Zitate zu "Erfahrung(en)"
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Joachim Gauck
Manche von Ihnen sind nicht zum ersten Mal hier. Ihnen allen aber sagt Ihr Land heute auf besondere Weise "Dankeschön". Sie erhalten das Silberne Lorbeerblatt, sie erhalten das, was andere Menschen in Form des Bundesverdienstkreuzes für ihre Verdienste erhalten. Das Silberne Lorbeerblatt ist die höchste staatliche Auszeichnung, die wir für unsere Sportler haben. Und viele von Ihnen haben es schon einmal erhalten: nämlich für den dritten Platz bei einer Weltmeisterschaft - das war schon weit mehr als ein Achtungserfolg. // Jetzt aber sind Sie Weltmeister und Sie sind hier, und wir alle freuen uns darüber. Fußballweltmeister - das ist in allen Ländern, die fußballbegeistert sind, das Allergrößte. Kein Mannschaftstitel zählt mehr als dieser, so populär andere Sportarten auch sein mögen. In den fußballbegeisterten Ländern ist es einfach so: Fußballweltmeister zu werden und zu sein, das ist noch einmal etwas ganz Besonderes, das ist nicht zu toppen. Das kann natürlich in unserem Land überhaupt nicht anders sein. // Dass Spieler, Trainer, Betreuer, der Verband Weltmeister geworden sind, das ist ja nur die halbe Wahrheit, die kleinere Hälfte der Wahrheit sogar. Was ist die ganze? Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir uns in Deutschland gefühlt haben, als wären wir alle Weltmeister. Das kann man nun gut oder schlecht finden: Manche wünschen sich, die Gelehrsamkeit oder die besondere Fähigkeit, andere Künste auszuüben, möge dieses allumfassende Wir-Gefühl erzeugen. Aber das erleben wir gerade im Fußball. Darum ist Fußball auch, in diesem Land jedenfalls, immer etwas mehr als nur Sport - eine Gesellschaft lebt auch davon, dass in ihr tatsächlich Wir-Gefühle existieren. Und so eigentümlich es klingt, kann man manchmal, ohne dass man an das Große und Ganze einer Gesellschaft denkt, doch tatsächlich für dieses Große und Ganze der Gesellschaft etwas tun. Das meine ich, wenn ich diese Fähigkeit rühme, ein Wir-Gefühl hier in unserem Land zu erzeugen. // Dies mit dem Wir-Gefühl hat eine lange Geschichte, jedenfalls wenn man älter ist als unsere Helden hier. Ich war 14 Jahre alt, als Deutschland zum ersten Mal Weltmeister wurde, es war in Ihrem Land, Herr Blatter, in der Schweiz - wir Älteren werden das nie vergessen und die Jüngeren kennen das inzwischen auch. 1954 Weltmeister zu werden, das war schon ein großartiges Gefühl. Auch wenn Deutschland getrennt war damals - trotzdem sage ich Deutschland, weil 1954 auch die Menschen in Ostdeutschland sagten,"wir sind Weltmeister geworden". Wir waren damals für jene, die für Deutschland Fußball spielten, und das waren Westdeutsche. Das durfte man im Osten nicht so laut sagen, obwohl es doch von 1956 an eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft gab. // So kam es, dass in all den Jahren, in denen in Deutschland kaum oder nur ganz, ganz vorsichtig von der "Nation" gesprochen wurde, ganz selbstverständlich von der "Nationalmannschaft" die Rede war. Im Fußball war die Erinnerung daran, eine Nation zu sein, immer wach geblieben. // Wenn man so will, markieren die Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaften auch den Weg unseres Landes nach dem Krieg: 1954 wurde allgemein als Chance für Deutschland empfunden, sich internationale Anerkennung zu erwerben, und dass die Deutschen einen Weg entdeckten, auf friedliche und fröhliche Weise ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln. // 1974 entsprach der erfolgsorientierte, vielleicht weniger elegante als pragmatische Fußball, mit dem im Finale Holland geschlagen wurde, der innen- und außenpolitischen Ausrichtung unseres Landes. Übrigens haben damals bei diesem berühmten Turnier bei weitem nicht alle in der DDR den Sieg in der Vorrunde über die Bundesrepublik bejubelt. Denn auch 1974 waren wir im Osten wie selbstverständlich mit Weltmeister geworden, denn - trotz eigener Mannschaft bei der WM und trotz einer eigenen Oberliga - gab es immer so etwas wie "Fußballdeutschland", ein Zusammengehörigkeitsgefühl über die Grenzen hinweg. // Dann 1990: Das war in jeder Hinsicht ein denkwürdiges Jahr. Die Weltmeisterschaft kam genau in dem Moment zwischen der Friedlichen Revolution und dem Vollzug der Deutschen Einheit im Oktober. Was für ein Jahr! Die ganze Welt schaute seit Monaten auf Deutschland und auf das, was sich atemberaubendes bei uns tat. Und der Weltmeistertitel, der letzte, den die alte Bundesrepublik alleine errang, passte genau dazu. // Und nun 2014. Was für ein souveräner Titelgewinn, was für eine überzeugende Leistung, die neidlos auch von allen anderen Gegnern anerkannt wird. Was für eine starke, was für eine sympathische, sportlich und menschlich rundum begeisternde Mannschaft. Zum ersten Mal ist das wiedervereinigte Deutschland Weltmeister geworden: In diesem Jahr feiern wir ein Vierteljahrhundert Friedliche Revolution und im nächsten Jahr ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit - also wieder ein Weltmeistertitel, der einen für unser Land wichtigen Zeitabschnitt markiert. // Wo stehen wir heute? 