als ein Wirtschaftsfaktor verstanden. Und das war auch richtig so, das müssen wir nicht bekritteln. Darüber hinaus war aber auch die Vorstellung lebendig, dass Bildung durch Wissenschaft der Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit sei, zum selbständigen Denken, zum Gebrauch des eigenen Verstandes und damit zur Emanzipation, zur Befreiung von alten Autoritäten und von den Zwängen der Natur. // Bildung und Emanzipation, oder anders ausgedrückt, vielleicht umfassender: Bildung und Freiheit gehörten und gehören zusammen. Deshalb finde ich es schön, dass wir heute dieses Gründungsjubiläum hier an dieser Stätte, hier in der Paulskirche feiern, einem der vornehmsten Orte der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung. // Die Geschichte der Universitäten, die Geschichte auch der Frankfurter Universität, ist ein Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und ein Teil der europäischen Wahrheitsgeschichte. // Wahrheit und Freiheit sind Geschwister. So wie Forschung und Lehre Freiheit brauchen, um sich zu entfalten und ungehindert nach Wahrheit zu suchen und zu streben, so ist die politische Freiheit darauf angewiesen, dass die Wahrheit zugelassen, dass um sie gerungen und dass sie unzensiert öffentlich gemacht werden kann. Dass die Wahrheit frei macht, das gilt auch für die Bildung, die uns - gemäß dem berühmten Wort von Immanuel Kant - dazu frei macht, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Anleitung eines anderen. // So sind, seit ihrer Erfindung im Mittelalter, Universitäten urbane Orte der Emanzipation. Einer der ersten, die man als Professor fast im modernen Sinne ansprechen kann, ist der Theologe und Philosoph Petrus Abälard. Er entwickelte am Anfang des 12. Jahrhunderts an der jungen Pariser Universität eine wissenschaftliche Methode, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. // "Sic et non" heißt seine bedeutendste Schrift. Darin wird die Methode der kritischen, wissenschaftlichen Befragung aller Autoritäten erstmals systematisch begründet und durchgeführt. Abälard listet in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter auf, die zuvor einfach unhinterfragte und unhinterfragbare Autoritäten waren. Und er zeigt, dass alleine die vernunftgeleitete Interpretation zur Wahrheit führt. Zitat: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit." // Freiheit von Vorurteilen, kritische Befragung aller Autoritäten, genaue Analyse und Interpretation der Quellen, Vernunft als oberste Instanz: Das ist sozusagen die erste "kritische Theorie" des Abendlandes, und sie bleibt wesensbestimmend für jegliche wissenschaftliche Arbeit, überall bis heute. Dass sie keineswegs leicht durchzusetzen war, zeigt nicht nur, aber auch die Geschichte Abälards, die von Kämpfen, Verurteilungen, Verbannungen geprägt ist. So wird es immer sein: Emanzipation und die Befreiung von Autoritäten, sie werden nie als Geschenk verteilt. Sie müssen immer erkämpft werden. // Die Kontinuität akademischen Denkens, wie es unsere Hochschulen geprägt hat, ist vor allem eine Kontinuität des kritischen Bewusstseins. Was in Paris mit "Sic et non" beginnt, das führt über die großen "Kritiken" des Königsbergers bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. // Wir wissen allerdings auch und wir dürfen das auch heute an einem solchen Festtag nicht verschweigen, dass die Universität nicht automatisch und nicht immer die aufgeklärte Stimme der Vernunft gewesen ist. Nicht immer hat der Geist die wichtigste Rolle gespielt und nicht immer die interesselose Suche nach der Wahrheit. Auch der Ungeist, ja, die bewusste Lüge, Rassismus, Antisemitismus sind in Universitäten in Deutschland zu Hause gewesen. Intellektualität, wir wissen es leider, ist noch kein wirksamer Schutz gegen Barbarei. Das ist eine der