Zitate zu "Engagement"
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Melinda Gates
Wir können nicht einfach wegsehen, wenn Kinder sterben, weil ihnen die fundamentalsten Dinge zum Leben fehlen, während wir uns fragen, welchen Flatscreen-Fernseher wir uns anschaffen.
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William Henry "Bill" Gates
Der Erfolg ist ein schlechter Lehrmeister. Er lässt gescheite Leute glauben, sie könnten nicht verlieren.
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William Henry "Bill" Gates
Die Zukunft der Menschheit? Ich kann diese Zukunft kaum erwarten und ich tue mein Möglichstes, um sie zu verwirklichen.
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Joachim Gauck
"Die Freiheit in der Freiheit gestalten". Vor 23 Jahren stand ich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin und ich erinnere mich noch heute an den Klang der Freiheitsglocke, als um Mitternacht die Fahne der Einheit aufgezogen wurde. Es war der Abschluss einer bewegenden Zeit, vom Aufbruch im Herbst 1989 bis zum Tag der Vereinigung - für mich war es die beglückendste Zeit meines Lebens. // Der Freiheitswille der Unterdrückten hatte die Unterdrücker tatsächlich entmachtet - in Danzig, in Prag, in Budapest und in Leipzig. Was niedergehalten war, stand auf. Und was auseinandergerissen war, das wuchs zusammen. Aus Deutschland wurde wieder eins. Europa überwand die Spaltung in Ost und West. // Ich denke auch zurück an die Monate der Einigung, und nicht wenige der Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer sind heute unter uns. Wie viel Bereitschaft zur Verantwortung war damals notwendig, um Deutschland zu vereinen, wie viel Entscheidungsmut, wie viel Improvisationsgabe. Wie vieles war zu regeln: diplomatische und Bündnisfragen, grundsätzliche Weichenstellungen, hochwichtige, aber manchmal auch banale Details. Alle, die damals mitwirkten, waren Lernende, manchmal auch Irrende - aber immer waren sie, waren wir Gestaltende! Der 3. Oktober erinnert uns also nicht nur an die überwundene Ohnmacht. Er zeugt auch von dem Willen, die Freiheit in der Freiheit zu gestalten. // All das klingt nach am heutigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit. // Wir blicken zurück auf das, was wir konnten - dankbar für das Vertrauen, das andere in uns setzten, und stolz auf das, was wir seitdem erreicht haben: Ostdeutsche, Westdeutsche und Neudeutsche, alle zusammen - wir alle hier im Lande, zusammen mit Freunden und Partnern in Europa und der ganzen Welt. Das vereinigte Deutschland, es ist heute wirtschaftlich stark, es ist weltweit geachtet und gefordert. Unsere Demokratie ist lebendig und stabil. Deutschland hat ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das ein hohes Maß an Einverständnis der Bürger mit ihrem Land hervorgebracht hat. Für viele Länder in der Welt sind wir sogar Vorbild geworden - für Menschen meiner Generation fast unvorstellbar. All das ist Grund zur Dankbarkeit und Freude - einer Freude, die uns heute aber vor allem Ansporn sein soll! // Unser Land steht nun wieder vor einem neuen Anfang - so wie alle vier Jahre. Wir hatten eine Wahl. 44 289 652 Deutsche haben darüber abgestimmt, welche Bürgerinnen und Bürger künftig mitbestimmen werden über die Dinge des öffentlichen Lebens. Meine Damen und Herren Abgeordnete hier: Ich wünsche Ihnen Leidenschaft, Ehrgeiz und Achtsamkeit für all das, was Sie gestalten müssen - und was auf uns zukommt. // Denn vieles fordert uns heute heraus. Besonders auf drei große Herausforderungen möchte ich heute eingehen. Entwicklungen, die nicht jederzeit und nicht für jeden im Alltag spürbar sind, weil sie langfristig wirken. Entwicklungen auch, die nicht mehr allein innerhalb der Landesgrenzen zu regeln sind. // Erstens: In einer Welt voller Krisen und Umbrüche wächst Deutschland neue Verantwortung zu. Wie nehmen wir sie an? Zweitens: Die digitale Revolution wälzt unsere Gesellschaft so grundlegend um wie einst die Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine. Wie gehen wir mit den Folgen um? Beginnen möchte ich allerdings - drittens - mit dem demographischen Wandel. Unsere Bevölkerung wird in beispielloser Weise altern und dabei schrumpfen. Wie bewahren wir Lebenschancen und Zusammenhalt? // Tatsächlich wird es immer weniger Jungen zufallen, für immer mehr Ältere zu sorgen. Das schafft eine schwierige Lage, die unsere Kinder und Enkel möglicherweise erheblich einschränken wird. Andererseits entsteht dadurch ein Druck, der manches in Bewegung bringt, ja einfordert, was ohnehin überfällig und richtig ist. Arbeitgeber etwa sind längst dabei, um Zuwanderer zu werben. Oder ältere Menschen erhalten neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zudem nutzen immer mehr Ältere die Zeitspanne nach der Berufstätigkeit für bürgerschaftliches Engagement. Immer mehr Frauen streben ins Arbeitsleben und in Führungspositionen. Dort dürfen es noch mehr werden. Die starren Rollenbilder brechen weiter auf. Neue Vereinbarungen zwischen Mann und Frau, zwischen Familie und Beruf werden möglich. // Wenn die Gesellschaft der Wenigeren nicht eine Gesellschaft des Weniger werden soll, dann dürfen keine Fähigkeiten brach liegen. Wir wissen doch, dass es so viele sind, die mehr können könnten, wenn ihnen mehr geholfen und auch mehr abverlangt würde. Ich meine die formal Geringqualifizierten, die zu fördern und einzubinden sind. Ich meine Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, in denen Bildungsehrgeiz oder Bücher einfach fehlen. // Jeder Einzelne ist doch mit ganz eigenen Möglichkeiten geboren - und es ist ganz egal wo, in Thüringen oder Kalabrien, in Bayern oder in Anatolien. Diese Fähigkeiten gilt es zu entdecken, zu entwickeln und Menschen sogar aus niederdrückender Chancenlosigkeit herauszuholen. Bildung auch als Förderung von Urteilskraft, sozialer Verantwortung und Persönlichkeit, Bildung als Grundlage eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens - das ist für mich ein Bürgerrecht und ein Gebot der Demokratie. // Unser Ziel muss lauten: Niemand wird zurückgelassen, nicht am Anfang und nicht am Ende eines langen Lebens. Angenommen und gestaltet, vermag der demographische Wandel unsere Gesellschaft fairer und solidarischer, aber auch vielfältiger und beweglicher und damit zukunftsfähig zu machen. // Die Bedingungen dafür zu schaffen, ist vor allem Aufgabe der Politik. Die Politik hat sich zwar auf den Weg gemacht, das sehen wir alle - aber oftmals haben wir den Eindruck, sie bewegt sich nicht immer schnell genug. Wie lange ringen wir nun schon um die frühkindliche Betreuung? Oder um die Verbesserung unserer Pflegesysteme? Oder um Modernisierung in der Einwanderungspolitik und des Staatsbürgerschaftsrechts? // Mir ist bewusst - ich müsste noch über viele innenpolitische Herausforderungen sprechen: über die Energiewende, die erst noch eine Erfolgsgeschichte werden muss. Auch über Staatsverschuldung etwa oder die niedrige Investitionsquote, die nicht ausreicht, um das zu erhalten, was vorige Generationen aufgebaut haben. Und darüber, dass noch nicht ehrlich genug diskutiert wird über die Kluft zwischen Wünschenswertem und dem Machbaren. // Viele können in den kommenden Jahren vieles noch besser machen, damit die Jahrzehnte danach gut werden. So wie wir heute davon profitieren, dass wir vor einem Jahrzehnt zu Reformen uns durchgerungen haben, so kann es uns übermorgen nutzen, wenn wir morgen - meine Damen und Herren Abgeordnete! - wiederum Mut zu weitsichtigen Reformen aufbringen. Denn wir wollen doch zeigen und wir wollen es erleben, dass eine freiheitliche Gesellschaft in jedem Wandel trotz aller Schwierigkeiten neue Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und für die Vielen erschließen kann. // Entfaltungsmöglichkeiten! Wie viele haben wir in den vergangenen Jahren hinzugewonnen, durch Internet und durch mobile Kommunikation - ein Umbruch, dessen Konsequenzen die meisten bislang weder richtig erfasst noch gar gestaltet haben. Wir befinden uns mitten in einem Epochenwechsel. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis vom Bürger zum Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich ändern. // Nie zuvor hatten so viele Menschen Zugang zu so viel Information, nie zuvor konnte man weltweit so leicht Gleichgesinnte finden, war es technisch einfacher, Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren. Manchmal denke ich: Hätten wir doch 1989 damals in Mittel- und Osteuropa uns so miteinander vernetzen können! // Die digitalen Technologien sind Plattformen für gemeinschaftliches Handeln, Treiber von Innovation und Wohlstand, von Demokratie und Freiheit, und nicht zuletzt sind sie großartige Erleichterungsmaschinen für den Alltag. Sie navigieren uns zum Ziel, sie dienen uns als Lexikon, als Spielwiese, als Chatraum, und sie ersetzen den Gang zur Bank ebenso wie den ins Büro. // Wohin dieser tiefgreifende technische Wandel führen wird, darüber haben wir einfachen "User" bislang wenig nachgedacht. Erst die Berichte über die Datensammlung der Dienste befreundeter Länder haben uns mit einer Realität konfrontiert, die wir bis dahin für unvorstellbar hielten. Erst da wurde den meisten die Gefahr für die Privatsphäre bewusst. // Vor 30 Jahren, erinnern wir uns, wehrten sich Bundesbürger noch leidenschaftlich gegen die Volkszählung und setzten am Ende das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch. Dafür hat unser Bundesverfassungsgericht gesorgt. Und heute? Heute tragen Menschen freiwillig oder gedankenlos bei jedem Klick ins Netz Persönliches zu Markte. Viele der Jüngeren vertrauen sozialen Netzwerken sogar ihr ganzes Leben an. // Ausgeliefertsein und Selbstauslieferung sind kaum voneinander zu trennen. Es schwindet jene Privatsphäre, die unsere Vorfahren doch einst gegen den Staat erkämpften und die wir in totalitären Systemen gegen Gleichschaltung und Gesinnungsschnüffelei so hartnäckig zu verteidigen suchten. Öffentlichkeit erscheint heute vielen nicht mehr als Bedrohung, sondern als Verheißung, die Wahrnehmung und Anerkennung verspricht. // Sie verstehen nicht oder sie wollen nicht wissen, dass sie so mit bauen an einem digitalen Zwilling ihrer realen Person, der neben ihren Stärken eben auch ihre Schwächen enthüllt - oder enthüllen könnte. Der ihre Misserfolge und Verführbarkeiten aufdecken oder gar sensible Informationen über Krankheiten preisgeben könnte. Der den Einzelnen transparent, kalkulierbar und manipulierbar werden lässt für Dienste und Politik, Kommerz und Arbeitsmarkt. // Wie doppelgesichtig die digitale Revolution ist, zeigt sich besonders am Arbeitsplatz. Vielen Beschäftigten kommt die neue Technik entgegen, weil sie erlaubt, von Hause oder gar im Café zu arbeiten und die Arbeitszeit völlig frei zu wählen. Gleichzeitig wird aber die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt, was ständige Verfügbarkeit bedeuten kann - rund um die Uhr. // Historisch betrachtet, sind Entwicklungssprünge nichts Neues. Im ersten Moment erleben wir sie allerdings ratlos, vielleicht auch ohnmächtig. Naturgemäß hinken dann Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen der technischen Entwicklung hinterher. Wie noch bei jeder Innovation gilt es auch jetzt, die Ängste nicht übermächtig werden zu lassen, sondern als aufgeklärte und ermächtigte Bürger zu handeln. So sollte der Datenschutz für den Erhalt der Privatsphäre so wichtig werden wie der Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Wir wollen und sollten die Vorteile der digitalen Welt nutzen, uns gegen ihre Nachteile aber bestmöglich schützen. // Es gilt also, Lösungen zu suchen, politische und gesellschaftliche, rechtliche, ethische und ganz praktische: Was darf, was muss ein freiheitlicher Staat im Geheimen tun, um seine Bürger durch Nachrichtendienste vor Gewalt und Terror zu schützen? Was aber darf er nicht tun, weil sonst die Freiheit der Sicherheit geopfert wird? Wie muss der Arbeitsmarkt aussehen, damit der allzeit verfügbare Mensch nicht zu so etwas wie einem digitalen Untertanen wird? Wie existieren Familie und Freundschaften neben den virtuellen Beziehungen? Wie können Kinder und Jugendliche das Netz nutzen, ohne darin gefangen zu werden? // Wir brauchen also Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen, die diesem epochalen Wandel Rechnung tragen. // Gerade in Demokratien muss Politik schon reagieren, wenn ein Problem erst am Horizont auftaucht. Und sie muss ständig nachjustieren, sobald die Konturen klarer hervortreten. Das ist übrigens eine ihrer Stärken. // Diese Stärke ist es auch, die wir für eine weitere Herausforderung unserer Zeit brauchen: die europäische Integration. Ohne Zweifel ist das Europa in der Krise nicht mehr das Europa vor der Krise. Risse sind sichtbar geworden. // Die Krise hat Ansichten und Institutionen verändert, sie hat Kräfte und Mehrheiten verschoben. Die Zustimmung zu mehr Vergemeinschaftung nimmt ab. Nicht die europäischen Institutionen, sondern nationale Regierungen bestimmen wesentlich die Agenda. Zudem tauchen in Ländern, denen die Rezession vieles abverlangt, alte Zerrbilder eines dominanten Deutschlands auf. // Dies alles will diskutiert und abgewogen sein. Die gute Nachricht lautet: Ein starkes Band aus Mentalität, Kultur und Geschichte, es hält Europa zusammen. Entscheidend ist aber unser unbedingter Wille zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Europa, so spüren wir jetzt, kennt nicht nur eine Gestalt, auch nicht nur eine politische Organisationsform seiner Gemeinschaft. Da haben wir zu streiten und zu diskutieren über die beste Form der Zusammenarbeit, nicht aber über den Zusammenhalt Europas! Und unsere Einigungen haben wir so zu kommunizieren, dass die europäischen Völker die Lösungen akzeptieren und mittragen können. Es bleibt die Aufgabe der Politik - und als Bundespräsident nehme ich mich da überhaupt nicht aus - das Europa Verbindende zu stärken. // Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten ja eine starke Rolle Deutschlands, aber andere wünschen sie sich. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen. // Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: "Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten." Deutschland hatte, wir wissen es alle, Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte damals eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst ein neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen. // Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, da wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen? // Es gibt natürlich Gründe, diese Auffassung zu widerlegen oder ihr zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, es fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich stark in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren. // Trotzdem, es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste findet sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. // Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zu einem verlässlichen Partner geworden sind. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische Ordnung und unser Sicherheitssystem gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen - das ist unser wichtigstes Interesse. // Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenländer als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen? // Und wenn wir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir dann bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen? // Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen. // Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Und liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei unseren Nachbarn auf Misstrauen stoßen. // Nun habe ich Ihnen an diesem Tag der Deutschen Einheit einiges vorgetragen zur Rolle Deutschlands in der Welt, zur digitalen Revolution und zum demographischen Wandel. Was aber ist die Grundmelodie? Ich sehe unser Land als Nation, die nach Jahrzehnten demokratischer Entwicklung "Ja" sagt zu sich selbst. Als Nation, die das ihr Mögliche und ihr Zugewachsene tut, solidarisch im Inneren wie nach außen. Als Nation, die in die Zukunft schaut und dort nicht Bedrohung sieht, sondern Chancen und Gewinn. // Wir hatten eine Wahl - und wir haben sie weiterhin! Der 3. Oktober zeigt: Wir sind nicht ohnmächtig. Und handlungsfähig, das sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung kennen. Wir sind es bereits, wenn wir Verantwortung annehmen, mit dem, was wir jetzt wissen, jetzt können, gestaltend eingreifen. // Wir, zusammen einzigartig, schauen uns an diesem Festtag um. Wir sehen, was uns in schwierigen Zeiten gelungen ist. Und wir sind dankbar für all das, was gewachsen ist. Und eine Verheißung kann uns zur Gewissheit werden: Wir müssen glauben, was wir konnten. Dann werden wir können, woran wir glauben.
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Joachim Gauck
Es ist schön, hier zu sein. Viele Menschen sind zusammengekommen, um miteinander "Ja" zu sagen zum Alter. Ich gehöre dazu. Ich stehe heute vor Ihnen als Verbündeter: Als einer, der hoffentlich bald zum dritten Mal Urgroßvater wird und der jetzt, mit 72 Jahren, eine neue, schöne und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte und als einer, der Hoffnungen hat und Pläne und so das Motto dieses Seniorentages auf seine ganz eigene Gaucksche Weise mit Leben erfüllt. // Ihr Motto "Ja zum Alter!" gefällt mir. Aber je älter ich werde, desto mehr frage ich mich: Muss das eigentlich extra betont oder gar eingefordert werden? // Dass wir altern, ist ja nicht neu. Seit Menschengedenken fragen wir uns, was das Alter uns bringen wird. Die großen Philosophen und Denker haben sich mit diesem Thema befasst. Platon in seiner "Politeia", Cicero in seinem fiktiven Dialog "Cato der Ältere über das Alter", Jacob Grimm in seiner "Rede über das Alter" oder Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung": Sie alle und noch viele andere haben sich mit dem Alter beschäftigt. // Neu ist, dass so viele von uns um so viel älter werden - eine rasante Veränderung, die seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gange ist. Welch ein Segen für die, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel und sogar Urenkel aufwachsen sehen dürfen! Das war ja in anderen Generationen meistens anders. Historisch neu ist, dass ein materiell abgesicherter Lebensabend heute nicht nur Privileg von ganz wenigen ist. Welch ein Glück, wenn man mit seinem Leben etwas anzufangen weiß! Und welch ein Gewinn, wenn wir mit den geschenkten Jahren auch in der Gesellschaft gut miteinander umzugehen lernen! // Das "wenn" ist wichtig. Denn mit dem Altern verbinden sich auch viele Befürchtungen. Landauf, landab werden sie debattiert: Da ist die Sorge, dass unserer Gesellschaft die Ideen ausgehen, dass die Netze der sozialen Sicherung zerreißen könnten, dass die Kosten für Pflege und Gesundheit explodieren könnten. Da ist auch die Angst vor Armut im Alter, vor Einsamkeit und davor, ein "Pflegefall" zu werden - was für ein schreckliches und eigentlich auch verräterisches Wort - ist das, was einst ein Mensch war, ist das dann nur noch ein "Fall", Pflegefall eben? // So berechtigt die Befürchtungen im Einzelnen sind - wir dürfen uns von ihnen nicht überwältigen und vor allem nicht einschüchtern und nicht ängstigen lassen. Wir sollten sie als Anstoß nehmen, die Dinge anders und besser zu gestalten. Die höhere Lebenserwartung ist uns schließlich auch nicht einfach in den Schoß gefallen, sie ist erarbeitet und manchmal auch erkämpft worden, von Ihnen, von unseren Vorgängern. Sie ist eine Leistung unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir leben gesünder, wir bekämpfen erfolgreich viele Krankheiten, wir arbeiten sicherer. Und so liegt es jetzt auch in unserer Verantwortung, das längere Leben zu einem Gewinn für alle zu machen. Und dort, wo aus Krankheitsgründen von Gewinn nun wahrlich keine Rede mehr sein kann, soll es jedenfalls darum gehen, vom Wert und von der Würde derer zu sprechen, die dieses für sich selbst nicht mehr zu reklamieren vermögen. // Die gewonnenen Lebensjahre, meine Damen und Herren, schenken uns Freizeit und Freiheit: die Freiheit, entlastet von vielen äußeren Zwängen, unsere Fähigkeiten nun weiter zu erproben und vielleicht auch weiterzugeben. Sie geben uns zugleich eine Verantwortung auf: die Verantwortung, unser Leben, solange irgend möglich, selbst zu gestalten und - was besonders schön und erfüllend ist - unsere Fähigkeiten so einzusetzen, dass das individuelle Glück des längeren Lebens auch ein Glück für unser Gemeinwohl bleibt oder wird. "Ja zum Alter!" heißt also für mich: "Ja" zum eigenverantwortlich gestalteten Leben, und "Ja" zu den Veränderungen, die wir dafür als Einzelne und als Gesellschaft anstoßen, manchmal auch ertragen müssen. // So setzen wir uns in Beziehung zur Lebenswelt unserer Enkel und Urenkel. Was wird sie erwarten, wenn sie erwachsen sind? Wie wird es aussehen, ihr Land - wird es ein Land sein, in dem alle Lebensalter menschenwürdig und verantwortlich miteinander zusammenleben? // Eines sollten wir auf jeden Fall begriffen haben: Das Alter gibt es nicht, ebenso wenig wie die Alten. Den einen versagen schon mit Mitte 60 die geistigen oder körperlichen Kräfte, die anderen können noch mit über 90 völlig klar denken und sich selbst versorgen. Wir altern so individuell, wie wir unser Leben führen, und so gut, wie es unser Schicksal und die Umstände im Lande es erlauben. Ebenso wenig gibt es den Rentner oder die Rentnerin. Manche sind kinderlos, andere haben Enkel oder gar Urenkel, die einen sind lebensfroh, die anderen frustriert. Manche können ihren Lebensabend in Wohlstand genießen, andere beziehen Renten, die kaum zum Leben reichen. Manche übrigens trotz eines Lebens voll harter Arbeit. Derartiges dürfte es ja eigentlich in diesem reichen Land gar nicht geben, nicht wahr? Aber schauen wir auf die Gesamtheit. Und da sieht es so aus, dass die heutige ältere Generation die wohlhabendste und gesündeste ist, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Und während ich diesen Satz spreche, frage ich mich zugleich: Ist es eigentlich auch die dankbarste Generation, die es jemals gegeben hat? // Es gilt Anspruch und Wirklichkeit aneinander anzupassen. Unsere Ansprüche an den Ruhestand, unsere Vorstellungen davon, wann er beginnt und was wir mit dieser Zeit anfangen, mit der Wirklichkeit der neuen, hinzugewonnenen Jahre. Das ist unter anderem auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft, nicht nur, aber auch. Es ist nötig, um die Errungenschaft des Ruhestandes auch kommenden Generationen zu erhalten. Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse. // Wir wissen doch, wie glücklich es macht, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und etwas erreichen können. Wenn wir herausholen, was in uns liegt an Kraft, an Potenz, an Verantwortungsfähigkeit. Ich bin überzeugt, dass wir gestalten können und müssen, damit es uns gut geht. Und ich glaube fest daran, dass wir Menschen lern- und begeisterungsfähig sind bis ins hohe Alter hinein - da weiß ich auch die Wissenschaft auf meiner Seite, unter dem Stichwort "Plastizität des Gehirns". Hannah Arendt hat einmal gesagt: "Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod." Das ist die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen sollten! // Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die von uns Älteren erwartet, veränderungsbereit zu sein, die uns die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen auch gibt, und damit die Grundlage, lebenslang tätig zu sein. "Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung", so heißt es schon in Goethes "Wilhelm Meister". Das mag manchem Bild vom Ruhestand konterkarieren. Aber ist es nicht im Grunde viel kraftraubender, wenn man sein Leben nur auf seine Tätigkeit ausrichtet, und mit der dann plötzlich schlagartig aufhört, auf Kosten der Vielfalt an Fähigkeiten, die doch immer noch in uns stecken? Viele geraten dann in eine regelrechte Krise, wenn plötzlich Anerkennung durch Arbeit und Leistung und damit auch durch das soziale Umfeld wegbrechen. // Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können - unter besseren Bedingungen täten das bestimmt heute schon viele. Dazu gehört auch, dass ich mir wünsche, dass wir individuelle Übergänge ermöglichen: zwischen den Lebensphasen und zwischen unterschiedlichen Arten des Tätigseins. Ich wünsche mir, dass wir Älteren eine Chance geben, sich weiter zu entwickeln, ihnen Achtung und Wertschätzung entgegenbringen und ihren Bedürfnissen pragmatisch entgegenkommen. // Gewiss ist es nicht jedem vergönnt, bis ins hohe Alter tätig zu bleiben. Es gibt Krankheiten, Schicksalsschläge. Mancher ist früh ausgelaugt, von lebenslanger harter Arbeit und lebenslangen Strapazen. Deshalb wünsche ich mir auch: Niemandem soll Unzumutbares zugemutet werden. Aber das Zumutbare schon, denn wir alle wissen doch, wir tun einander auch nichts Gutes, wenn wir nichts von uns erwarten. Ich tue mir nichts Gutes, wenn ich nichts von mir erwarte. Ich rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst nicht nur vom Broterwerb, sondern ich rede von Tätigkeit. // Warum, so werden mich meine Urenkelkinder vielleicht später fragen, hattet Ihr früher Euer Zusammenleben eigentlich so eingerichtet, dass den Jüngeren oft die Zeit