2014 ist ein Land Weltmeister geworden, das schon seit einiger Zeit zu einem entspannten, zu einem aufgeklärten Patriotismus gefunden hat, sichtbar spätestens seit dem Sommermärchen von 2006. Deswegen dürfen wir uns darüber freuen, dass uns niemand den Titel neidet, und die Welt konnte sich ehrlich mit uns freuen. Das ist vielleicht die schönste Erfahrung mit diesem vierten Weltmeistertitel. Für mich ist dieser vierte Stern ein besonderer. Nicht nur, weil ich mit Ihnen zusammen, Frau Bundeskanzlerin, dabei sein konnte. Aus diesen genannten Gründen leuchtet dieser Stern für mich besonders. Wir haben uns eben erinnern lassen, wie groß die Freude und Begeisterung in unserem Lande war, ohne dass sich überhebliche und falsche Töne in den Vordergrund spielen konnten. Diesmal haben wir mit friedlicher Freude den Titel und Sie, die Mannschaft, gefeiert. // Apropos Mannschaft: Wenn ein Wort in eine andere Sprache übernommen wird, ohne dass man es übersetzt, dann deswegen, weil sich in diesem Wort etwas ganz Besonderes und ganz Eigenes ausdrückt, das man gar nicht richtig übersetzen kann. Und eine solche Übernahme drückt dann oft großen Respekt und tiefe Achtung aus. Darum darf ich Sie und alle im DFB, die für das Auftreten und den Erfolg verantwortlich sind, ruhig mit etwas Dankbarkeit anreden und Ihnen sagen: Sie dürfen auch ein bisschen stolz darauf sein, dass man auf französisch jetzt das deutsche Team einfach "La Mannschaft" nennt und auf englisch "The Mannschaft". // Hier drückt sich Respekt aus vor einer Spielweise, Respekt vor einem Gemeinschaftsgeist und dazu vor einer fein ausgeklügelten Balance zwischen individuellen Stärken und dem Team. Diese in Brasilien unbezwingbare Kombination hat dann zum verdienten Titel geführt. Mit Fußball, der oft meistens begeisternd war, der Freude und Spaß ausgelöst hat und der meilenweit davon entfernt war von einer verbissenen Erfolg-um-jeden-Preis-Mentalität, die meist nur freudlose und verkrampfte und dann auch oft sieglose Spiele bringt. // Wir wissen: Dieser Erfolg kam nicht über Nacht. Er hatte viele Väter. Da ist die seit Jahren verbesserte Jugendarbeit in den Vereinen zu nennen, die konsequente und auch entschiedene und entschlossene individuelle Nachwuchsförderung. Verband und Vereine wissen sich in gemeinsamer Verantwortung - und zwar nicht nur für den Erfolg, sondern auch für die ganze Entwicklung des jungen Menschen. Zu danken haben wir sicher also auch den vielen Jugendtrainern, die überall im Land aktiv sind, die Talente fördern und Talente entdecken. // Was die Mannschaft nun auch schon eine ganze Weile ausmacht, das ist die ganz selbstverständliche Spiegelung der Einwanderungsgesellschaft, die wir längst geworden sind. Was in den Jahren zuvor schon festgestellt werden konnte, das wird nun mit dem Weltmeistertitel erst recht klar: Der Fußball und gerade diese Mannschaft können zeigen, wie die Einheit der Verschiedenen gelingen kann und zu welchen Erfolgen sie dann fähig ist. Wir gehören zusammen und wir gewinnen zusammen - das ist die große Botschaft dieser Mannschaft. // Die Ausschreitungen von Hooligans in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass der Sport einigen Menschen als Feigenblatt für rohe Gewalt dient, manchmal auch für Fanatismus und Hass. Aber unser Sport, nicht nur der Fußball, sondern generell der Sport, kann auch ein Gegenmittel sein und kann eine Atmosphäre fördern, in der Toleranz und Offenheit vorgelebt werden - und zwar von Spielern wie auch von Fans. Deshalb danke ich allen hier im Saal, die sich unermüdlich gegen Rechtsextremismus und Gewaltorgien stark machen. Und vor allem bitte ich die, die das tun, und Sie alle: Setzen Sie dieses Engagement fort! // Liebe Fußballer, wenn Sie mir diese familiäre Anrede erlauben, die Welt schaut auf das, was Sie auf und auch neben dem Platz leisten. Mit dem Titelgewinn 2014 haben Sie sich, Ihren Freunden und Fans, und dem ganzen Land ein bleibendes Geschenk gemacht. Dem großen Buch des Fußballs mit seinen legendären Helden und Mannschaften haben sie ein besonders schönes schwarz-rot-goldenes Schmuckblatt hinzugefügt. // So, wie damals das Team um Fritz Walter und Helmut Rahn 1954 ebenso Geschichte geschrieben hat wie das Team von Franz Beckenbauer und Gerd Müller 1974 und das Team um Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann 1990, gehören auch Sie jetzt in diese ruhmvolle Reihe. // Alle, die die Spiele verfolgt haben, werden sich noch lange an vieles erinnern. An einzelne Szenen, an den Turniersieg, an glückliche Momente, an traurige oder lachende Gesichter, an große Emotionen. Und vielen von uns, die das erlebt haben, werden einige dieser Szenen für immer im Gedächtnis bleiben. Ich freue mich, dass Sie alle hier sind. Und ich freue mich auch nochmal, dass ich persönlich dabei sein durfte, damals in Rio, und die unvergesslichen Augenblicke so hautnah miterleben konnte. Es war und ist schon immer etwas ganz Besonderes, als Bundespräsident Weltmeister zu werden. // Jetzt haben wir genug davon gesprochen, dass wir alle und das Land und somit auch die Bundeskanzlerin, der Bundesinnenminister und der Bundespräsident Weltmeister geworden sind. Indem ich Ihnen, und nicht dem ganzen Land jetzt das Silberne Lorbeerblatt überreiche, wird noch einmal deutlich, wem eigentlich die Ehre gebührt, wer durch seine Leistung zu unser aller Freude Weltmeister geworden ist: Sie sind es, die Mannschaft von 2014, der wir hier und heute noch einmal feierlich, ernsthaft und fröhlich "Danke" sagen: Danke!