bitteren Lehren aus den Erfahrungen des Dritten Reiches. Auch die Frankfurter Universität hat sich in diesen finsteren Jahren sehr schnell und sehr gründlich von ihren jüdischen Lehrenden und Lernenden getrennt. "Säuberung" nannte man das damals. Dabei verdankte sie doch ihre Gründung zu einem guten Teil dem jüdischen Bürgertum dieser Stadt. Und ein großer Teil des akademischen Glanzes speiste sich aus den Leistungen der Juden, die hier lehrten. // Aus allen deutschen Städten übrigens verschwanden mit den Juden doch Säulen der Gesellschaft: Philanthropie, kultureller Glanz, wissenschaftliche Exzellenz, auch ein aufgeklärter Patriotismus, Verluste ohne Gleichen. Und dazu die Gejagten und all die getöteten Menschen. Im Bewusstsein dieser Verluste und des verzögernden Erkennens und des Benennens der Schuld, die zu diesen Verlusten führte, hatte nun die Gesellschaft eine große Aufgabe nach dem Krieg. Und hier in Frankfurt hat die Frankfurter Universität nach dem Dritten Reich und nach dem Krieg versucht, an ihre glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Ich stelle mir das äußerst schwierig vor, in diesen Zeiten, in denen äußere und innere Zerstörung das Land prägte. Aber es gelang. Einige Gelehrte sind sogar aus dem Exil zurückgekehrt, um beim geistigen Aufbau eines besseren Deutschlands von Frankfurt aus mitzuhelfen. Jeder kennt noch die Namen von Adorno und Horkheimer, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelten, die fast zur Überschrift für eine geistige Grundhaltung, ja, für eine wichtige Phase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde. All das war eng mit Frankfurt verbunden. // Die Geschichte der Frankfurter Bürgeruniversität ist eine Erfolgsgeschichte. Aber auf Erfolgen kann man sich nicht ausruhen. Jede Zeit stellt die Universitäten vor neue Herausforderungen, aber auch vor neue Chancen. // Die ungeheure Steigerung der Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, damit auch die steigende Zahl von Dozenten und Professoren, all das hat einen anderen Typ von Universität geschaffen, als man sie noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. // Das ist ein beispielloser bildungspolitischer Sprung: Wo früher eine akademische Laufbahn nur einer schmalen Elite eines Jahrgangs vergönnt war, sind es heute mehr als ein Drittel. Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen, stieg seit Anfang der 1950er Jahre von etwa fünf auf etwa fünfzig Prozent. Ich weiß um die damit verbundenen Probleme, die gelegentlich auch zu besprechen sind. Das will ich aber an dieser Stelle nicht tun. Diese Steigerung hat den Charakter der Hochschulen grundlegend verändert, und sie musste natürlich auch gestaltet und sie musste finanziert werden. Um die Frage der Hochschulfinanzierung wird bis heute gerungen. Viele Dozenten und Professoren klagen, dass sie sich angesichts der Fülle der Aufgaben vom Kern ihrer Profession, von Forschung und Lehre, entfernen, ja, manchmal entfernen müssen. Es galt und gilt also, eine neue Balance zu finden zwischen Forschung und Lehre, zwischen Spitze und Breite. // Eine Herausforderung, die die Gründer der Frankfurter Universität vor 100 Jahren ebenfalls noch nicht in dieser Deutlichkeit vor Augen hatten, war der Beitrag, den Bildung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zum sozialen Aufstieg jeder und jedes Einzelnen leisten kann und soll. Jetzt fällt mein Blick auf unsere Gesellschaft, wie sie sich heute darstellt. Wir leben heute in einer Einwanderungsgesellschaft. Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen verfügt über einen Migrationshintergrund. Das gesamte Bildungssystem muss - sollte ich sagen: müsste - sich dieser Aufgabe stellen. Es gibt inzwischen viele Initiativen, die diese Herausforderung angenommen haben. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit stand ich hier an derselben Stelle, um die Teilnehmer der Start-Stipendien-Initiative zu begrüßen und zu beglückwünschen. Eine große deutsche Stiftung hat der Tatsache Rechnung getragen, dass wir eine besondere Förderung dieser Gruppe von Auszubildenden brauchen, die - mit einem Migrationshintergrund ausgestattet - nicht dieselben Startmöglichkeiten haben wie Kinder aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Wir müssen verstehen, dieser Realität von Einwanderung gerecht zu werden, sie als praktische Aufgabe zu sehen. Und ich bin dankbar für die Initiativen und die Personen, die sich hier auf diesem Feld engagieren, Hilfe in der Sprachförderung oder durch kulturelle Beiträge. Im Sport haben wir inzwischen gelernt, dass jedes Talent Förderung verdient und dass diese Förderung alle bereichert. Die gleiche Einsicht wünsche ich mir auch in der Bildung und in der Wissenschaft: von der Kita über die Schule bis zur Universität. An jeder dieser Stationen können wir noch viel mehr tun, um allen jungen Menschen in diesem Land ein gelingendes Leben zu ermöglichen. // Nach meinem Verständnis kann und muss die Universität eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft spielen, vielleicht sogar eine aktivere Rolle als gegenwärtig schon üblich. Ausländische Studierende und junge Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen Hilfe. In manchen Fällen ist finanzielle Unterstützung notwendig, etwa durch spezielle Stipendienprogramme. Am wichtigsten aber sind Vorbilder und Ermutigung, und zwar schon lange vor der Immatrikulation. Es darf nicht sein, dass die Herkunft eines Menschen - sei es die soziale oder die ethnisch-kulturelle - darüber entscheidet, welche Zukunft dieser Mensch hat! Der Schlüssel, um solche Herkunftsbarrieren zu überwinden, der heißt Bildung. Die Geschichte von Bildung als Emanzipation, sie geht also weiter. Und sie muss weitergehen. // Ist die alte "Bürgeruniversität" auch diesen neuen Herausforderungen gewachsen? Hier in Frankfurt haben Sie eine klare Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben das Prinzip der Bürgeruniversität neu für sich entdeckt, Sie haben sich ganz bewusst zu Ihren Wurzeln bekannt. Denn seit 2008 ist die Goethe-Universität wieder Stiftungsuniversität. Das Modell soll dazu dienen, Hochschulen und Bürgergesellschaft stärker zu verbinden. Es eröffnet großherzigen und weitblickenden Stiftern und Förderern die Möglichkeit, Verantwortung für die Universität zu übernehmen. Der Umbau zur Stiftungshochschule stärkt die Eigenverantwortung der Institution. Die Stiftungshochschule kann zugleich ein Wir-Gefühl und eine Identität entwickeln, die Lehrende und Lernende verbindet und eine starke Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellt. // Es zeigt sich immer wieder: Bildung und wissenschaftliche Spitzenleistung brauchen so eine förderliche Umgebung. In Frankfurt gibt es dieses bildungsfreundliche Umfeld. Kooperation und Austausch sind damit wesentliche Erfolgsfaktoren dieser Universität, die sich nie als Elfenbeinturm, sondern immer als bürgerschaftliches Forum begriffen hat. Auch dazu kann man heute wahrlich gratulieren. // Eines will ich aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das Lob der Förderer und der Stifter und der Ruf nach weiterem bürgerschaftlichen Engagement für gute Bildung darf keineswegs dazu führen, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung im Bildungswesen zurückzieht. Stifter sind keine Ausfallbürgen in Zeiten knapper Kassen - sie schaffen einen Mehrwert. // Es ist darüber hinaus richtig und wichtig, an neue Mittel und Wege zu denken, um Kräfte zu bündeln. So überlegen richtigerweise Bund und Länder seit der vergangenen Legislaturperiode, wie sie den Bildungsföderalismus