gefehlt hat - und vielen Alten die Decke auf den Kopf gefallen ist? Und wenn sie so fragen, hätten sie recht. Warum teilen wir all diese Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, nicht besser auf zwischen den Generationen und Geschlechtern - die Sorge um Kinder, die Sorge um ältere Angehörige, die Arbeit im Haushalt, das Engagement in der Nachbarschaft, in der Zivilgesellschaft und in den Ehrenämtern? Je selbstverständlicher wir schon in unseren jungen Jahren zwischen all diesen Sphären wechseln, desto selbstverständlicher wird das auch im Alter sein, nicht nur für uns, sondern auch für andere tätig zu bleiben. Es fasziniert mich immer wieder, dass es dieses abrupte Ausscheiden, wie wir es aus dem Berufsleben kennen, bei denen selten gibt, die ehrenamtlich über lange, lange Jahre aktiv gewesen sind in ihren verschiedenen sozialen Bereichen. Sei es im kirchlichen, im kulturellen, im sportlichen Bereich. Da gibt es diesen Abbruch zwischen tätig und aktiv sein und dann Ruhekissen überhaupt nicht so. Das ist ein guter Hinweis auf die Art und Weise, wie wir aktiv in dieser Lebensphase uns selber finden und unserer Gesellschaft nützen können. // Es gibt im Übrigen viele gute Ansätze für diese Art von Aktivität, von Einbezogensein in das Leben in der Gesellschaft. Immer mehr Bürgerstiftungen organisieren Gemeinsinn und bieten die Plattform, mit seinem Geld und seiner Zeit etwas Sinnvolles für das Allgemeinwohl zu leisten. Es gibt Leihomas oder -opas. Ich weiß nicht, ob die eine Antwort auf jedes Problem sind, aber immerhin will ich mich freuen, dass es sie gibt. Denn vielfach ist es so, dass es gar keine Großeltern an dem Ort gibt, wo die jungen Menschen leben und schaffen. Manche haben auch gar keine Enkelkinder und wünschten sich, gerade einmal dieser Generation begegnen zu können. Wir haben die Senior Experten. Sie teilen ihr Wissen mit den Jüngeren, bringen Erfahrungen ein aus dem weiten Feld ihres Berufslebens, helfen in Gründungsphasen von Unternehmungen oder geben Rat in Krisensituationen einer Firma oder einer beruflichen Karriere. Immer öfter ziehen Ältere und Jüngere, Familien und Singles bewusst zusammen, weil sie einander helfen und ergänzen wollen. In Seniorengenossenschaften - wie der im baden-württembergischen Riedlingen, die es seit über 20 Jahren gibt - helfen die, die noch können und rüstig sind, denen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, gegen ein kleines Entgelt oder nur gegen das Versprechen, dass ihnen selbst später von anderen geholfen wird. Und es spricht vieles dafür, dass wir im mittleren Alter anderen das geben, was wir uns selbst fürs hohe Alter selber dringlich wünschen - Zuwendung, liebevolle Pflege bei weitestgehender Autonomie. // Selbstverantwortung ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Wir wissen aber natürlich auch, dass ein Moment kommen kann, in dem wir nur noch sehr bedingt selbst steuern können, was mit uns passiert. Diese Lebensphase zu akzeptieren als eine, in der die gewohnten Kategorien von Selbstverantwortung, Leistung und Nützlichkeit gar nicht mehr zählen - ja nicht mehr zählen dürfen -, ist eine der großen Herausforderungen, der wir uns zu stellen haben. Hier wird sich die Menschlichkeit unserer alternden Gesellschaft erweisen. // Wir alle werden hier sehr viel neu oder wieder neu lernen müssen, denn es wird nicht gehen ohne die Haltung von Barmherzigkeit - oder nennen Sie es einfach Solidarität miteinander. Und vielen Menschen sind solche Werte in ihren beruflichen Lebensläufen ja leider abhanden gekommen. So müssen wir zum Teil wieder erlernen, was wir eventuell früher einmal gewusst, aber dann verlernt haben bei unseren mannigfachen Formen von Egotrips oder unsozialen Arbeitsverhältnissen. // Eine weitere Herausforderung ist, zukunftsfähig zu bleiben. Früher hieß es, wir müssten die Alten fürchten, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben. Heute fürchten viele eher die Angst der Alten vor dem Neuen. Doch der Unmut der Älteren muss uns nur dann Sorgen machen, wenn er sich aus einer generellen Abneigung jeglicher Veränderungen speist oder, was es auch gibt, aus rein egoistischen Motiven. Die meisten Älteren sind aber nicht einfach nur "Wutbürger". Sie nehmen eine ganz andere und wichtige Verantwortung wahr: kommenden Generationen ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen. Es ist wichtig, ihre Stimme zu hören und abzuwägen: Was ist es wert, bewahrt zu werden gegen den Furor des Fortschritts - und was muss sich wirklich ändern? Und es ist gut, wenn möglichst viele der Älteren interessiert sind und bleiben. Denn wer interessiert ist, ist dazwischen, mittendrin, bringt er sich ein. // Wie gut es gelingt, dieses Interesse wach zu halten, wird auch die Zukunft unserer Demokratie mit beeinflussen. Franz Müntefering, den ich hier vorne sehe, übrigens genau acht Tage älter als ich, hat einmal den schönen Satz gesagt: "Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich." Und damit, meine Damen und Herren, meint er doch sicher, nicht nur für das, was uns jeweils ganz persönlich betrifft, sondern auch für das sind wir verantwortlich, was nach uns kommt, was wir weitergeben an unsere Kinder und Enkel. Ich bin sicher, Sie, meine Damen und Herren, leben genau diese Verantwortung, deshalb sind Sie hier, und deshalb danke ich Ihnen, all den Aktiven in ihrem Verband, Frau Professorin Lehr, und allen, die sich hier so engagiert einbringen. Was wäre unsere Gesellschaft ohne Ihr aktives Mittun. // Mir ist darum nicht bang, meinen Urenkeln sagen zu können: Wir werden das schaffen. Wir werden den Gewinn an Lebenszeit besser teilen - zum Vorteil von Alten und Jungen, zum Vorteil der Gesellschaft wie des Einzelnen. Wir werden das Alter als eine besondere Phase unseres Lebens schätzen und diese verantwortlich gestalten. Wir werden erkennen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Gesellschaft des langen Lebens nur dann bedrohlich sind, wenn zu starr an bisherigen Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festgehalten wird. // Wenn wir viele sind, die so denken, dann wird auch das Loslassen einst, wenn die Kräfte schwinden, uns keine Angst machen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Menschen, die von dem Geschenk des Alters sprechen können. Ich gebe ehrlich zu, ich muss das noch lernen, so zu sprechen. Vor etwas über 100 Jahren schrieb Rainer Maria Rilke an einen Freund: "Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein." Welch eine Eloge auf die Möglichkeiten des Alters! // Wir alle haben nicht die poetischen Gaben eines Rainer Maria Rilke. Aber wir alle hatten und haben einen Schatz an Erfahrungen und Wissen, haben erworbene Geduld und erhaltene Ungeduld, wir haben nicht die alte, aber die uns jetzt mögliche Fähigkeit, Verantwortung zu leben. Und mit alledem kann es uns doch gelingen, unser "Ja zum Alter" zu sprechen, zu leben.
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Joachim Gauck
Es war mir in meinem Leben so wenig gesungen, Präsident zu werden, wie es Karl Carstens geschehen ist. Er kam nicht aus erlauchten Kreisen, sondern hat sich seinen Weg von unten an die Spitze einer freien Republik gebahnt. Und dass ich, der ich vom Osten her so oft sehnsüchtig ins Fernsehen geschaut habe auf das, was sich hier im deutschen Parlament der Freiheit abgespielt hat, an diesem Ort verschiedene Male sprechen kann und nun auch einen Bundespräsidenten würdigen kann, das ist ein besonderes Geschenk der Geschichte. Und es erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. // Wir ehren heute einen Mann, dessen Dienst am Gemeinwesen wir als herausragend empfinden, dessen Einsatz zur Förderung des freiheitlich verfassten Staates vorbildlich war. Deshalb treffen wir uns hier in guter Laune und mit Zuversicht, weil die Erinnerung an eine solche Haltung und an ein solches Wirken uns selber stärken soll. Karl Carstens' pragmatischer Realismus, sein Pflichtbewusstsein und die überzeugende Repräsentanz der Demokratie und unseres Gemeinwesens, das kann uns bis heute Orientierung geben. Als Realist und Pragmatiker war er bekannt. In der Rückschau treten aber auch jene Elemente seines Denkens hervor, die hineinragen bis in unsere Zeit. // Deshalb bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung sehr dankbar, dass sie zu dieser Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Karl Carstens eingeladen hat - ich bin dieser Einladung gern gefolgt. // Denn damit wird uns Gelegenheit gegeben, die Welt des Karl Carstens neu zu betrachten und seine Republik - unsere Republik! - geistig zu durchwandern. Ja, wandern. // Mit dem "Wander-Präsidenten" begeben wir uns also noch einmal zurück in jene Zeit. // Beim Wandern, das spürt man, kommt gelegentlich die Heiterkeit auf, die damals die Zeitgenossen bewegte. Das begann schon während seiner Antrittsrede, da hat er die deutsche Öffentlichkeit darüber informiert, er werde die Republik im Laufe seiner Amtszeit durchwandern, zu Fuß, etappenweise, von der Ostsee bis zu den Alpen. Natürlich gibt es Kritiker, wenn man ein solches Vorhaben ankündigt. // Und die haben dann gleich geschlossen: altbacken, irgendwie provinziell! Wandern: Wer macht das schon? Irgendwie traditionalistisch, dieser Bundespräsident. Und das nach den wilden Zeiten der 1968er Ära. // Dabei hatte Karl Carstens einen interessanten Plan. Einerseits konnte er eine Zeitströmung aufnehmen und sie zugleich auf eine zurückhaltende Weise ein wenig hinterfragen. Die Sorge um die Umwelt hatte damals besonders junge Leute ergriffen. Carstens teilte diese Sorge durchaus, wollte sich aber der generellen Wachstums- und Zivilisationskritik entgegenstellen. Es war natürlich auch das Milieu, aus dem heraus sehr forciert diese Themen angebracht wurden, von der damals sehr jungen grünen Bewegung. Das lag Carstens nicht, das müssen wir ja nicht verbergen. // Er machte sich dann auf seine Weise daran, die Naturschönheiten Deutschlands zu erkunden - zu Fuß. Das war eine ganz eigenartige, als Norddeutscher würde ich sagen, eine gediegene Einladung an das Bürgertum, ein bisschen genauer hinzuschauen, was unser Land eigentlich ausmacht. Damals gab es als Herausforderung das sogenannte "Waldsterben". Während der Wanderungen sah Carstens sich auch Demonstranten gegenüber, die darauf in besonderer Weise aufmerksam machten. Er konnte dann auf seine Weise Gespräche führen, beispielsweise über die Idee, bleifreies Benzin einzuführen. // "Unterwegs", so schrieb eine große Zeitung, "unterwegs ging den Spöttern die Luft aus". Der Bundespräsident war ja mit offenen Augen unterwegs. Und so begegnete er auf seinen Wanderungen nicht nur der Fichte und der Tanne, dem Bärwurz und dem Sonnentau, sondern er begegnete Menschen, und zwar sehr vielen Menschen. Anfangs waren es dutzende, die ihn begleiteten, später hunderte, schließlich tausende. Sie brachten gerne auch Proviant mit und Geschenke oder sangen ihm etwas vor. Das war dann so eine wunderbare Begegnungsmöglichkeit mit den Bürgern. Nach 60 Tagen und 1600 Kilometern war Karl Carstens und seiner Frau Veronica, die ihn oft begleitete, keine Sorge mehr fremd, die es in diesem Land gab. // Bei Amtsantritt hatte der Bremer Karl Carstens eher als norddeutsch-kühl gegolten, vielleicht auch als hanseatisch-streng. Aber nun zeigte sich seine Wärme, auch Herzlichkeit. Er konnte Nähe herstellen und Barrieren niederreißen. Er zeigte - wie auch sein Vorgänger Walter Scheel -, dass sich die Würde des Amtes durchaus mit Bürgernähe verträgt. Eine Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, die muss es nicht geben, das wissen wir alle. Denn in der Demokratie ist jeder Bürger gleich. Und Autorität wird in ihr nur auf Zeit verliehen, durch Wahl. Und im Mittelpunkt, auch das wissen wir, steht immer der Souverän, steht unser Volk. Indem er diese Ansichten seinerseits beglaubigte, hat Karl Carstens ein Amtsverständnis demonstriert, dem sich Bundespräsidenten bis heute verpflichtet fühlen. Sich hinein versetzen in andere, das kann eben nicht jeder. Karl Carstens hat sich diese Qualität erarbeitet, und vielleicht darf er auch damit als ein Wanderer gelten - nicht zuletzt war er auch ein Wanderer zwischen den Welten. // Er bewegte sich zwischen der Privatwirtschaft und Wissenschaft hin und her, zwischen Ministerialbürokratie und Politik. Er war Anwalt und war Diplomat, Hochschullehrer und Parlamentarier, Staatssekretär und dann Bundestagspräsident. Er brachte Erfahrungen aus der einen Sphäre ein in die andere. Sein Werdegang ist ein frühes Beispiel für eine vielseitige Karriere mit bemerkenswertem Ausgang. // Karl Carstens darf auch als Rollenvorbild für den Aufstieg durch Bildung gelten. Und