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Joachim Gauck
Unsere Welt hat eine Jahrhundertgestalt verloren. Mit Trauer und tiefer innerer Bewegung nehmen wir Abschied. Wir nehmen Abschied von Nelson Mandela. Mandelas Wirken wird für alle Menschen, die sich für Freiheit, für die Menschenrechte und die Menschenwürde einsetzen, Inspiration und Quelle der Ermutigung bleiben. // Wir schauen zurück auf einen beeindruckenden Lebensweg: Was für eine Persönlichkeit! Nelson Mandela verband kämpferischen Elan mit Prinzipientreue, Liebe zur Freiheit mit Achtung vor dem Recht und die Suche nach friedensstiftenden Kompromissen mit dem Beharren auf historischer Wahrheit. // Sein Kampf gegen die Unmenschlichkeit des Apartheidregimes wird unvergessen bleiben. Ein freies Südafrika - das war sein Traum! Er wurde zum Architekten der modernen Regenbogennation. // Unvergessen auch seine Rolle im Versöhnungsprozess: Trotz der demütigenden Erfahrung von 27 Jahren Haft auf Robben Island fand er den Mut und die Kraft, nicht den Weg des Hasses zu gehen. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die er vorschlug, erinnerte die Menschen daran, dass nicht Rache, sondern Wahrheit, Recht und Vergebungsbereitschaft inneren Frieden befördern und Zukunft eröffnen. // Nelson Mandela erkannte, dass auch die Unterdrücker selber der Befreiung bedürfen. In seinen Worten: "Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses". Er war der Überzeugung: "Wenn Menschen zu hassen lernen können, dann können sie auch gelehrt werden zu lieben, denn Liebe empfindet das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil". // Sein Vermächtnis ermutigt Menschen weltweit, den Kampf für Demokratie, Freiheit und Recht nicht aufzugeben. // Ich bin - zusammen mit unzähligen Menschen in Deutschland - dankbar dafür, was Nelson Mandela dieser Welt geschenkt hat.
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Joachim Gauck
Vor genau vier Wochen - einige haben mich schon darauf angesprochen - stand ich auf dieser Bühne. Damals feierten wir den Jahrestag der friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes. Ein festliches Ereignis - ähnlich wie heute. Denn heute ist ein besonderer Tag, weil wir eine Organisation feiern, die nach Jahrzehnten der Teilung in Ost und West 1991 selbst eine Wiedervereinigung erlebt hat. Eine Organisation, die über 150 Jahre hinweg Deutschland und die Deutschen durch ihre so wechselvolle Geschichte begleitet hat: das Rote Kreuz. // Ein rotes Kreuz auf weißem Grund steht für Schutz und Hoffnung in Zeiten der Not. Es steht für den Schutz von Schwachen und Bedürftigen. Es ist eines der bekanntesten - und bemerkenswertesten - Symbole, die es überhaupt gibt. Denn am Anfang der Geschichte der Bewegung des Roten Kreuzes stand das Mitgefühl eines Mannes für das Leid der Soldaten im 19. Jahrhundert, als der Krieg - an der Krim und schließlich in Oberitalien - nach Europa zurückgekehrt war. Die Schlacht von Solferino im Jahr 1859 und ihre über 40.000 Verwundeten und Toten erschütterten den Genfer Geschäftsmann Henry Dunant so sehr, dass er sofort Hilfsmaßnahmen für die verwundeten Soldaten in die Wege leitete. Immer wieder begründete er seinen Einsatz mit den italienischen Worten: tutti fratelli - wir sind doch alle Brüder! Aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl entstand dann eine neue Bewegung, die beispielhaft für das steht, was wir heute humanitäre Hilfe nennen. // Natürlich gab es dafür Vorzeichen und Vorläufer: Dass verwundete Soldaten des Schutzes bedurften, diese Vorstellung hatte sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Aber mit dem Rotkreuzgedanken setzte Henry Dunant entschlossen dem Grauen des Krieges tätige Mitmenschlichkeit und christliche Nächstenliebe entgegen. Die Rotkreuzbewegung steht so nicht nur für die beflügelnde Kraft des Mitgefühls, sondern auch für die Macht eines Einzelnen. Und diese Kraft verbreitete sich aus Genf in ganz Europa und später in der Welt. // Schon im November 1863 - vor 150 Jahren also - wurde der erste Rotkreuzverein auf deutschem Boden, hier in Stuttgart gegründet: der Württembergische Sanitätsverein. Deshalb sind wir hier versammelt, um diese wirkmächtige Idee, die auch in unserem Land sich so kraftvoll entfaltet hat, zu würdigen: Tutti fratelli, alle sind Brüder - e sorrelle, und Schwestern! Natürlich! Ja, gerade hier in Deutschland knüpfte die Rotkreuzbewegung auch an die Tradition der Frauenvereine aus der Zeit der Befreiungskriege an. // In Deutschland hat das Rote Kreuz einen historischen Beitrag dazu geleistet, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft entwickelte, die ihre Geschicke selbst in die Hand nahm und nicht alles dem Staat überließ. Das Deutsche Rote Kreuz steht damit in einer Reihe mit anderen Institutionen des bürgerschaftlichen Engagements, der bürgerschaftlichen Selbstorganisation: den freien Wohlfahrtsverbänden, den freien Gewerkschaften und den eigenständigen Industrie- und Handelskammern. // Gerade mit den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit erkennen wir heute den Wert eines freien zivilen Mitgliederverbands für unsere Demokratie: Nach der "Gleichschaltung", wenn wir an die NS-Zeit erinnern, und auch nach der Freiheitseinschränkung - und ich sage dies trotz einiger innerer Freiräume - in der DDR wurde im wiedervereinigten Deutschland das ganze Rote Kreuz ein aktives Bündnis freier, verantwortungsbewusster Bürger. // Tätig werden, statt untätig zu verharren - die Dinge in die Hand nehmen, statt sie klaglos hinzunehmen - das ist die Handlungsmaxime des Deutschen Roten Kreuzes: Ob in der Pflege oder in der Betreuung älterer Menschen, in der sozialen Arbeit mit Jugendlichen oder in der Beratung von Zugewanderten - das Deutsche Rote Kreuz ist für alle da. Vielen begegnet es bei Erste-Hilfe-Kursen oder bei freiwilligen Blutspenden. Es leistet Notfallhilfe und Katastrophenschutz. Ein Beispiel: Als die Flüsse in diesem Jahr erneut über die Ufer traten und große Teile Deutschlands überschwemmten, da war das Deutsche Rote Kreuz wie selbstverständlich zur Stelle. Damit trägt das Rote Kreuz dazu bei, dass wir uns sicher fühlen. Wir wissen: Ich erhalte Hilfe in der Not oder in der Krise. So stiftet das Deutsche Rote Kreuz gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist zu einem Markenzeichen für die soziale Dimension in unserem Land geworden. // Welchen Stellenwert das Deutsche Rote Kreuz hier hat, das zeigt uns auch die Zahl seiner Mitglieder: fast vier Millionen sind es. Besonders freue ich mich darüber, dass sich so viele Bürgerinnen und Bürger im Roten Kreuz ehrenamtlich engagieren - es sind über 400.000. Ihnen, den Ehrenamtlichen, möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen. Als Bürger helfen Sie Bürgern. Sie sind stets dort zur Stelle, wo Sie gebraucht werden. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt von diesem Engagement. // Das Deutsche Rote Kreuz spielt, auch dies sei erwähnt, eine bedeutende Rolle für das Gesundheits- und Sozialwesen. Es betreibt Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Pflegeheime, steht dabei im wirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen und bringt seine Stimme ein in die Diskussionen, wie unser Sozialstaat auch künftig jedem medizinische Versorgung auf dem Stand der Wissenschaft und menschenwürdige Pflege garantieren kann. Das bedeutet für eine Organisation wie das Rote Kreuz auch besondere Herausforderungen - nämlich das Gemeinnützige und das Ehrenamtliche in eine Balance mit dem Geschäftlichen und den Hauptamtlichen zu bringen. Das setzt ein klares Leitbild voraus und Transparenz - wie Sie beim Deutschen Roten Kreuz sich das vorgenommen haben. Bei Ihrem Wirken für das Soziale in unserem Land helfen Sie so, die ideellen Werte des Deutschen Roten Kreuzes zu bewahren. // Weltweit ist das DRK humanitärer Botschafter unseres Landes. Als ich vor vier Wochen hier in diesem Saal sprach, habe ich auch über die Verantwortung Deutschlands in der Welt geredet. Dass das wiedervereinigte Deutschland als international angesehener und verlässlicher Partner gilt, dazu hat übrigens auch die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes einen wichtigen Beitrag geleistet. // Humanitäre Hilfe - das bedeutet, mit Henry Dunant im Kern daran zu glauben, dass wir im Stande sind, die Welt aus eigener Kraft zu verändern, dass wir diese Welt zu einem besseren Ort machen können. Heute geht es in der internationalen Politik nicht mehr nur um die Sicherheit von Staaten. Es geht auch um die Sicherheit des Einzelnen oder von den Vielen. Das ist eine wesentliche Errungenschaft der Weltgemeinschaft. Und wir sollten es ruhig aussprechen: Es ist ein Erfolg auch unserer Wertegemeinschaft, es ist auch ein Erbe der europäischen Aufklärung in einer Welt, die entgegen mancher Erwartung nach 1989 nicht friedlicher geworden ist. Tatsächlich erleben wir seither doch eine Fülle neuer Konflikte: zunehmend nicht nur zwischen Staaten, sondern innerhalb von Staaten zwischen unterschiedlichen Interessengruppen oder politischen, ethnischen und religiösen Gruppierungen. Einzelne fragile Staaten können die Sicherheit ihrer eigenen Bürger überhaupt nicht mehr gewährleisten. Oftmals haben sie auch gar kein Interesse daran. Dies stellt die weltweite humanitäre Hilfe vor ganz neue Herausforderungen. // Was das bedeutet, das habe ich auch bei meiner Begegnung mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, Peter Maurer, erfahren. Das Internationale Komitee mit seinem ganz besonderen Mandat im Völkerrecht ist ein unverzichtbarer Partner der Bundesregierung in ihrer humanitären Hilfe - denken wir allein an die humanitäre Krise in Syrien. Deutschland gehört dort zu den größten Geldgebern und arbeitet eng mit dem Roten Kreuz zusammen. // In Syrien wie an vielen anderen Brennpunkten müssen wir uns fragen: Wie schaffen wir ein Umfeld, in dem Frieden möglich ist und in dem die Ursachen von Gewalt und damit von individuellem Leid verschwinden oder doch zumindest eingehegt werden? // Durch seine Prinzipien steht das Rote Kreuz beispielhaft für gelungene internationale Kooperation - nicht nur über Landesgrenzen hinweg, sondern auch zwischen den Weltreligionen. Die Rotkreuz- und die Rothalbmondgesellschaften genießen gleiche Rechte und Pflichten und sind in vielen Krisenregionen die einzigen Organisationen, die von allen Konfliktparteien anerkannt und respektiert werden. // Es ist entscheidend, dass das Rote Kreuz - ebenso wie der Rote Halbmond - auch weiterhin als Schutzsymbole akzeptiert werden, die eine unüberwindbare Grenze für Gewalt und Aggression darstellen. Übergriffe, welcher Art auch immer, auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes können wir nicht hinnehmen. Nur wenn dieser Schutz gewährleistet ist, können Hilfsorganisationen ihrer Aufgabe nachkommen. Nur dann kommt eben die Hilfe bei den Bedürftigen an. Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds setzen Leib und Leben aufs Spiel, um anderen Menschen zu helfen und das verdient doch unsere Unterstützung - und zwar unsere volle Unterstützung. // Nun könnte man sagen: Der humanitäre Gedanke, wie wir ihn heute kennen, hat sich in Europa entwickelt, auch weil der Kontinent so zahlreiche und so grausame kriegerische Auseinandersetzungen erlebt hat. Die Staaten Europas haben sich nach diesem schmerzvollen Weg miteinander versöhnt. Humanitäre Hilfe war nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wesentlich für den Aufbau des Kontinents - das Rote Kreuz hat einen besonderen, einen ganz besonders "menschlichen" Beitrag in dieser Zeit geleistet, indem es half, Familien zusammenzuführen, die in den Wirren des Krieges auseinandergerissen worden waren. Ich habe noch in Erinnerung, wie wir, als ich ein Junge war, an den Radiogeräten saßen und ganze Namenslisten verlesen wurden. Der Suchdienst hat hier unglaublich dabei geholfen, Menschen zusammenzuführen, die durch Krieg und Kriegsfolgen auseinandergerissen waren. Aus dieser Zeit erinnere ich mich auch an die humanitären Aktionen, die Deutschland geholfen haben nach dem Krieg, etwa an die Schwedenspeisung im Hungerwinter 1946/47. Mit Lebensmittelpaketen, Kleidung und Schuhen halfen Schweden, Dänen, Schweizer, Briten und viele andere über die Rotkreuzorganisationen den Deutschen in ganz existenzieller Not. Ich möchte nicht, dass Deutschland vergisst, wie ihm einst geholfen wurde. Das war schließlich über die Hilfe für das schiere Überleben hinaus eine große Geste der Humanität, in der sich wieder Henry Dunants kraftvoller Gedanke zeigte: tutti fratelli e sorrelle - wir sind Schwestern und Brüder. An diese Erfahrung der Deutschen möchte ich heute dankbar erinnern. // Humanitäre Hilfe bedeutet, auf der Grundlage von Werten und Überzeugungen zu handeln. In diesem Grundsatz, den man auf Vieles übertragen kann, sehe ich eine Zukunftsaufgabe für uns in Europa. Wir als Europäer müssen unsere eigenen Werte ernst nehmen und ihnen auch in unserem praktischen Handeln folgen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen vor den vielen Versuchen überall in der Welt, den Geltungsbereich der Menschenrechte etwa einzuschränken. Das geschieht beispielsweise unter Verweis auf distinkte "kulturelle Konventionen" oder "traditionelle Werte", die angeblich nicht mit den Menschenrechten übereinstimmen würden. Aber das ist immer unrichtig. Das ist immer taktisches Kalkül von Menschen, die sich davor fürchten, allen Menschen Menschenrechte und Bürgerrechte zuzuerkennen. Es gibt nicht zwei Arten von Menschenrechten. Die Vereinten Nationen haben sich auf eine Liste, auf einen Katalog geeinigt. Deshalb sind Menschenrechte nicht verhandelbar. Sie sind universell. Sie gelten überall und für jede Frau, für jedes Kind, für jeden Mann. // Bei der Durchsetzung der Menschenrechte sind wir ein großes Stück vorangekommen. Doch auch diese Geschichte, die Geschichte dieser Rechte, ist noch nicht zu Ende. Sie ist es schon deshalb nicht, weil Menschenrechte offensichtlich immer wieder aufs Neue erstritten werden müssen. // Und da sind wir alle gefordert: Wir erleben gerade zutiefst schockierende Tragödien an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dazu können wir doch nicht schweigen, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir müssen uns fragen: Wie begegnen wir jenen, unseren Schwestern und Brüdern menschlicher, die sich aus Leid und Verzweiflung auf den Weg nach Europa gemacht haben und vor unseren Grenzen in akute Not geraten sind? Wie gehen wir mit denen um, die bei uns Schutz suchen? Wie gestalten wir die notwendigen Verfahren schnell und fair? Und ich möchte die Frage hinzufügen: Wie gestalten wir auch die oft notwendige Ablehnung von Asyl menschlicher? Welche Perspektiven bieten wir Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind? Gewiss, wir wissen es doch alle, wir werden nicht alle Menschen aufnehmen können, die auf der Welt in Not sind. Aber wir können mehr tun, und wir können es menschlicher tun. // An einer gesamteuropäischen Verantwortung für die Sicherheit in den Gewässern des Mittelmeers darf kein Zweifel bestehen. Der Schutz jedes einzelnen Menschenlebens geht allem voran. // Wir sollten uns von dem Idealismus, mit dem die Mitarbeiter des Roten Kreuzes ihre Aufgaben angehen, inspirieren lassen. Wir müssen zugleich abwägen, was realistischer Weise möglich ist - auch das gehört zu verantwortungsvollem Handeln. Doch mit Toleranz, ehrlichem Mitgefühl und einem offenen Auge für die Nöte anderer Menschen, ob nah oder fern, wird es uns gelingen, noch weiter auf diesem Weg zu einer friedlicheren und gerechten Welt voranzukommen. // Sie, meine Damen und Herren, bitte ich: Führen Sie Ihre Arbeit zum Wohl der Menschen, die Hilfe benötigen, auch weiterhin mit Energie, mit Hingabe und mit Weitsicht fort. Ich danke allen Haupt- und Ehrenamtlichen für ihren großen Einsatz. // Aber einen Satz muss ich noch hinzufügen: Heute, da dürfen Sie auch einmal stolz sein, in dieser großartigen Institution mitzuarbeiten. Ich danke Ihnen.
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Joachim Gauck
Wie sollte man eine Rede an der Universität, die Johann Wolfgang von Goethe im Namen führt, anders beginnen, als mit dem wohl berühmtesten Seufzer der deutschen Literaturgeschichte: "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemüh'n." // Zugegeben, ein ziemlich überraschungsfreier Start in diese Rede. Und wahrscheinlich hätte ich mir das "ach!" verkniffen, wenn nicht vor kurzem in einem Blog der Brief einer Hochschulabsolventin an ihre Universität zu lesen gewesen wäre, der den Monolog des Faust mehr als 200 Jahre später gewissermaßen in unsere Gegenwart übersetzt: // Ich zitiere: "Liebe Uni, ich habe Dich mir anders vorgestellt, jahrelang hatte ich von dir geträumt. Von Diskussionen, von Austausch, von dem Gefühl der Freiheit . Ich hatte mir vorgestellt, wie wir an der Universität wilde Debatten führen. Keynes! Marx! Weber! Liebe Uni, ich dachte Du wärst ein Ort zum Streiten [ ] Diese Leidenschaftslosigkeit war unerträglich " // Nun, es gab natürlich eine Menge leidenschaftlicher Antworten auf diesen vehementen Klagebrief, dem eigentlich nur noch die Faustische Beschwerde fehlte: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor". Viele stimmten der Autorin zu, viele widersprachen aber auch und berichteten von guten Erfahrungen mit ihrer Universität, ihrem Studium und ihren Professoren. // Ich hatte an dieser Stelle das Gefühl, wonach sehnt sich wohl diese Schreiberin? - hoffentlich nicht etwa nach den wilden Zeiten von 1970, als eine der merkwürdigen Seiten dieser Universität geschrieben wurde. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte der Adorno-Lehrstuhl neu besetzt werden, und man kam auf einen der wohl bedeutendsten Marxismus-Forscher der Zeit, auf Leszek Kolakowski. Aber Kolakowski war gerade von seiner kommunistischen Führung in Polen gemaßregelt worden. Nun passierte das Merkwürdige: An dieser schönen freien Universität gab es linke, linksextreme und marxistische Mehrheiten, die ihn wegen fehlender marxistischer Linientreue abwiesen. Der arme Mann musste dann in die akademische Wüste nach Oxford. Soviel zum Zeitgeist. // Die Universität und ihr Zustand, sie lassen die Gemüter nicht kalt. Und das ist gut so. Denn wenn es um die Bildung kommender Generationen geht, steht immer die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Deshalb sollen Universitäten blühen und gedeihen, und zwar zuallererst im Interesse der Studierenden. Hier in Frankfurt sind es 46.000, die durch bestmögliche universitäre Bildung entscheidende Chancen für einen gelingenden Lebensweg erhalten, die aber auch als gut gebildete und gut ausgebildete Absolventen Leistungen erbringen sollen, die dann für die ganze Gesellschaft wertvoll sind. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche: Wenn es um die Zukunft der Universität geht, steht immer auch die Frage zur Debatte, was eine Gesellschaft von ihren Hochschulen erwartet und was sie deshalb bereit ist, für ihre Hochschulen zu tun. Aber dazu kommen wir später. Nur Gutes! // Die Frankfurter Universität, zu deren 100. Geburtstag ich heute von ganzem Herzen gratuliere, sie scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um dieses Wechselspiel zwischen einer Gesellschaft und ihren Hochschulen ein wenig näher zu beleuchten. Diese Universität ist nämlich aus verschiedenen Gründen herausragend: einer davon ist, das wissen wir fast alle oder alle hier im Raum, ihre Entstehungsgeschichte, die sich von anderen Universitäten nun doch deutlich unterscheidet. Zur Gründung der älteren Universitäten in Deutschland führte meist der Wille eines Landesherrn, den Ruhm seines Fürstentums und manchmal auch seinen eigenen zu mehren und die Wirtschaftskraft des Territoriums zu stärken - letzteres durchaus ehrenwerte Motive. // Zur Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren aber führte nicht Fürsten-, sondern Bürgerwille. Frankfurts Bürger, zumindest hinreichend viele, waren der Überzeugung, dass höhere Bildung das Beste ist, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Als"Bildungsbürger" ein rundum positiver Begriff war, "Bürger" im vollsten und eigentlichen Sinne nur der gebildete Bürger war, da begriff man in Frankfurt, dass die Gründung einer Universität so etwas wie eine selbstverständliche Bürgerpflicht war. Mit Recht sind deshalb die Frankfurter Universität und mit ihr die Stadt Frankfurt stolz darauf, dass diese Hochschule eine Bürgeruniversität ist. // Eine Bürgeruniversität lebt vom Engagement. Das war und ist hier in Frankfurt in reichem Maße zu finden, weil man weiß, was eine Universität, eine sehr gute und sehr gut ausgestattete Universität einer Stadt und einer Gesellschaft geben kann, in geistiger wie auch in materieller Hinsicht. Zum einen hilft Bildung, die Welt zu verstehen und zu deuten, und damit auch, in der Gemeinschaft freier Bürger miteinander zu leben. Zum anderen aber bietet sie auch schlicht handfeste Vorteile. // Machen wir uns nichts vor: Wissenschaftliche Bildung wurde schon vor 100 Jahren auch als ein Wirtschaftsfaktor verstanden. Und das war auch richtig so, das müssen wir nicht bekritteln. Darüber hinaus war aber auch die Vorstellung lebendig, dass Bildung durch Wissenschaft der Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit sei, zum selbständigen Denken, zum Gebrauch des eigenen Verstandes und damit zur Emanzipation, zur Befreiung von alten Autoritäten und von den Zwängen der Natur. // Bildung und Emanzipation, oder anders ausgedrückt, vielleicht umfassender: Bildung und Freiheit gehörten und gehören zusammen. Deshalb finde ich es schön, dass wir heute dieses Gründungsjubiläum hier an dieser Stätte, hier in der Paulskirche feiern, einem der vornehmsten Orte der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung. // Die Geschichte der Universitäten, die Geschichte auch der Frankfurter Universität, ist ein Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und ein Teil der europäischen Wahrheitsgeschichte. // Wahrheit und Freiheit sind Geschwister. So wie Forschung und Lehre Freiheit brauchen, um sich zu entfalten und ungehindert nach Wahrheit zu suchen und zu streben, so ist die politische Freiheit darauf angewiesen, dass die Wahrheit zugelassen, dass um sie gerungen und dass sie unzensiert öffentlich gemacht werden kann. Dass die Wahrheit frei macht, das gilt auch für die Bildung, die uns - gemäß dem berühmten Wort von Immanuel Kant - dazu frei macht, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Anleitung eines anderen. // So sind, seit ihrer Erfindung im Mittelalter, Universitäten urbane Orte der Emanzipation. Einer der ersten, die man als Professor fast im modernen Sinne ansprechen kann, ist der Theologe und Philosoph Petrus Abälard. Er entwickelte am Anfang des 12. Jahrhunderts an der jungen Pariser Universität eine wissenschaftliche Methode, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. // "Sic et non" heißt seine bedeutendste Schrift. Darin wird die Methode der kritischen, wissenschaftlichen Befragung aller Autoritäten erstmals systematisch begründet und durchgeführt. Abälard listet in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter auf, die zuvor einfach unhinterfragte und unhinterfragbare Autoritäten waren. Und er zeigt, dass alleine die vernunftgeleitete Interpretation zur Wahrheit führt. Zitat: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit." // Freiheit von Vorurteilen, kritische Befragung aller Autoritäten, genaue Analyse und Interpretation der Quellen, Vernunft als oberste Instanz: Das ist sozusagen die erste "kritische Theorie" des Abendlandes, und sie bleibt wesensbestimmend für jegliche wissenschaftliche Arbeit, überall bis heute. Dass sie keineswegs leicht durchzusetzen war, zeigt nicht nur, aber auch die Geschichte Abälards, die von Kämpfen, Verurteilungen, Verbannungen geprägt ist. So wird es immer sein: Emanzipation und die Befreiung von Autoritäten, sie werden nie als Geschenk verteilt. Sie müssen immer erkämpft werden. // Die Kontinuität akademischen Denkens, wie es unsere Hochschulen geprägt hat, ist vor allem eine Kontinuität des kritischen Bewusstseins. Was in Paris mit "Sic et non" beginnt, das führt über die großen "Kritiken" des Königsbergers bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. // Wir wissen allerdings auch und wir dürfen das auch heute an einem solchen Festtag nicht verschweigen, dass die Universität nicht automatisch und nicht immer die aufgeklärte Stimme der Vernunft gewesen ist. Nicht immer hat der Geist die wichtigste Rolle gespielt und nicht immer die interesselose Suche nach der Wahrheit. Auch der Ungeist, ja, die bewusste Lüge, Rassismus, Antisemitismus sind in Universitäten in Deutschland zu Hause gewesen. Intellektualität, wir wissen es leider, ist noch kein wirksamer Schutz gegen Barbarei. Das ist eine der bitteren Lehren aus den Erfahrungen des Dritten Reiches. Auch die Frankfurter Universität hat sich in diesen finsteren Jahren sehr schnell und sehr gründlich von ihren jüdischen Lehrenden und Lernenden getrennt. "Säuberung" nannte man das damals. Dabei verdankte sie doch ihre Gründung zu einem guten Teil dem