fortentwickeln können, um den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das wird am Ende allen nutzen: den Studierenden, die attraktive Studienbedingungen vorfinden, den Hochschulen, die ihre Stärken weiter ausbauen können, und unserem Land als Wissenschaftsnation. // Die Konzentration der Kräfte ist auch deshalb wichtig, weil gute Hochschulen heute in einem weltweiten Wettbewerb stehen. In diesem Wettbewerb wird der Frankfurter Universität ihre Besonderheit als Bürgeruniversität, aber auch die öffentliche Unterstützung, zugute kommen. // Europa, so hat neulich der indische Autor Pankaj Mishra geschrieben, habe seine Leuchtkraft verloren. Es habe früher mit seiner kulturellen und intellektuellen Kraft Vertrauen in die Allgemeingültigkeit seiner Erfahrungen und Lösungen erzeugt. Und dieses Vertrauen sei nun heute verlorengegangen. // Ich teile bei weitem nicht alles, was dieser Autor ausführt. Eines aber, was er sagt, halte ich doch für so wichtig, um es hier vorzutragen: Europa, so schreibt er, müsse die eigene kritische und kosmopolitische Tradition wiederbeleben, es brauche Offenheit, Widerspruch und kein homogenes Weltbild. // Wozu uns ein indischer Autor hiermit aufruft, ist doch nichts weiter als die alte und ewig junge Beschreibung von Aufgabe und Wesen der europäischen Universität, die in ihren guten Zeiten immer weltoffen war und die immer bereit war, auch fremde Erfahrungen aufzunehmen. Gehen wir also ans Werk. Gehen wir daran, diese, unsere europäische Universität wieder so lebendig werden zu lassen, dass es intellektuell gleichermaßen Herausforderung und Freude ist, an ihr zu lehren und zu lernen. // Enden wir, wie wir begonnen haben, mit Goethe: Als er im Alter von 16 Jahren daran ging, ein Studium aufzunehmen, gab es diese Frankfurter Universität noch nicht. So ging er nach Leipzig. Von dort schrieb er am 13. Oktober 1765 an seinen Vater: // "Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah!" Das waren noch Zeiten: Professoren in ihrer Herrlichkeit! Das ist irgendwie endgültig passé. Aber könnte es nicht möglich sein, die Universität als Ganzes, als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Stiftern, Förderern und Bildungspolitikern zu einer neuen Herrlichkeit zu führen? Ich wüsste nicht, was ich dieser Goethe-Universität zu Frankfurt am heutigen Tage besseres wünschen könnte.
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Joachim Gauck
Wir feiern heute Abend eine der schönsten Transformationsgeschichten, die unser Land zu erzählen hat. Das Deutschlandradio ist ja nicht nur ein "Kind der Einheit", sondern es ist noch viel mehr. Gewiss ist dieser Sender - mit seinen heute drei Programmen - vor allem ein Produkt der Einheit. Aber gleichzeitig war und ist er aber auch ein Motor der Einheit. Er hat die Überwindung der Teilung begleitet, reflektiert und kommentiert. Und schließlich war das Deutschlandradio auch ein Labor der Einheit. Wie in nur wenigen anderen Institutionen haben hier Menschen mit Ost- und Westbiografien - ganz unterschiedlichen Ost- und Westbiografien übrigens - zusammen etwas Neues geschaffen. // Heute spiegelt das Deutschlandradio mit seinen Hörfunkprogrammen unser geeintes Deutschland in einem größer gewordenen Europa, in einer Welt, die sich beständig verändert. Darum bin ich gern zu Ihnen gekommen! // Es war keine leichte Geburt, damals, vor 20 Jahren. Es waren heikle Fragen zu klären. Etwa: Was soll mit dem Erbe der Hörfunksender der DDR geschehen, die als Instrumente sozialistischer Propaganda diskreditiert waren? Oder: Was tun mit RIAS und Deutschlandfunk, die mit der Vereinigung unseres Landes ihre ursprüngliche Bestimmung verloren hatten? Oder: Wie verfahren mit den Klangkörpern der Sender, das Bläserensemble des DSO haben wir gerade gehört. Die Konflikte