meine Damen und Herren, schauen Sie sich in unserer politischen Landschaft um. Sie werden dieses Modell in den verschiedenen Parteien immer wieder erblicken. Es wäre schlimm, wenn das in unserem Land in Zukunft nicht mehr möglich wäre. Wir arbeiten daran, dass das so bleibt. // Karl Carstens hat seinen Vater nie kennengelernt, er fiel im Ersten Weltkrieg, noch vor der Geburt des Sohnes. Die Mühen der Vaterlosigkeit und drohender sozialer Abstieg prägten Carstens' Jugend. Und doch trugen ihn Talent, Fleiß und Leistungsbereitschaft in eine Bildungslaufbahn, die ihn zur Professur und schließlich ins höchste Amt unseres Staates führte. // Carstens' Karriere begann, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Sein steiler Aufstieg ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel dieser Republik. Er gehörte zu jener Generation, die sich mit den Irrungen und Lasten und vielfältiger Schuld während der NS-Diktatur auseinandersetzen musste. // Und er musste diese Lehren auch für sich selbst ziehen. Als er 1979 für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, nahmen ihm Teile der Öffentlichkeit diesen Lernprozess nicht ab. Sie sahen Carstens' Wahl gar als Gipfel der Verdrängungskunst. Denn er war Mitglied der NSDAP gewesen. Tatsächlich war seinerzeit Druck auf Carstens ausgeübt worden, dass er, um Rechtsanwalt zu werden, in die Partei eintreten müsse. Karl Carstens beugte sich. Und zwar, wie er später formulierte, wider die eigenen "besseren Überzeugungen". Er selbst sagte damals, dass er "verstrickt" gewesen sei. Er benutzte dieses Wort. Eine intensive, zumal öffentliche, Auseinandersetzung mit der objektiv geringen eigenen Verstrickung suchte Carstens nicht. // Als er für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, hatte die notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus inzwischen weite Teile der Bevölkerung erreicht. In diesen Jahren war die Erkenntnis gewachsen, wie viele Personen des öffentlichen Lebens tatsächlich verstrickt gewesen waren, auf die eine oder andere Weise. Es gab auch so etwas wie eine systemische Verstrickung, die vielfach ohne persönliche Schuld war. Aber sie existierte eben, und man war zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Weise bereit, darüber zu sprechen. // Aus heutiger Sicht illustrieren die damaligen Kontroversen, welch schmerzhafte Prozesse notwendig waren, um der Bundesrepublik trotz ihrer Vorgeschichte ein so ansehnliches Profil zu geben. Aus heutiger Sicht können und müssen wir sagen, dass manches damals leichter gewesen wäre, wenn mehr Betroffene früher Schuld auch als Schuld benannt und anerkannt hätten. Aber es zählt zu den großen Errungenschaften der Nachkriegsgeschichte, auf den Trümmern des Totalitarismus, auf tiefer Schuld und moralischem Versagen, ein neues Haus der Demokratie gebaut zu haben. Gewiss konnten nur wenige Repräsentanten der frühen Bundesrepublik auf eine Biographie ohne Verstrickung und ohne Widerspruch zurückblicken. Aber die meisten von denen, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung übernahmen und sich in den demokratischen Parteien engagierten, zogen aus der Erfahrung ihrer Generation einen wichtigen Schluss: dass nur unbedingtes Eintreten für die Demokratie und den Rechtsstaat Deutschland in die Zukunft führen konnte und dass die Würde des Menschen und die Grundrechte des Einzelnen Kern dieser Republik waren. Karl Carstens hat diese Erkenntnis glaubhaft und überzeugend vertreten. Dafür sind wir ihm dankbar. // Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn suchte er keineswegs den Weg in den öffentlichen Dienst. Nach der Befreiung wollte er staatsfern bleiben. Doch er besann sich früh, 1948, nach einem prägenden Erlebnis - einem Studienaufenthalt an der amerikanischen Yale-Universität. // Er traf dort auf den Geist der Freiheit und auf eine Bereitschaft zum Engagement für das Gemeinwohl, die ihn ansteckten und die er mit zurück nach Bremen brachte. Später habilitierte er sich mit einer Arbeit über die amerikanische Verfassung. Schließlich bedurfte es nur noch der Einladung seines Mentors, des Bremer Bürgermeisters Wilhelm Kaisen, einer der Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Er hat sich als Sozialdemokrat übrigens schon frühzeitig für die Westintegration eingesetzt. Machen wir uns dieser Tage immer mal wieder bewusst, wie wichtig es für dieses Land ist, nicht von einem Weg abzuweichen, der so wichtig war für Deutschland, für das geteilte Deutschland wie für das wiedervereinigte. Aus diesem Grunde ist es mir an dieser Stelle eine große Freude, dass ich mit Dankbarkeit den Namen eines solchen wachen und wunderbaren Sozialdemokraten nennen kann. Dagegen hat die Adenauer-Stiftung sicher nichts einzuwenden. // Mit Hilfe von Wilhelm Kaisen fand sich nun also Karl Carstens im Staatsdienst wieder. Fortan und bis zu seinem Tod war er davon überzeugt, dass Deutschlands Platz an der Seite der freien Völker sein müsse. Die Pflege enger Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika stand für ihn "an erster Stelle aller außenpolitischen Überlegungen". Deutschland brauche Freunde und Verbündete, und die finde es im Westen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Denn wer verantwortlich Politik betreiben wolle, dürfe die Macht des großen Nachbarn im Osten nicht außer Acht lassen. Im westlichen Bündnis sah Carstens, so sagte er, die Grundlage für eine "kraftvolle, gesicherte, freiheitlich-demokratische Bundesrepublik". // Für Carstens, den schnell bis zum Staatssekretär aufsteigenden Diplomaten, war die große Aufgabe der Nachkriegszeit die Aussöhnung mit Frankreich. Und er hat dabei aktiv mitgewirkt. Er beschäftigte sich intensiv mit europäischen Fragen, als Wissenschaftler wie als Praktiker. // Nicht zuletzt seine Erfahrungen als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat und seine Teilnahme an den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen machten ihn zum Verfechter der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Am Erfolg der Europäischen Integration hat er großen Anteil: Als die Verhandlungen über den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Oktober 1956 in eine schwere Krise gerieten, waren es Karl Carstens und sein französischer Partner Robert Marjolin, die ein Scheitern der Verhandlungen verhinderten. Der Kontinent, davon war Karl Carstens sein Leben lang überzeugt, müsse mehr sein als nur eine Freihandelszone, er müsse sich auch politisch einigen. // Aus heutiger Perspektive wissen wir besonders zu schätzen, wie Carstens die Westintegration als Bedingung der deutschen Einheit erkannte und betonte. Nach seiner Auffassung hätte die Bundesrepublik ohne Westbindung keine hinreichende Attraktivität auf die Bewohner der DDR ausüben können. Und ohne Westintegration, ohne europäische Integration hätte man nicht Frankreich, nicht Großbritannien und auch nicht die Vereinigten Staaten dem Ziel der Wiedervereinigung verpflichten können. Daraus ergaben sich für Carstens wie selbstverständlich die Prioritäten bundesdeutscher Politik: Freiheit - Frieden - Einheit, in dieser Reihenfolge. // Und so gehörte es für den Bundespräsidenten Carstens zu den unverzichtbaren Elementen eines jeden Staatsbesuches, die Gesprächspartner daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirkt, "in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Besuchern aus den entferntesten Gegenden der Welt - wie etwa dem Königspaar von Tonga - präsentierte er dieses Zitat aus dem "Brief zur Deutschen Einheit". // Der Logik der frühen Ostpolitik mochte er nicht folgen. Nachdem die Ostverträge dann aber abgeschlossen waren, hat er gleichwohl erkannt, dass Deutschland der Wiedervereinigung ohne eine Entspannung des Verhältnisses zu den Staaten des Warschauer Paktes nicht näher kommen würde. Aus heutiger Sicht war Karl Carstens ein Deutschland- und Außenpolitiker, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass ein Land entstand, in dem wir bis heute in Freiheit, in Frieden und in Wohlstand leben können. // Er sah sein Amt als Bundespräsident als parteiferne Instanz an, übte seine verfassungsrechtlichen Pflichten mit Bedacht aus und machte gleichzeitig deutlich, dass er sich seiner amtsspezifischen Autorität bewusst war. So ließ er den Bundeskanzler einmal vertraulich wissen, dass er die Entlassung eines Ministers nicht vornehmen werde, weil er sie für ungerechtfertigt hielt. // Die wichtigste innenpolitische Entscheidung seiner Präsidentschaft hatte er Anfang 1983 zu treffen, als es darum ging, den Bundestag vorzeitig aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Bundeskanzler Kohl wollte - nach der Übernahme der Kanzlerschaft - seine Bundesregierung durch Bundestagswahlen grundsätzlich neu legitimieren lassen und hatte deshalb im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt - mit dem Ziel der Bundestagsauflösung. // Wie geplant, ging dann die Abstimmung verloren. // Es war nicht nur Carstens' wichtigste, es war - wie er selber sagte - seine "schwerste Entscheidung". Er beriet sich genau 21 Tage lang, so lange, wie es das Grundgesetz höchstens erlaubt. Er wusste, dass seine Entscheidung politisch und rechtlich umstritten sein würde, egal wie sie ausfiel. Er wollte sie als ordentlicher Professor des Staatsrechts vor seiner Zunft vertreten können. Und zugleich ahnte er, dass seine Entscheidung im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht angefochten werden würde, als erstes Verfahren dieser Art für einen Bundespräsidenten. // Damals, im Übergang von der SPD-FDP-Koalition zur Koalition aus Union und FDP, ging es um eine prinzipielle Frage: ob nämlich das Instrument der Vertrauensabstimmung, bewusst von der Regierungsmehrheit eingesetzt und doch in einer absehbaren Niederlage für den Bundeskanzler endend, zu einer Neuwahl führen könne und dürfe. Kritiker sahen darin eine "unechte" Vertrauensabstimmung, eine Trickserei, in der ein Vertrauensentzug nur vorgetäuscht werde. // So entstehe in der Praxis ein verfassungsfremdes Selbstauflösungsrecht des Parlaments. // Karl Carstens entschied sich für die Auflösung des Bundestages. In seiner Begründung sagte er, er habe nicht feststellen können, "aus welchen Gründen der einzelne Abgeordnete dem Bundeskanzler die Zustimmung versagt" habe. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die vom Grundgesetz gewollte und politisch zu erstrebende stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr zu erreichen sei. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte später Carstens' Rechtsauffassung. Diese Bestätigung war für ihn essentiell, bekannte er doch später, er wäre zurückgetreten, hätte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung nicht bestätigt. Diese Begebenheit ist bis heute bedeutsam, weil sie die Bedingungen von Misstrauensvoten und Neuwahlen zu klären half. Karl Carstens` umsichtiges Handeln im Sinne der Verfassung trug dazu bei, die Stabilität und die Regierungsfähigkeit des Landes zu sichern, zwei Prinzipien, die in der Hierarchie seiner politischen Wertmaßstäbe ganz weit oben standen. // Karl Carstens wurde auch deshalb zum respektierten Bundespräsidenten, weil er den scharfzüngigen Parteipolitiker, der er gewesen war, hinter sich ließ. Er nutzte sein Amt, um zu integrieren. Im Laufe seiner Amtszeit überzeugte er viele, die seine Wahl einst mit Skepsis betrachtet hatten. Respekt und Zuneigung aus allen Schichten der Bevölkerung kamen ihm entgegen. Daran hatte auch seine Gattin Veronica Carstens großen Anteil. Ich erinnere heute gerne an Sie. Während seiner Präsidentschaft arbeitete sie weiter als Ärztin und nahm dabei viele Sorgen und Nöte der Menschen auf. Gemeinsam gründeten sie die Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung. // Auch als Schirmherrin der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft erwarb sich Veronica Carstens große Verdienste. Wir dürfen uns heute auch vor ihr verneigen. // Und noch eines wollen wir nicht vergessen: Karl Carstens schöpfte aus dem christlichen Glauben und gab seine Kraft für die Idee des Gemeinwohls. Und beides hängt miteinander zusammen - so jedenfalls sehe ich das. // Die Quintessenz seines Denkens hinterließ er wenige Jahre vor seinem Tod in einer Rede in Dresden: "Wer frei ist, trägt Verantwortung, wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, wer Ansprüche stellt, vor allem Ansprüche an den Staat, muss auch bereit sein, Leistung zu erbringen." Hinter diesen Sätzen können wir uns auch heute noch versammeln. // Verneigen wir uns also vor der Leistung eines deutschen Demokraten, und halten wir sein Andenken durch unsere Haltung und durch unsere Handlungen als Staatsbürger in Ehren.