jüdischen Bürgertum dieser Stadt. Und ein großer Teil des akademischen Glanzes speiste sich aus den Leistungen der Juden, die hier lehrten. // Aus allen deutschen Städten übrigens verschwanden mit den Juden doch Säulen der Gesellschaft: Philanthropie, kultureller Glanz, wissenschaftliche Exzellenz, auch ein aufgeklärter Patriotismus, Verluste ohne Gleichen. Und dazu die Gejagten und all die getöteten Menschen. Im Bewusstsein dieser Verluste und des verzögernden Erkennens und des Benennens der Schuld, die zu diesen Verlusten führte, hatte nun die Gesellschaft eine große Aufgabe nach dem Krieg. Und hier in Frankfurt hat die Frankfurter Universität nach dem Dritten Reich und nach dem Krieg versucht, an ihre glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Ich stelle mir das äußerst schwierig vor, in diesen Zeiten, in denen äußere und innere Zerstörung das Land prägte. Aber es gelang. Einige Gelehrte sind sogar aus dem Exil zurückgekehrt, um beim geistigen Aufbau eines besseren Deutschlands von Frankfurt aus mitzuhelfen. Jeder kennt noch die Namen von Adorno und Horkheimer, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelten, die fast zur Überschrift für eine geistige Grundhaltung, ja, für eine wichtige Phase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde. All das war eng mit Frankfurt verbunden. // Die Geschichte der Frankfurter Bürgeruniversität ist eine Erfolgsgeschichte. Aber auf Erfolgen kann man sich nicht ausruhen. Jede Zeit stellt die Universitäten vor neue Herausforderungen, aber auch vor neue Chancen. // Die ungeheure Steigerung der Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, damit auch die steigende Zahl von Dozenten und Professoren, all das hat einen anderen Typ von Universität geschaffen, als man sie noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. // Das ist ein beispielloser bildungspolitischer Sprung: Wo früher eine akademische Laufbahn nur einer schmalen Elite eines Jahrgangs vergönnt war, sind es heute mehr als ein Drittel. Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen, stieg seit Anfang der 1950er Jahre von etwa fünf auf etwa fünfzig Prozent. Ich weiß um die damit verbundenen Probleme, die gelegentlich auch zu besprechen sind. Das will ich aber an dieser Stelle nicht tun. Diese Steigerung hat den Charakter der Hochschulen grundlegend verändert, und sie musste natürlich auch gestaltet und sie musste finanziert werden. Um die Frage der Hochschulfinanzierung wird bis heute gerungen. Viele Dozenten und Professoren klagen, dass sie sich angesichts der Fülle der Aufgaben vom Kern ihrer Profession, von Forschung und Lehre, entfernen, ja, manchmal entfernen müssen. Es galt und gilt also, eine neue Balance zu finden zwischen Forschung und Lehre, zwischen Spitze und Breite. // Eine Herausforderung, die die Gründer der Frankfurter Universität vor 100 Jahren ebenfalls noch nicht in dieser Deutlichkeit vor Augen hatten, war der Beitrag, den Bildung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zum sozialen Aufstieg jeder und jedes Einzelnen leisten kann und soll. Jetzt fällt mein Blick auf unsere Gesellschaft, wie sie sich heute darstellt. Wir leben heute in einer Einwanderungsgesellschaft. Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen verfügt über einen Migrationshintergrund. Das gesamte Bildungssystem muss - sollte ich sagen: müsste - sich dieser Aufgabe stellen. Es gibt inzwischen viele Initiativen, die diese Herausforderung angenommen haben. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit stand ich hier an derselben Stelle, um die Teilnehmer der Start-Stipendien-Initiative zu begrüßen und zu beglückwünschen. Eine große deutsche Stiftung hat der Tatsache Rechnung getragen, dass wir eine besondere Förderung dieser Gruppe von Auszubildenden brauchen, die - mit einem Migrationshintergrund ausgestattet - nicht dieselben Startmöglichkeiten haben wie Kinder aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Wir müssen verstehen, dieser Realität von Einwanderung gerecht zu werden, sie als praktische Aufgabe zu sehen. Und ich bin dankbar für die Initiativen und die Personen, die sich hier auf diesem Feld engagieren, Hilfe in der Sprachförderung oder durch kulturelle Beiträge. Im Sport haben wir inzwischen gelernt, dass jedes Talent Förderung verdient und dass diese Förderung alle bereichert. Die gleiche Einsicht wünsche ich mir auch in der Bildung und in der Wissenschaft: von der Kita über die Schule bis zur Universität. An jeder dieser Stationen können wir noch viel mehr tun, um allen jungen Menschen in diesem Land ein gelingendes Leben zu ermöglichen. // Nach meinem Verständnis kann und muss die Universität eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft spielen, vielleicht sogar eine aktivere Rolle als gegenwärtig schon üblich. Ausländische Studierende und junge Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen Hilfe. In manchen Fällen ist finanzielle Unterstützung notwendig, etwa durch spezielle Stipendienprogramme. Am wichtigsten aber sind Vorbilder und Ermutigung, und zwar schon lange vor der Immatrikulation. Es darf nicht sein, dass die Herkunft eines Menschen - sei es die soziale oder die ethnisch-kulturelle - darüber entscheidet, welche Zukunft dieser Mensch hat! Der Schlüssel, um solche Herkunftsbarrieren zu überwinden, der heißt Bildung. Die Geschichte von Bildung als Emanzipation, sie geht also weiter. Und sie muss weitergehen. // Ist die alte "Bürgeruniversität" auch diesen neuen Herausforderungen gewachsen? Hier in Frankfurt haben Sie eine klare Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben das Prinzip der Bürgeruniversität neu für sich entdeckt, Sie haben sich ganz bewusst zu Ihren Wurzeln bekannt. Denn seit 2008 ist die Goethe-Universität wieder Stiftungsuniversität. Das Modell soll dazu dienen, Hochschulen und Bürgergesellschaft stärker zu verbinden. Es eröffnet großherzigen und weitblickenden Stiftern und Förderern die Möglichkeit, Verantwortung für die Universität zu übernehmen. Der Umbau zur Stiftungshochschule stärkt die Eigenverantwortung der Institution. Die Stiftungshochschule kann zugleich ein Wir-Gefühl und eine Identität entwickeln, die Lehrende und Lernende verbindet und eine starke Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellt. // Es zeigt sich immer