von damals kennen viele von Ihnen natürlich weit besser als ich - Sie waren dabei. Ich will das auch nicht alles im Einzelnen nachzeichnen, das kann ich gar nicht, nur so viel will ich andeuten: Es gab auch mächtig Streit unter den Hebammen, jede hätte das Kind gern allein auf die Welt begleitet. // Am Ende stand eine bis heute einzigartige Konstruktion, die unseren Ehrengästen aus dem Ausland, von BBC und Radio France, vermutlich merkwürdig erscheint: Die ARD, das ZDF und alle 16 Bundesländer wurden per Staatsvertrag gemeinsam Träger von zwei Hörfunksendern unter einem Dach, mit Programmauftrag für ganz Deutschland. // Mindestens ebenso bemerkenswert wie das Kind aber waren die Eltern: Es gab ja deren gleich drei - und jedes Elternteil stand seinerseits für ein Stück deutscher Zeitgeschichte. // Dem Deutschlandfunk bin ich bis heute - wie übrigens viele aus dem Osten - von Herzen dankbar. Er war die bundesdeutsche Antwort auf den Deutschlandsender der DDR und hat - wie wenige andere Institutionen - die Verbindung zwischen Ost und West gehalten, als manche Landsleute im Westen schon nichts mehr über die DDR hören wollten. Der Deutschlandfunk folgte diesem Zeitgeist nicht. "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" - diesem Auftrag aus der Präambel des Grundgesetzes fühlte er sich stets verpflichtet. Zugleich aber hat er auch den Blick nach Europa und in die Welt geweitet. // Der Deutschlandfunk sei "Frequenz gewordene Zuverlässigkeit", schrieb die "taz" vor zwei Jahren zum 50. Geburtstag, "so etwas wie der Bundespräsident unter den Radiosendern: politisch engagiert, aber neutral und auf die großen Zusammenhänge bedacht". Das will ich nun nicht kommentieren, nur so viel: In ganz Deutschland - übrigens gerade auch in jenen Regionen, die früher in der DDR als "Tal der Ahnungslosen" bezeichnet wurden - danken es die Hörerinnen und Hörer bis heute mit großer Treue. // Auch der RIAS spielt in meinen Erinnerungen eine wichtige Rolle, eine frühe sogar. Denn damals habe ich dort Ernst Reuter gehört, als Jugendlicher. Ich habe gehört, wie er die Freiheit dieser Stadt beschworen hat, in schwierigen Zeiten. Und in den Tagen um den 17. Juni 1953 hing ich, der 13-Jährige, am Radio und hörte gebannt - wenn das Programm nicht gerade gestört wurde -, was auf den Straßen in Berlin passierte. Der Klang der Freiheitsglocke, bis zuletzt ein Markenzeichen im RIAS, hat sich mir tief eingeprägt - wie schön, dass diese Tradition bis heute fortgeführt wird! // Das dritte Elternteil nun, der Deutschlandsender Kultur, war seinerseits ein Kind der friedlichen Revolution und mit der bin ich nun einmal sehr tief verbunden. Er hatte nach dem Mauerfall Teile des ehemaligen Staatsrundfunks der DDR beerbt und dank der Unterstützung des"Runden Tisches" den 3. Oktober 1990 überlebt. In ihm spiegelt sich der Enthusiasmus der neu gewonnenen Freiheit, auch die Lust aufs Experiment. // RIAS und DS Kultur, diese scheinbar grundverschiedenen Programme aus Ost und West, zum Deutschlandradio Berlin zu vereinen, das war wahrlich eine Herausforderung, ja eigentlich ein Wagnis. Aber war es nicht bei genauem Hinsehen genauso mit der Herstellung der Deutschen Einheit? Und so, wie die Deutsche Einheit im Großen gelang, so gelang auch im Deutschlandradio Berlin die "Einheit im Kleinen": mit Euphorie und Aufbruchstimmung, aber auch mit einer gehörigen Portion Veränderungsskepsis und auch mit mancher Enttäuschung. Es gab Besitzstandsdenken und gegenseitiges Misstrauen - hier einstiger "Klassenfeind", dort Mitarbeiter des Staatsrundfunks. Aber genauso gab es auch Hilfsbereitschaft und Offenheit für das Neue. // Dieser Festakt ist ein schöner Anlass, all jenen "Danke" zu sagen, die damals unvoreingenommen aufeinander zugegangen sind. Die erst einmal gefragt haben: Was ist das für ein Mensch? Oder: Wie finden wir zusammen? Danke an all diejenigen, die gesagt haben: Wie spannend diese Zeiten sind, welch ein Glück, sie gemeinsam gestalten zu dürfen! Die nicht dem Alten nachgetrauert haben, oder auch dem verlorenen Zauber des Übergangs. Es war wichtig und es war wertvoll für das Zusammenwachsen, dass hier an dieser Stelle nicht einfach "abgewickelt" wurde, sondern Ost- und Westdeutsche gemeinsam etwas entwickelt haben, journalistische Standpunkte und Formate nämlich. // So wurde am Berliner Standort die neue Hauptstadt publizistisch vorbereitet, bevor noch Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree kamen. So spiegelt sich im Deutschlandradio, worüber wir uns freuen und worauf wir mit Stolz blicken dürfen - das Glück der Wiedervereinigung, die unsere Nachbarn in je eigener Weise unterstützten und die dann in das Zusammenwirken unseres Kontinents einmündete. // Nun ist das Kind der Deutschen Einheit längst volljährig. Im Herbst feiern wir den 25. Jahrestag der großen Demonstrationen des Bürgermuts im Osten und den darauf folgenden Mauerfall. Heute sortiert hoffentlich niemand mehr im Deutschlandradio nach "Ossis" und "Wessis". Doch der Programmauftrag seiner Sender bleibt bestehen: die Deutschen, die politisch wie regional so unterschiedlich geprägt sind, miteinander zu verbinden. Und das in einem aufgeklärten nationalen Diskurs, wie in einer Vermittlung der verschiedenen kulturellen Traditionen. // Wir sind froh über Deutschlands eigenständige und selbstbewusste Länder. Bei uns, das wissen wir lange, ist kulturell nirgendwo "Provinz". Gerade deshalb braucht unser Land beides: Programme, die regionale Identitäten wiederspiegeln und stärken. Und Programme, die föderale Vielfalt bündeln und hörbar machen, mit Korrespondenten in Schwerin und Stuttgart, in München und Magdeburg. // Unser Land ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zusammengewachsen, sondern es ist zugleich erwachsener geworden. Es ist nicht mehr so viel mit sich selbst beschäftigt, sondern schaut mehr und mehr nach draußen, nach Europa und in die Welt. Auch darum brauchen wir ein nationales Hörfunkangebot, das über Ereignisse in Algier und Ankara, in Kiew und Kopenhagen informiert und seinerseits Deutschlands Stimme im Ausland prägt. // Wer heute die Vielfalt unserer Hörfunklandschaft, zu der die Programme des Deutschlandradios gehören, mit fremden Ohren zu hören versucht, der kann keinen Zweifel daran haben, wie wertvoll eine öffentlich-rechtliche, aber dennoch staatsferne Säule unseres dualen Rundfunksystems ist. Die Rundfunkfreiheit des Grundgesetzes gewährleistet deshalb eine Medienlandschaft, die an Vielfalt ausgerichtet ist und eine politische Instrumentalisierung des Rundfunks verhindert. Für die heute gefeierten Programme bedeutet diese grundgesetzliche Gewährleistung: Was für ein Privileg, bundesweit und werbefrei senden zu dürfen! Welch ein Privileg, nicht auf Quote schielen zu müssen! Welch ein Privileg, noch in ganzen Sätzen Radio machen zu dürfen! // Wie alle Privilegien sind auch diese unter scharfer Beobachtung all jener, die sie nicht genießen, und auch derjenigen, die dafür bezahlen. Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren, besteht darum auch darin, diesen Zustand, in dem Sie sich befinden, kontinuierlich zu begründen. Verlangt sind bisweilen Gratwanderungen: innovativ zu sein und neue Technologien zu nutzen - nicht aber um den Preis der Qualitätsminderung. Themen abseits vom Meinungshauptstrom zu finden - ohne dabei in einer Nische zu versickern. Komplexe Zusammenhänge auch komplex darzustellen - aber nicht zum Umschalten zu verleiten. Und wie wichtig Verantwortungsbewusstsein im Journalismus ist, das sehen wir gerade in Zeiten, in denen manche Medien zu Empörungsverstärkern