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Joachim Gauck
Freiheit ist immer Freiheit für etwas und zu etwas. Die Freiheit der Erwachsenen bedeutet Verantwortung.
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Joachim Gauck
Gott schuf uns, damit wir Verantwortung übernehmen.
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Joachim Gauck
Herzlich willkommen Ihnen allen! Sie, verehrte Frau Springer, sind schon einmal aus feierlichem Anlass hierher ins Schloss Bellevue gekommen: 2008 - zur Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern. Heute - 2012 - könnte man beim Namen Springer gleich an mehrere große Gründe denken. 100 Jahre Axel Springer habe ich im Mai bei einer Revue der ganz besonderen Art erleben dürfen. Die Bild-Zeitung feierte außerdem ihren Sechzigsten. Aber was für uns hier am allerwichtigsten ist: Auch Sie, verehrte Frau Springer, hatten im August einen runden Geburtstag. Es sind diese - Ihre - Jahrzehnte, die wir mit dem heutigen Ehrenessen würdigen wollen. // Ich erinnere mich noch: Als Ihre Biografie erschien, hat die ZEIT getitelt: "Die Märchenprinzessin" - auf den ersten Blick eine sehr schöne, auf den zweiten Blick auch eine sehr sprechende Überschrift. Denn wir alle wissen, dass Prinzessinnen nicht nur gesegnet sind mit guten Eigenschaften und mit der Aussicht auf großes Glück, sondern dass ihnen das Schicksal oft harte Prüfungen auferlegt. Ein großmächtiges Medienimperium kann reich, aber auch reich an Sorgen sein. Die Öffentlichkeit hat sehr genau beobachtet, wie Sie nach dem Tod Ihres Mannes das eigene Dasein und das Ihres Unternehmens in die Hand genommen haben. Ihr Mut und Ihre Durchsetzungskraft haben vielen Menschen Respekt abverlangt. Als bei den großen Springer-Feiern in diesem Jahr die beiden Namen Axel und Friede so oft in einem Atemzug genannt wurden, schwang große Anerkennung mit. Es ging um weit mehr als ein märchenhaftes Paar. Es ging um ein Paar, das buchstäblich deutsche Geschichte geschrieben hat - bzw. hat schreiben lassen. // An dieser Stelle könnte ich jetzt über die Verantwortung der Medien als Multiplikatoren und "Macher" von Zeitgeschichte, auch Macher von Meinungen referieren. Ich könnte - wie Henryk M. Broder neulich - der Versuchung nachgeben und eine Laudatio auf Friede Springer mit einem umfassenden Exkurs zur aktuellen politischen Agenda verbinden. Oder ich könnte, wie es so oft geschieht, ein einzelnes Leben in seinen Höhen und Tiefen stellvertretend für ein großes gesellschaftliches Thema betrachten. // Doch damit würde ich der Idee der Ehrenessen in Bellevue nicht gerecht werden. Sie sind nämlich einer besonderen Persönlichkeit und ihren Gästen gewidmet. Deshalb spreche ich nur so lange, wie es unser Koch mit seinem Menüplan vereinbaren kann. Und ich spreche nicht über die Produkte des Springer-Konzerns, die mitunter heftig umstritten sind - das ist Teil unserer demokratischen Meinungsvielfalt -, sondern über eine Frau und ihre unbestreitbaren Verdienste im Leben. Ich bleibe also bei dem Menschen, um den es uns heute geht: Friede Springer. // Man lobt und schätzt Sie in diesem Jubiläumsjahr immer wieder als erfolgreiche Unternehmerin. Ich möchte vor allem Anerkennung für Ihr Wirken als Stifterin und in Ihren vielen Ehrenämtern ergänzen. Sie haben zum Beispiel den Einsatz Ihres Mannes für die deutsch-israelische Verständigung auf eine Weise fortgesetzt, die Ihnen schon mit dem Leo-Baeck-Preis und jüngst mit der Mendelssohn-Medaille gedankt wurde. Sie fördern Wissenschaft, Forschung und Kultur, besonders gern junge Talente auf ihrem Weg. Drei Springer-Stiftungen und ungezählte Kuratorien, Vereine und Initiativen dürfen mit Ihrer Unterstützung rechnen. Sie sind großzügig, wann immer Ihr guter Name oder eine gute Summe der guten Sache dienen können. // Was mich besonders beeindruckt: Wenn Sie zu diesem Engagement befragt werden, stellen sie es fast als Selbstverständlichkeit dar, als eine Verpflichtung, Selbstverpflichtung, die ein großes, erfolgreiches Unternehmen in unserer Gesellschaft wahrnimmt. Diese Haltung ist noch wertvoller als jeder Euro. Wir brauchen beides: Den Staat, der im Sinne unseres Grundgesetzes ein "demokratischer und sozialer Bundesstaat" sein soll und soziale Entfaltung jedes Bürgers sichert. Und wir brauchen den Spielraum für privates, soziales Engagement. Wie mühsam es ist, sich solchen Spielraum - mental wie finanziell - zurückzuerobern, wenn er einmal verloren ging, sehen wir in Ostdeutschland. Deshalb bedeutet es mir viel, Sie - verehrte Frau Springer - heute als Vorbild für viele in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Mäzenatentum und Unternehmergeist sind kein Widerspruch, sie können eine segensreiche Symbiose bilden. Danke dafür! // In meinen Unterlagen habe ich entdeckt: Für Ihre Herz-Stiftung haben Sie als Motto ein Zitat von Tolstoi gewählt. "Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge." Meine Rede ist jetzt am Ende, aber anstoßen möchte ich mit Ihnen auf den Anfang, am liebsten im Plural. Erheben wir das Glas auf Friede Springer und viele gelungene Neuanfänge!
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Joachim Gauck
In tiefer Trauer verneigen wir uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Deutschen und einem herausragenden Präsidenten. Wie nur wenige stand er für unser Land - und wie nur wenige hat er für unser Land weltweit Achtung und Sympathie erworben. // Die deutsche Geschichte hat ihn geprägt. Und er hat selber tiefe Spuren in der Geschichte unseres Landes hinterlassen. Richard von Weizsäcker hat uns in den langen Jahren seines Wirkens Inspiration und Orientierung gegeben. // Wir waren es gewohnt, ihn bis ins hohe Alter zu wesentlichen Fragen zu hören. Seine Stimme, seine Art zu denken und zu sprechen, sind uns in den Jahrzehnten seines Wirkens so vertraut geworden wie die eines väterlichen Freundes. Er war ein Pater Patriae, so hätte man es früher gesagt. Er war uns vertraut - und wir haben Vertrauen zu ihm gehabt. // Wenn auch nicht jeder mit allem einverstanden gewesen ist, was er gesagt hat, so haben wir doch immer gewusst: Was er sagt, ist die Frucht einer großen Lebenserfahrung, eines unabhängigen Geistes und einer gründlichen Gewissensbefragung. Weil er nicht auf schnellen Applaus aus war, sondern auf Mitdenken; weil er auf die Kraft des Arguments baute und nicht auf schnelle Überredung; weil er auch beim Anderen voraussetzte, was ihn selber leitete: der Wille zum moralisch begründeten Handeln. All das hat dazu beigetragen, dass er glaubwürdig war. // Im Grundgesetz steht nicht geschrieben, dass ein Bundespräsident eine moralische Instanz zu sein hat. Es ist auch nicht vorgeschrieben, dass er intelligent sein, der sittlichen Vernunft folgen und auch noch durch tiefgründige Reden überzeugen können soll. Aber Richard von Weizsäcker hat all dies beherrscht oder hat es gelebt - souverän, freundlich und selbstverständlich. // Er hat damit Maßstäbe für das Amt gesetzt. Das galt für seine vielbewunderte Fähigkeit, unter praktisch allen Umständen Würde und Souveränität auszustrahlen. Er überzeugte besonders, weil Amt und Person so passgenau zur Deckung kamen. Und weil seine Reden und seine Handlungen, seine ganze Unabhängigkeit so sehr dem entsprachen, was die Deutschen sich von einem Staatsoberhaupt wünschten. // Das galt übrigens nicht nur für die Bundesdeutschen der Bonner Republik. Auch für uns Deutsche in der DDR war er eine Integrationsfigur. Mit unzähligen Menschen in der DDR wünschte ich einst, er könnte auch unser Präsident sein. Später wurde er zu unser aller Glück der erste Bundespräsident im wiedervereinigten Land. Er war es, der 1987 zu Michail Gorbatschow, der damals von einer "offenen deutschen Frage" nichts wissen wollte, gesagt hatte: "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist". // Die äußerlich wahrnehmbare Souveränität kann nur dem gelingen, dessen Souveränität aus innerer Stärke kommt. // Woher die innere Stärke dieses Mannes kam, bleibt letztlich, wie bei jedem Menschen, ein Geheimnis. Aber wir dürfen schon vermuten, dass seine Erziehung dazu beitrug: in einer Familie, in der der Dienst am Gemeinwesen in hohen und höchsten Ämtern über Generationen üblich war. // Die Erfahrung mit seinem Vater hat ihn andererseits auch gelehrt, vor welche Gewissensfragen ein solcher Dienst einen Menschen stellen kann. Wohl sein Leben lang hat er sich innerlich mit seinem Vater auseinandergesetzt, dem Staatssekretär im nationalsozialistischen Deutschland, den er, nicht nur vor dem Nürnberger Gericht, sondern immer verteidigt hat. // Geprägt haben ihn gewiss auch seine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg: Schon am ersten Tag des Krieges musste er dabei sein, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Am zweiten Tag wurde sein Bruder, wenige hundert Meter von ihm entfernt, tödlich verletzt. Der Kriegsteilnehmer von Weizsäcker hat vieles gesehen, vieles erlebt und später vieles verarbeiten müssen. Er hat darüber nur wenig gesprochen. Aber zeitlebens hat ihm die eigene Zeit mit ihren Brüchen und Kontinuitäten vor Augen gestanden. Das hat ihn nicht nur zu einem Zeugen der Zeiten, sondern später zu einem Deuter der Zeit gemacht. // Und ganz gewiss haben ihn die Erfahrungen seiner jungen Jahre zu einem überzeugten Demokraten gemacht. Auch dass eine Demokratie wehrhaft und stark sein muss, war ihm bewusst als eine nie zu vergessende Lehre aus dem Scheitern von Weimar. // Dass Politik im demokratischen Rechtsstaat durch Parteien gestaltet wird, war Richard von Weizsäcker vollkommen klar. Er ist 1954 Mitglied der CDU geworden, und ohne diese Mitgliedschaft hätte er damals keine politischen Ämter erreichen können. Sein "Ja" zur Parteiendemokratie hinderte ihn nicht, später auf die Gefahr hinzuweisen, dass Parteien versucht sein können, den eigenen Machterhalt vor das Interesse des Gemeinwesens zu setzen. // Freiheitliche Gesinnung und demokratische Überzeugung bedeuteten für ihn nicht, sich immer der Mehrheit zu fügen. 