wieder: Bildung und wissenschaftliche Spitzenleistung brauchen so eine förderliche Umgebung. In Frankfurt gibt es dieses bildungsfreundliche Umfeld. Kooperation und Austausch sind damit wesentliche Erfolgsfaktoren dieser Universität, die sich nie als Elfenbeinturm, sondern immer als bürgerschaftliches Forum begriffen hat. Auch dazu kann man heute wahrlich gratulieren. // Eines will ich aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das Lob der Förderer und der Stifter und der Ruf nach weiterem bürgerschaftlichen Engagement für gute Bildung darf keineswegs dazu führen, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung im Bildungswesen zurückzieht. Stifter sind keine Ausfallbürgen in Zeiten knapper Kassen - sie schaffen einen Mehrwert. // Es ist darüber hinaus richtig und wichtig, an neue Mittel und Wege zu denken, um Kräfte zu bündeln. So überlegen richtigerweise Bund und Länder seit der vergangenen Legislaturperiode, wie sie den Bildungsföderalismus fortentwickeln können, um den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das wird am Ende allen nutzen: den Studierenden, die attraktive Studienbedingungen vorfinden, den Hochschulen, die ihre Stärken weiter ausbauen können, und unserem Land als Wissenschaftsnation. // Die Konzentration der Kräfte ist auch deshalb wichtig, weil gute Hochschulen heute in einem weltweiten Wettbewerb stehen. In diesem Wettbewerb wird der Frankfurter Universität ihre Besonderheit als Bürgeruniversität, aber auch die öffentliche Unterstützung, zugute kommen. // Europa, so hat neulich der indische Autor Pankaj Mishra geschrieben, habe seine Leuchtkraft verloren. Es habe früher mit seiner kulturellen und intellektuellen Kraft Vertrauen in die Allgemeingültigkeit seiner Erfahrungen und Lösungen erzeugt. Und dieses Vertrauen sei nun heute verlorengegangen. // Ich teile bei weitem nicht alles, was dieser Autor ausführt. Eines aber, was er sagt, halte ich doch für so wichtig, um es hier vorzutragen: Europa, so schreibt er, müsse die eigene kritische und kosmopolitische Tradition wiederbeleben, es brauche Offenheit, Widerspruch und kein homogenes Weltbild. // Wozu uns ein indischer Autor hiermit aufruft, ist doch nichts weiter als die alte und ewig junge Beschreibung von Aufgabe und Wesen der europäischen Universität, die in ihren guten Zeiten immer weltoffen war und die immer bereit war, auch fremde Erfahrungen aufzunehmen. Gehen wir also ans Werk. Gehen wir daran, diese, unsere europäische Universität wieder so lebendig werden zu lassen, dass es intellektuell gleichermaßen Herausforderung und Freude ist, an ihr zu lehren und zu lernen. // Enden wir, wie wir begonnen haben, mit Goethe: Als er im Alter von 16 Jahren daran ging, ein Studium aufzunehmen, gab es diese Frankfurter Universität noch nicht. So ging er nach Leipzig. Von dort schrieb er am 13. Oktober 1765 an seinen Vater: // "Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah!" Das waren noch Zeiten: Professoren in ihrer Herrlichkeit! Das ist irgendwie endgültig passé. Aber könnte es nicht möglich sein, die Universität als Ganzes, als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Stiftern, Förderern und Bildungspolitikern zu einer neuen Herrlichkeit zu führen? Ich wüsste nicht, was ich dieser Goethe-Universität zu Frankfurt am heutigen Tage besseres wünschen könnte.
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Richard Gere
Wer im Kopf jung bleibt, dem ist der Rest des Körpers nicht so wichtig. Gibt es etwas, das jünger und frischer wirkt als funkelnde Augen und ein schillernder Geist?
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Edward Gibbon
Wind und Wellen sind immer auf der Seite des besseren Seefahrers.
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Jean Giono
Beim Tabak wie überall kommt man mit Ruhe und Erfahrung am weitesten.
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Uschi Glas
Es ist anstrengend, mein Leben Revue passieren zu lassen.
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Curt Goetz
Manche Leute sprechen aus Erfahrung, und manche aus Erfahrung nicht.
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Jeremias Gotthelf
Um Erfahrungen zu machen, bedarf es der Weisheit.
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Balthasar Gracián y Morales
Man soll wissen, daß es Pöbel überall gibt, selbst im schönen Korinth, in der auserlesensten Familie: Jeder macht ja die Erfahrung in seinem eigenen Hause.
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Dr. Michael Graff
Ich traue Minister Ofner und Oberstaatsanwalt Müller nach den bisherigen Erfahrungen an Politjustiz alles zu . . .
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Sigmund Graff
Eigentlich machen nur schlechte Erfahrungen klug; gute machen sicher.
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Günter Grass
Man muß nicht jede Erfahrung selber machen sollen.
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Mag. Karl-Heinz Grasser
Habe ich jemals auch nur eine eigene Steuererklärung abgegeben ohne einen Steuerberater? Nein, hab' ich nicht - weil ich steuerlich so ungebildet bin. (Outing des Ex-Finanzministers und Magisters der Betriebswirtschaftslehre: "Ich bin steuerlich ungebildet").
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Melanie Griffith
Ich bin jetzt 54, in Hollywood gilt das als antik.
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Franz Grillparzer
Immer fließen meine Tränen, was auch die Erfahrung spricht; für den Mut gibt's ein Gewöhnen, aber für die Sorge nicht.
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Giovanni Guareschi
Die Erfahrung lehrt, daß die Erfahrung nicht das mindeste lehrt.
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Gerhard Gucher
Was sich im Business in den letzten Jahrzehnten verändert hat? Die Handschlagqualität ist aus meiner Sicht gesunken. Früher hat man ein Telefonat geführt und die Vereinbarung hat gegolten. Das ist nicht mehr so. Und in den 50er bis 70er-Jahren hat man Work-Life-Balance auch nicht gekannt. Heute fordert man Home-Office und die 4-Tage-Woche - ob das der richtige Weg ist, lasse ich offen.
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Kurt Guggenheim
Älter werden heißt, auf Grund veralteter Erfahrungen falsche Schlüsse auf die Gegenwart zu ziehen.