mutieren, die Urteile fällen, bevor ein Sachverhalt überhaupt geklärt ist. // Die Preise, die Ihre Programme und Ihre Macherinnen und Macher in den letzten Jahren bekommen haben, zeigen: Sie werden Ihrer Verantwortung gerecht. Einen ganz frischen Preisträger haben Sie heute Abend mit der Moderation beauftragt - Kompliment, lieber Herr Scheck! // Es gäbe noch vieles zu sagen. Zu den irrwitzigen Veränderungen, die gerade die Art und Weise der menschlichen Kommunikation revolutionieren. Denken wir mal zurück: Im Jahr des Mauerfalls schrieb ein gewisser Tim Berners-Lee am Kernforschungszentrum CERN ein Papier mit dem lapidaren Titel "Informations-Management - Ein Vorschlag". Heute ist die Welt ohne seine Erfindung, das World Wide Web, kaum noch vorstellbar - und der Globus, den hier, oben auf dem Dach dieses Gebäudes, die Giganten stemmen, bekommt eine ganz neue Bedeutung. // So unmittelbar wie das Radio heute, können auch andere Medien sein. Was bleibt, ist das Bedürfnis nach verlässlicher Information, nach verständlicher Einordnung, nach Orientierung in einer Gegenwart, die viele doch als immer unübersichtlicher empfinden. Und genau dies ist ein ungeheuer wichtiger Auftrag. Denn unsere Demokratie ruht auf der Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, sich in der Unübersichtlichkeit nicht zu verlieren oder zu verirren, sondern sich eine eigene Meinung bilden zu können. // Dem Deutschlandradio, seinen Programmen und allen Verantwortlichen sage ich sowohl als Hörer als auch als Präsident: herzlichen Dank! Sie haben uns in den vergangenen 20 Jahren durch allen Wandel hindurch zuverlässig begleitet. Sie haben mit Verantwortungsbereitschaft Veränderung gewagt. Ich wünsche Ihnen den Mut, sich weiter zu wandeln, wenn es notwendig ist und die Weisheit zu erkennen, wann das notwendig ist. Und damit alles Gute für die kommenden Jahre!
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Peter Glaser
Es ist grundfalsch, das immer in linearer Perspektive zu sehen, als würde das eine vom anderen abgelöst. Das ist so eine Tradition des europäischen Kulturpessimismus: Jede neue Technik wird gleich als lebensbedrohlich für die klassische Buchkultur gesehen. In den fünfziger Jahren war es das Fernsehen, in den Achtzigern wurde der autistische junge Mann mit Walkman konstruiert, und jetzt ist es eben das Internet. Bücher sind in vielerlei Hinsicht sehr praktisch. Außerdem: Die Anmut einer schönen Buchseite wird mir kein Bildschirm jemals liefern können. (Auf die Frage: Lebt auch die Buchkultur weiter?).
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Nikolaus Johann Harnoncourt
Tradition ist eine Überlieferungskette, bei der sich mit jeder Weitergabe ein wenig Schmutz ansetzt.
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Dr. Hans Peter Haselsteiner
Da gibt es z. B. die österreichischen Banken: 300 Jahre Tradition in London. Dann kommt 1984, da geht's dann los. Unsere sitzen dort nicht einmal im gleichen Büro und prügeln sich um die guten Leute, die es nicht gibt. Und wundern sich, wenn nix dabei herauskommt.
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Ralph Hasenhüttl
Ob ich "RB Leipzig" als Markenklub eines Dosengetränks ohne Tradition ein freundliches Image verleihe? Sehen Sie, für einen Trainer ist es überhaupt kein Nachteil, wenn der Verein keine große Tradition hat. Warum? Selten kommt dort einer um die Ecke und erzählt, wie toll alles vor 20 Jahren war.
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Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heer
Es gilt, Tradition und Traditionalismus voneinander zu unterscheiden.
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Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heer
Ohne Tradition kann der Mensch in Gesellschaft nicht leben.