1972 stellte er sich gegen die überwältigende Mehrheit seiner Bundestagsfraktion und kündigte an, für die Annahme der Ostverträge stimmen zu wollen. Sein politischer Einsatz führte letztlich dazu, dass sich die allermeisten Abgeordneten von CDU und CSU der Stimme enthielten. So half er, diese Verträge und damit die historische Leistung von Bundeskanzler Willy Brandt zu ratifizieren. // Ohne die enge Einbindung in das Atlantische Bündnis je in Frage zu stellen, knüpfte er an sein eigenes langjähriges und leidenschaftliches Engagement für eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands an. Richard von Weizsäcker war nicht nur 1965 an der Formulierung der wegweisenden Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland beteiligt. Durch vielerlei Kontakte knüpfte er Bande des Vertrauens, die sich als haltbar erwiesen und die sich später, bei der Überwindung der Teilung Europas, als ungemein wichtig herausstellten. Angesichts seines Todes sind deshalb gerade aus Polen große Zeichen der Anteilnahme gekommen. // Es war nicht immer einfach, seine eigenen Parteifreunde von der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen. Auch die Gelassenheit, mit der er den Protestbewegungen der 1980er Jahre begegnete, als Regierender Bürgermeister von Berlin sogar den Hausbesetzern, betrachtete mancher aus dem konservativen Milieu mit Skepsis. Aber er half doch damit, die Verankerung des demokratischen Staates in den Köpfen und Herzen gerade der kritischen Geister zu stärken. Auch so wurde Richard von Weizsäcker zu einem der glaubwürdigsten Repräsentanten dieser Republik, gerade für die jüngere Generation. // Zu seiner inneren Stärke und zu seiner klaren Orientierung trug nicht zuletzt sein christlicher Glaube bei. Bei Richard von Weizsäcker waren Wort und Tat erkennbar die eines engagierten Christen. Die Aufgabe, die er lange Jahre als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages wahrgenommen hat, sie hat ihm entsprochen. // Von großer Bedeutung war für ihn die Kraft, die er aus seiner Familie schöpfte und ganz besonders aus der jahrzehntelangen Liebe zu und von seiner Frau Marianne. // Liebe, verehrte Frau von Weizsäcker, wir alle konnten sehen, was Sie beide einander bedeuteten. Deshalb sind wir Ihnen auch dankbar für Ihre Unterstützung dieser bedeutenden Präsidentschaft. Und es ist uns ein tiefes Bedürfnis, in diesen Tagen des Abschieds Ihren Schmerz mitzutragen. Wenn schon für uns, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, der Tod Richard von Weizsäckers ein so großer Verlust ist, dann erst recht doch für seine Familie, seine Kinder, seine Enkel, auch für seine Freunde. Ihnen allen gilt unser Mitgefühl. // Richard von Weizsäcker hat ein wahrhaft biblisches Alter erreicht. Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts. In seiner Lebensgeschichte begegnet uns eine Existenz, die noch ganz andere Prägungen erfahren hat als unsere Gegenwart sie kennt. Als er im Stuttgarter Neuen Schloss geboren wurde, war die württembergische Monarchie, der sein Großvater noch gedient hatte, gerade einmal zwei Jahre abgeschafft. // Als gebürtiger Schwabe gehörte er einem Deutschen Reich an, das von Aachen bis Königsberg reichte. Und als er Bundespräsident wurde, gehörten nicht einmal mehr Erfurt und Weimar, Leipzig oder Dresden zu dem Staat, den er repräsentierte, nicht einmal "Unter den Linden" in Berlin oder die Wilhelmstraße, wo 40 Jahre zuvor das Auswärtige Amt seinen Sitz hatte, in dem sein Vater Dienst tat. All das gehörte nicht zu diesem Deutschland, dessen Präsident er wurde. // Richard von Weizsäcker wusste nicht nur intellektuell, was Deutschland durch Diktatur, Völkermord und Krieg verspielt hatte. Er erlebte es sozusagen mit seiner ganzen Biographie einschließlich seiner Familiengeschichte. Vielleicht war er deswegen - wagen wir es ruhig, dieses Wort zu benutzen: berufen dazu, uns Deutschen zu einer endgültigen Klarheit über den Krieg und seine Folgen zu verhelfen. // Im Leben eines jeden Menschen, da gibt es Momente, auf die gleichsam die ganze Existenz zuläuft, Augenblicke, in denen der Mensch "Ja" sagt zu dem, was unvertretbar auf ihn und niemanden anderes jetzt zukommt. Das war für den politischen Menschen Richard von Weizsäcker zweifellos seine Rede am 8. Mai 1985. // Richard von Weizsäcker hat sich mit dieser Rede um sein Vaterland verdient gemacht. Nicht, weil er gesagt hätte, was damals niemand gewusst hat. Er hat vielmehr das gesagt, was 1985 alle wissen mussten, was aber auch 1985 noch immer nicht alle wissen wollten. In einer langen und intensiven Vorbereitung dieser Rede hat er nicht nur Spuren aufgenommen, die frühere Bundespräsidenten gelegt hatten, hat nicht nur Stimmen und Stimmungen der bewegten Jahre nach 1968 wahrgenommen, sondern er hat all dem seine eigenen Erfahrungen beigefügt. Als Zeitgenosse des blutigen Jahrhunderts war es sein eigenes inneres "Ja", das ihn zu einer Erkenntnis geführt hat, die die Öffentlichkeit als Bekenntnis empfunden hat. Es war ein Bekenntnis. // Die zentralen Sätze beschrieben die Erkenntnis, dass die schlimmen Leiden, die die Deutschen selbst erlebten am Kriegsende, nicht als unverschuldetes Schicksal über uns gekommen waren: "Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen." Seine Worte. // Als er mit der Autorität des Staatsoberhauptes den 8. Mai einen Tag der Befreiung nannte, vergaß er nicht diejenigen, für die mit diesem Tag das Schlimmste noch lange nicht zu Ende war oder gar erst begann. Aber für Viele hat er damit dem Lavieren ein Ende gesetzt, so dass sie nun freier in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft gehen konnten. Im Laufe der Zeit wuchs deswegen die Zustimmung zu dieser Rede auch bei denen, die erst nicht applaudieren konnten. // Und noch etwas: Richard von Weizsäcker förderte mit dieser Rede und mit seiner Haltung den Mut zur Wahrhaftigkeit. Er lebte diese Wahrhaftigkeit hier selber vor. In dieser Rede ist in eindringlichen Worten ausgedrückt, dass Menschen, dass wir aus eigener Kraft und aus eigener Erkenntnis jene Einsichten formulieren konnten, die uns befreiten zu einem neuen Selbstverständnis. Es waren nicht zuletzt diese Rede und - vergessen wir es nicht - die Politik des Bundeskanzlers Helmut Kohl, die in der Welt das Vertrauen in ein wahrhaft gewandeltes Deutschland befestigten, ein Vertrauen, das den Prozess der Vereinigung Deutschlands enorm unterstützt hat. // So sind wir dankbar, wenn wir zurückschauen: Wir sehen Richard von Weizsäcker, den Mann, der mit der Geschichte und aus der Geschichte lebte - und gerade so den Fragen der Gegenwart ungewöhnlich offen zugetan war; einen Mann, der wusste, was pragmatisches Regieren bedeutete - und gerade deshalb eine Politik ohne Wertegrundlage ablehnte; einen eminent politischen Präsidenten, der notwendigen Kontroversen nicht aus dem Wege ging - und trotzdem auf Konsens zielte; einen Mann des disputierenden Abwägens, vertraut mit den Ambivalenzen und Paradoxien der Politik - und gleichzeitig fähig zu glasklarer Eindeutigkeit in Grundfragen. // In ihm, Richard von Weizsäcker, sahen die meisten Deutschen die Verkörperung guter Präsidentschaft. Das war für die Befreundung der Deutschen mit ihrem Land, mit ihrer Demokratie wichtig. Wir könnten es auch einfacher sagen: Indem sie ihn mochten, lernten die Deutschen sich selber zu mögen. Etwas Heilendes war mit ihm in das politische Leben gekommen. Denn nur wer Vertrauen zu sich selbst hat, wird erfahren, dass auch andere ihm vertrauen. // In tiefer und großer Dankbarkeit tragen wir ihn jetzt hier in Berlin zu Grabe, in der Stadt, die auch durch seinen leidenschaftlichen Einsatz die Hauptstadt eines vereinten Deutschlands geworden ist. // Wir verneigen uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Bundespräsidenten, der, als es an ihm war, das Richtige sagte und das Richtige tat.
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Joachim Gauck
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mit dieser Anrede gebe ich die Begrüßungsformel an Sie zurück, Herr Bürgermeister. Sie haben gemeint, stolz und glücklich sein zu sollen, weil ich Sie besuche. Nein, es ist anders. Ich bin stolz und glücklich, dass es Sie gibt, Sie und Ihre Bürgerinnen und Bürger. // Ich bin hierher gekommen, weil ich einmal exemplarisch in der Nähe von gelösten und ungelösten Problemen sein möchte. Wir alle in Deutschland, ob wir Wähler oder Gewählte sind, wir alle wissen: Wir stehen vor schweren Herausforderungen, und landauf, landab wird nun gerätselt - hoffentlich auch geplant und nicht nur gerätselt und geklagt -, was zu tun ist. Und das Erste, was ich nicht nur Ihnen, sondern allen Deutschen sagen möchte, ist: Zu einer Zeit von Herausforderungen gehören Debatten und Kontroversen, aber sie gehören in die Mitte der Gesellschaft. Wir wollen nicht, dass auf der einen Seite die guten Menschen mit den weiten Herzen stehen und auf der anderen Seite die Engherzigen. Die einen dürfen jammern und klagen, und die anderen dürfen schaffen und umsorgen und sich freuen, dass wir so solidarisch sind. So wird das alles nicht funktionieren. // Sie haben sich ja an die Landesregierung gewandt, an die Bundesregierung, manchmal wenden Sie sich auch an die Gebietskörperschaft, und Sie bitten um Verständnis oder um Solidarität und um Hilfe. Wir müssen begreifen, dass wir beides tun können. Wir können solidarisch handeln und gleichzeitig eine Problemanalyse betreiben und Sorgen und Besorgnisse benennen. Wenn wir in der Mitte der Handelnden und der Solidarischen aufhören, die Probleme zu besprechen, die unsere Mitbürger betreffen, dann werden am rechten Rand genug Verführer und Nutznießer sein, die sich dieser Probleme bemächtigen und so tun, als wären sie die Einzigen, die darüber sprechen. So darf das natürlich nicht sein. Und darum müssen wir in der Mitte der Gesellschaft auch ertragen, dass es gesellschaftliche Debatten und manchmal auch Streit gibt. So ist das in der Demokratie. Die offene Gesellschaft kommt ohne diese Form der Kommunikation gar nicht aus. Und dann dürfen auch Abgeordnete mal unterschiedlicher Meinung sein. Und das ist auch noch normal. Und wir, in den Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger, die vor der Situation stehen, dass die Turnhalle ihrer Kinder gerade belegt ist oder dass eine benachbarte Liegenschaft genutzt wird in einer Weise, wie es nicht geplant war, die dürfen das Maul aufmachen. Die dürfen sagen "Bürgermeister, was machst du gerade mit uns?" Und der Bürgermeister ist gut beraten, wenn er rechtzeitig mit den Bürgerinnen und Bürgern spricht, was er zu tun gedenkt. Und dann kann er die Bürgerinnen und Bürger auch fragen: "Ja, was soll ich denn sonst machen? Soll ich die Leute unter Brücken schlafen lassen oder am Fluss oder an der Landstraße liegen lassen?" Und dann wird er hören, was für Antworten er bekommt. // Und deshalb bin ich froh darüber, dass ich in einer Stadt bin, wo es eine ganz herausragende Qualität von Engagement gibt, in der es so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger gibt, in den Vereinen, in den Verbänden, unseren Hilfsorganisationen, einfach überall. Ob es die freiwillige Feuerwehr, die Polizei oder welche Organisation auch immer ist. Diese Unmenge von freiwilligen Helfern, die überall im ganzen Land sind. Ich bin dankbar und glücklich, dass dieses Land sich so selbst erkennt in seinen Potentialen, in seiner Fähigkeit, nicht wegzuschauen, sondern hinzusehen und helfen zu wollen. Wunderbar. Wir haben es so nicht erwartet. Wir könnten unser Land, wenn es eine Person wäre, so ansprechen: "Du, das hätte ich von dir nicht erwartet. Das gefällt mir." Und indem wir unser Land so ansprechen, erkennen wir uns auch in unseren Potentialen, in unseren Möglichkeiten. Und jetzt kommt noch etwas hinzu: So wie Sportler, die Höchstleistungen erbringen, oder Musiker, die wunderbare Werke schaffen, so erkennen wir uns oft erst dann, wenn wir an die Grenzen des uns Möglichen gehen. Wenn wir in uns Fähigkeiten entdecken, von denen wir vorher nicht geglaubt hätten, dass wir sie haben. Und deshalb habe ich eben gesagt, wenn unser Land eine Person wäre, würde ich sagen: "Gut gemacht". // Bei diesem "gut gemacht", das will ich jetzt auch mal mit aller Deutlichkeit sagen, damit meine ich auch alle diejenigen, die beamtet, die angestellt sind, nicht nur die Ehrenamtlichen, die haben wir jetzt in den letzten Wochen dauernd gelobt. Ich will heute auch einmal diejenigen loben, die Überstunden machen, die, wie ich es heute von Ihrem Bürgermeister gehört habe, nachts um drei senkrecht im Bett stehen, um sich Gedanken zu machen und zu fragen: "Wo bringe ich die Leute unter?" Ich hoffe, er macht es nicht jede Nacht, dann haben Sie ihn nicht mehr lange. Aber dieses Bild eines engagierten Mitarbeiters, eines engagierten Bürgermeisters, eines engagierten Abteilungs- oder Referatsleiters, einer engagierten Mitarbeiterin am Computer - für alle die, die bei uns im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, sind das ja auch großartige Zeiten. Und für sie gilt, was ich eben für das ganze Land gesagt habe. Sie lernen sich neu kennen mit ihrer Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und großartig zu sein. Das stärkt sie. // Und warum brauchen wir diese Stärke? Weil sich um uns herum an den Rändern eine Angstkultur entwickelt, die bedrohlich ist. Ängste sind oft etwas anderes als eine Problemanalyse. Sie sind diffus. Es werden Vermutungen geäußert, es werden Stereotypen bedient. Das ist gefährlich. Es werden Horrorszenarien für die Zukunft entwickelt. Und diese Horrorszenarien und diese negativen Stereotypen, sie haben alle eins gemeinsam: Sie entmächtigen uns, sie suggerieren uns, wir seien nicht im Stande, den Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu entsprechen. // Aber, meine Damen und Herren, wir sind die, die wir geworden sind. Wir sind aus einer Nation, die zutiefst danieder lag, moralisch diskreditiert war, zu einer Nation geworden, die sich selber etwas zutraut. Wir sind die, die sich etwas zutrauen. Und indem wir uns das bewusst machen, fürchten wir uns auch nicht mehr vor einer Problemdebatte in der Mitte unserer Gesellschaft. Ich wiederhole mich da, aber das tue ich ganz bewusst, weil ich diese Aufteilung der Gesellschaft in diejenigen, die gutwillig und gutmütig und aufnahmebereit und aktiv sind, und diejenigen, die böswillig und fremdenfeindlich sind, die akzeptiere ich nicht. Ich weiß, dass es böswillige und fremdenfeindliche Menschen gibt, ich finde sie unerträglich. Auch wie sie mit den Ängsten von Menschen manipulieren, um sich selber Einfluss zuzueignen, der ihnen gar nicht zukommt. Das weiß ich. Aber so wenig wie wir diesen Angstmachern die Zukunft unseres Landes überlassen, ja, auch nur eine Rolle bei dieser Zukunft des Landes maßgeblich mitzuwirken, so wenig überlassen wir ihnen die Deutungshoheit über unsere Probleme, auch über unsere ungelösten Probleme. // Und deshalb meine Bitte an Sie und an alle anderen, die sich in der Mitte der Gesellschaft Sorgen machen, ob wir das schaffen: Reden Sie mit Ihrem Bürgermeister. Reden Sie mit Ihren Abgeordneten. Behalten Sie Ihre Befürchtungen nicht für sich. Konfrontieren Sie Ihre Abgeordneten und Minister mit Ihrer Problemanalyse und erwarten Sie von den Politikern, dass sie Handlungsfähigkeit zeigen. Die versuchen es doch. Aber was ihnen zurzeit schwer gelingt, ist Planungssicherheit herzustellen. Ja, wie auch? Wissen wir denn, wie viele Flüchtlinge übermorgen zu uns kommen? Wir wissen es nicht. Und darum brauchen unsere politischen Akteure neben unserer Fähigkeit zur Kritik, neben unseren Anregungen, auch ein gewisses Maß an Verständnis. Ich gehe mal davon aus, meine Damen und Herren, dass die wenigsten von Ihnen es besser machen könnten als Ihre Ministerpräsidentin und die Bundeskanzlerin. Es mag ja sein, dass sich der eine oder andere hier befindet, der fest davon überzeugt ist. Ich nehme dann einen Zettel und schreibe mir Ihre Namen auf. Ja? // Also es gibt Gründe, das haben wir vom Bürgermeister gehört. Es gibt Gründe, dass wir manchmal die Regierung fragen: "Ja, wieso so und nicht anders? Ich habe viel bessere Ideen". Wunderbar wenn es so ist. Und wunderbar, wenn Sie aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem Kreis der Engagierten, dieser positiven Netzwerke heraus diese Frage stellen. Das ist eine lebendige, offene Gesellschaft, die solche Debatten nicht fürchtet. Wir haben es nicht nötig, uns vor dem, was uns als ungeklärtes Problem noch vor den Füßen liegt, weg zu laufen. Menschen, die sich bewährt haben, indem sie Solidarität als eine Lebensform der Gesellschaft entwickelt haben, die laufen nicht einfach weg wegen diffuser Ängste. Ein gutes Beispiel ist dieser Bürgermeister oder viele andere Aktive. Wir können ihm gut zuhören, wenn er die Regierung kritisiert, weil wir an ihm genau merken, er steht nicht irgendwo im Abseits und meckert nur an den gesellschaftlichen Verhältnissen herum. Sondern er beteiligt sich intensiv, bringt seine Gaben ein, und dann hat er jedes Recht der Welt, mit all denen, die über ihm sind, auch kritisch zu sprechen und ihnen kritische Fragen zu stellen. // Jetzt haben wir uns, denke ich, miteinander verständigt. Ja, ich spüre das. Ich weiß, ich habe vorhin schon ein paar Leute getroffen, so eine kleine Blütenlese hier aus Ihrer Gesellschaft. Und ich habe gespürt, ich bin in einem Stück Europa, von dem ich einmal geträumt habe. Ich bin unter Menschen, die sich selber anschauen, und sich fragen: Was kann ich eigentlich tun, um diesen Raum, in dem ich lebe, zu einem lebenswerten und schönen zu machen, zu einem gastfreundlichen? Und ich will die Gelegenheit nutzen, ein herzliches, bürgerschaftliches wie präsidiales Dankeschön zu sagen: all den Lehrerinnen und Lehrern, den Pfarrern und Pfarrerinnen in den Kirchgemeinden, in Diakonien. All den Menschen, die sich sorgen um unser Miteinander, die es gestalten, auch den Menschen, die jungen Leuten in den Sportvereinen beibringen, was Fairness ist und was Regeln sind, all denen, die in irgendeiner Weise aktiv sind. Es ist gut, dass ich Sie erlebe, es ist gut, dass ich dieses Land so erlebe. Und weil ich Sie so erlebe, weiß ich, dass die Probleme, die mit Sicherheit auf uns zukommen, und angesichts derer wir auch mit Sicherheit noch nicht alle Lösungswege wissen, dass diese Probleme uns nicht überwältigen werden. Wir sind die, die sich verpflichtet haben zu stehen und nicht zu fliehen. Und wir haben das Gefühl, genauso soll unser Leben sein. So möchten wir es, auch wenn wir an einen fremden Ort kämen: dass es dort Menschen geben möge, die diese Gesinnung haben. // Indem ich mich vorhin bedankt habe bei den unterschiedlichsten Menschen, bin ich auch bei denen gelandet, die uns - etwa in den Kirchen und in den Schulen - etwas vom Sinn unseres Lebens beigebracht haben. Denken wir daran, das ist eine geprägte Kulturlandschaft. Und zu unserer Kultur gehören nicht nur die Einrichtungen des Wissens, unsere Universitäten, der Kultur, unsere Theater und Museen, gehören auch nicht nur unsere wunderbaren Produktionsstätten, sondern es gehört eine Kultur der Mitmenschlichkeit dazu, die achtsam ist und am anderen nicht vorbei geht, wenn er ohnmächtig und geschlagen am Straßenrand liegt. Viele von uns haben in der Kindheit das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört. Und sie haben begriffen, dass Barmherzigkeit eine Form des Miteinanders ist. Barmherzigkeit heißt in der Sprache der Politik: Solidarität. Beides hat miteinander zu tun. Und die Gesellschaften der Solidarität sind erwachsener - auf dem Boden eines solchen tiefen menschlichen Wissens, dass Zuwendung und Zueinandergehören der Kern dessen sind, was uns miteinander verbindet. // So kommt eine lange kulturelle, religiöse und politische Tradition zusammen. Und all das hat dazu geführt, dass Sie leben, wie Sie hier leben: als Verbundene und nicht jeder als ein Wolf für den Anderen. Als miteinander Verbundene im Streit und in der Solidarität, in der Gestaltung und in der Geduld. Und so soll es bleiben. Und wenn es so bleibt, dann komme ich wieder und bin wieder dankbar und stolz, dass ich unter Ihnen sein kann.
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Joachim Gauck
Manche von Ihnen sind nicht zum ersten Mal hier. Ihnen allen aber sagt Ihr Land heute auf besondere Weise "Dankeschön". Sie erhalten das Silberne Lorbeerblatt, sie erhalten das, was andere Menschen in Form des Bundesverdienstkreuzes für ihre Verdienste erhalten. Das Silberne Lorbeerblatt ist die höchste staatliche Auszeichnung, die wir für unsere Sportler haben. Und viele von Ihnen haben es schon einmal erhalten: nämlich für den dritten Platz bei einer Weltmeisterschaft - das war schon weit mehr als ein Achtungserfolg. // Jetzt aber sind Sie Weltmeister und Sie sind hier, und wir alle freuen uns darüber. Fußballweltmeister - das ist in allen Ländern, die fußballbegeistert sind, das Allergrößte. Kein Mannschaftstitel zählt mehr als dieser, so populär andere Sportarten auch sein mögen. In den fußballbegeisterten Ländern ist es einfach so: Fußballweltmeister zu werden und zu sein, das ist noch einmal etwas ganz Besonderes, das ist nicht zu toppen. Das kann natürlich in unserem Land überhaupt nicht anders sein. // Dass Spieler, Trainer, Betreuer, der Verband Weltmeister geworden sind, das ist ja nur die halbe Wahrheit, die kleinere Hälfte der Wahrheit sogar. Was ist die ganze? Die ganze Wahrheit ist doch, dass wir uns in Deutschland gefühlt haben, als wären wir alle Weltmeister. Das kann man nun gut oder schlecht finden: Manche wünschen sich, die Gelehrsamkeit oder die besondere Fähigkeit, andere Künste auszuüben, möge dieses allumfassende Wir-Gefühl erzeugen. Aber das erleben wir gerade im Fußball. Darum ist Fußball auch, in diesem Land jedenfalls, immer etwas mehr als nur Sport - eine Gesellschaft lebt auch davon, dass in ihr tatsächlich Wir-Gefühle existieren. Und so eigentümlich es klingt, kann man manchmal, ohne dass man an das Große und Ganze einer Gesellschaft denkt, doch tatsächlich für dieses Große und Ganze der Gesellschaft etwas tun. Das meine ich, wenn ich diese Fähigkeit rühme, ein Wir-Gefühl hier in unserem Land zu erzeugen. // Dies mit dem Wir-Gefühl hat eine lange Geschichte, jedenfalls wenn man älter ist als unsere Helden hier. Ich war 14 Jahre alt, als Deutschland zum ersten Mal Weltmeister wurde, es war in Ihrem Land, Herr Blatter, in der Schweiz - wir Älteren werden das nie vergessen und die Jüngeren kennen das inzwischen auch. 1954 Weltmeister zu werden, das war schon ein großartiges Gefühl. Auch wenn Deutschland getrennt war damals - trotzdem sage ich Deutschland, weil 1954 auch die Menschen in Ostdeutschland sagten,"wir sind Weltmeister geworden". Wir waren damals für jene, die für Deutschland Fußball spielten, und das waren Westdeutsche. Das durfte man im Osten nicht so laut sagen, obwohl es doch von 1956 an eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft gab. // So kam es, dass in all den Jahren, in denen in Deutschland kaum oder nur ganz, ganz vorsichtig von der "Nation" gesprochen wurde, ganz selbstverständlich von der "Nationalmannschaft" die Rede war. Im Fußball war die Erinnerung daran, eine Nation zu sein, immer wach geblieben. // Wenn man so will, markieren die Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaften auch den Weg unseres Landes nach dem Krieg: 1954 wurde allgemein als Chance für Deutschland empfunden, sich internationale Anerkennung zu erwerben, und dass die Deutschen einen Weg entdeckten, auf friedliche und fröhliche Weise ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln. // 1974 entsprach der erfolgsorientierte, vielleicht weniger elegante als pragmatische Fußball, mit dem im Finale Holland geschlagen wurde, der innen- und außenpolitischen Ausrichtung unseres Landes. Übrigens haben damals bei diesem berühmten Turnier bei weitem nicht alle in der DDR den Sieg in der Vorrunde über die Bundesrepublik bejubelt. Denn auch 1974 waren wir im Osten wie selbstverständlich mit Weltmeister geworden, denn - trotz eigener Mannschaft bei der WM und trotz einer eigenen Oberliga - gab es immer so etwas wie "Fußballdeutschland", ein Zusammengehörigkeitsgefühl über die Grenzen hinweg. // Dann 1990: Das war in jeder Hinsicht ein denkwürdiges Jahr. Die Weltmeisterschaft kam genau in dem Moment zwischen der Friedlichen Revolution und dem Vollzug der Deutschen Einheit im Oktober. Was für ein Jahr! Die ganze Welt schaute seit Monaten auf Deutschland und auf das, was sich atemberaubendes bei uns tat. Und der Weltmeistertitel, der letzte, den die alte Bundesrepublik alleine errang, passte genau dazu. // Und nun 2014. Was für ein souveräner Titelgewinn, was für eine überzeugende Leistung, die neidlos auch von allen anderen Gegnern anerkannt wird. Was für eine starke, was für eine sympathische, sportlich und menschlich rundum begeisternde Mannschaft. Zum ersten Mal ist das wiedervereinigte Deutschland Weltmeister geworden: In diesem Jahr feiern wir ein Vierteljahrhundert Friedliche Revolution und im nächsten Jahr ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit - also wieder ein Weltmeistertitel, der einen für unser Land wichtigen Zeitabschnitt markiert. // Wo stehen wir heute? 2014 ist ein Land Weltmeister geworden, das schon seit einiger Zeit zu einem entspannten, zu einem aufgeklärten Patriotismus gefunden hat, sichtbar spätestens seit dem Sommermärchen von 2006. Deswegen dürfen wir uns darüber freuen, dass uns niemand den Titel neidet, und die Welt konnte sich ehrlich mit uns freuen. Das ist vielleicht die schönste Erfahrung mit diesem vierten Weltmeistertitel. Für mich ist dieser vierte Stern ein besonderer. Nicht nur, weil ich mit Ihnen zusammen, Frau Bundeskanzlerin, dabei sein konnte. Aus diesen genannten Gründen leuchtet dieser Stern für mich besonders. Wir haben uns eben erinnern lassen, wie groß die Freude und Begeisterung in unserem Lande war, ohne dass sich überhebliche und falsche Töne in den Vordergrund spielen konnten. Diesmal haben wir mit friedlicher Freude den Titel und Sie, die Mannschaft, gefeiert. // Apropos Mannschaft: Wenn ein Wort in eine andere Sprache übernommen wird, ohne dass man es übersetzt, dann deswegen, weil sich in diesem Wort etwas ganz Besonderes und ganz Eigenes ausdrückt, das man gar nicht richtig übersetzen kann. Und eine solche Übernahme drückt dann oft großen Respekt und tiefe Achtung aus. Darum darf ich Sie und alle im DFB, die für das Auftreten und den Erfolg verantwortlich sind, ruhig mit etwas Dankbarkeit anreden und Ihnen sagen: Sie dürfen auch ein bisschen stolz darauf sein, dass man auf französisch jetzt das deutsche Team einfach "La Mannschaft" nennt und auf englisch "The Mannschaft". // Hier drückt sich Respekt aus vor einer Spielweise, Respekt vor einem Gemeinschaftsgeist und dazu vor einer fein ausgeklügelten Balance zwischen individuellen Stärken und dem Team. Diese in Brasilien unbezwingbare Kombination hat dann zum verdienten Titel geführt. Mit Fußball, der oft meistens begeisternd war, der Freude und Spaß ausgelöst hat und der meilenweit davon entfernt war von einer verbissenen Erfolg-um-jeden-Preis-Mentalität, die meist nur freudlose und verkrampfte und dann auch oft sieglose Spiele bringt. // Wir wissen: Dieser Erfolg kam nicht über Nacht. Er hatte viele Väter. Da ist die seit Jahren verbesserte Jugendarbeit in den Vereinen zu nennen, die konsequente und auch entschiedene und entschlossene individuelle Nachwuchsförderung. Verband und Vereine wissen sich in gemeinsamer Verantwortung - und zwar nicht nur für den Erfolg, sondern auch für die ganze Entwicklung des jungen Menschen. Zu danken haben wir sicher also auch den vielen Jugendtrainern, die überall im Land aktiv sind, die Talente fördern und Talente entdecken. // Was die Mannschaft nun auch schon eine ganze Weile ausmacht, das ist die ganz selbstverständliche Spiegelung der Einwanderungsgesellschaft, die wir längst geworden sind. Was in den Jahren zuvor schon festgestellt werden konnte, das wird nun mit dem Weltmeistertitel erst recht klar: Der Fußball und gerade diese Mannschaft können zeigen, wie die Einheit der Verschiedenen gelingen kann und zu welchen Erfolgen sie dann fähig ist. Wir gehören zusammen und wir gewinnen zusammen - das ist die große Botschaft dieser Mannschaft. // Die Ausschreitungen von Hooligans in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass der Sport einigen Menschen als Feigenblatt für rohe Gewalt dient, manchmal auch für Fanatismus und Hass. Aber unser Sport, nicht nur der Fußball, sondern generell der Sport, kann auch ein Gegenmittel sein und kann eine Atmosphäre fördern, in der Toleranz und Offenheit vorgelebt werden - und zwar von Spielern wie auch von Fans. Deshalb danke ich allen hier im Saal, die sich unermüdlich gegen Rechtsextremismus und Gewaltorgien stark machen. Und vor allem bitte ich die, die das tun, und Sie alle: Setzen Sie dieses Engagement fort! // Liebe Fußballer, wenn Sie mir diese familiäre Anrede erlauben, die Welt schaut auf das, was Sie auf und auch neben dem Platz leisten. Mit dem Titelgewinn 2014 haben Sie sich, Ihren Freunden und Fans, und dem ganzen Land ein bleibendes Geschenk gemacht. Dem großen Buch des Fußballs mit seinen legendären Helden und Mannschaften haben sie ein besonders schönes schwarz-rot-goldenes Schmuckblatt hinzugefügt. // So, wie damals das Team um Fritz Walter und Helmut Rahn 1954 ebenso Geschichte geschrieben hat wie das Team von Franz Beckenbauer und Gerd Müller 1974 und das Team um Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann 1990, gehören auch Sie jetzt in diese ruhmvolle Reihe. // Alle, die die Spiele verfolgt haben, werden sich noch lange an vieles erinnern. An einzelne Szenen, an den Turniersieg, an glückliche Momente, an traurige oder lachende Gesichter, an große Emotionen. Und vielen von uns, die das erlebt haben, werden einige dieser Szenen für immer im Gedächtnis bleiben. Ich freue mich, dass Sie alle hier sind. Und ich freue mich auch nochmal, dass ich persönlich dabei sein durfte, damals in Rio, und die unvergesslichen Augenblicke so hautnah miterleben konnte. Es war und ist schon immer etwas ganz Besonderes, als Bundespräsident Weltmeister zu werden. // Jetzt haben wir genug davon gesprochen, dass wir alle und das Land und somit auch die Bundeskanzlerin, der Bundesinnenminister und der Bundespräsident Weltmeister geworden sind. Indem ich Ihnen, und nicht dem ganzen Land jetzt das Silberne Lorbeerblatt überreiche, wird noch einmal deutlich, wem eigentlich die Ehre gebührt, wer durch seine Leistung zu unser aller Freude Weltmeister geworden ist: Sie sind es, die Mannschaft von 2014, der wir hier und heute noch einmal feierlich, ernsthaft und fröhlich "Danke" sagen: Danke!
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Joachim Gauck
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging - jener mörderische Schrecken, der von Deutschland ausgegangen war. // Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wurden, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein halbes Jahrhundert geteilt war. // Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein. Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar dafür? // Hier in Schloß Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. // Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang- oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts gab - keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung, keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung -, nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten. // Wenige hundert Meter von hier war das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326 Senne". Mehr als 310.000 Kriegsgefangene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen, Zehntausende sind hier begraben. // Was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. // Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant - und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt. Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef Halder, der im Mai 1941 formulierte: "Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad". Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bis heute in unauslöschlicher Erinnerung. // Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsgefangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab - und er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flugblättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überhaupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden, war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig. // Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der anderen Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrätersein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu gedenken. // Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, "eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs" gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht. // Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. // Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene. // In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert. // Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als "minderwertig" diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe. // Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenenlagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regierungsbeamter fest: // "Der Zweck der Fahrt sollte sein, [ ] einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen. [ ] // Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten. [ ] // Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. [ ]" // Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus, das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer Praxis. // Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kurzer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen Menschenschindern und Mördern werden konnten. // Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischer Regeln. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Menschenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier. // Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt, weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberreihen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen Menschen angetan haben. // So wie wir hier in Schloß Holte-Stukenbrock unsere Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort für hunderttausende Menschen erkennen können, so geht es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Karteikarten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie"geschehen". Es wurde "gemacht", es wurde "verübt", planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind. // Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das kann doch unmöglich wahr sein - das, was hier im "Stalag 326" und an hunderten von anderen, über ganz Deutschland verteilten Orten menschenmöglich war -, und was hier aber doch tatsächlich stattgefunden hat. // Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen, nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen - zuerst und zuletzt - auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das, was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken. // Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren ausfindig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben. // Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und gibt es die Initiative "Blumen für Stukenbrock", darum gibt es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtlicher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit her kommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und begleitet. // Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt, ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns und es beglückt uns gleichzeitig. Danke! // Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov, deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben kurz inne gehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov, bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an diesem Tag begleiten und unter uns sind. // Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erinnerung weiter zu tragen. Das gilt auch für die Polizeischüler, die hier ausgebildet werden, und die sich sehr genau bewusst sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekommen sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die historisches Bewusstsein selbstverständlich ist. // Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land, diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe, die sich auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten heraus zu holen. // Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seufzen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen unsichtbar eingeschrieben bleiben. // Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, "Ja"zu dieser Verpflichtung. Versprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun, um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen und zu beschützen.
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Joachim Gauck
Vor ziemlich genau zwei Monaten saß ich in einem Flüchtlingslager, in einem Zelt, es war in Kahramanmaras, an der türkisch-syrischen Grenze. Ich saß mit Vater, Mutter, Großvater zusammen, und die erzählten von dem Krieg, der sie vertrieben und zu Opfern von Terror gemacht hatte. Sie waren ängstlich, aber sie waren geborgen. Sie hatten vier Kinder. Das jüngste war dort im Lager geboren. Und jetzt warteten sie. // Ich frage mich manchmal, ob die Menschen, die ich dort getroffen habe, überlebt hätten, wenn sie über das Mittelmeer geflüchtet wären? Hätten die Kleinen es geschafft, wäre das Jüngste geboren worden, wer hätte überlebt, wären alle gestorben? // In Situationen wie diesen merkt jeder: Menschen zu begegnen, das ist etwas anderes, als nur Zahlen zu begegnen oder Statistiken. Man blickt in Gesichter - verstörte, verängstigte -, hört die dramatischen Geschichten, spürt die Hoffnung auf Hilfe aus der Ferne, aus der Fremde. Irgendwoher muss sie doch kommen. // Aber natürlich müssen sich Fachleute, die sich mit dem Thema Flüchtlinge befassen, auch über Statistiken beugen, müssen Zahlen kennen, sie verfolgen. Müssen erkennen, wie groß der Druck ist, der von diesem Teil der Weltbevölkerung ausgeht, die nicht beheimatet ist. Wenn wir Zahlen und Statistiken sehen, erkennen wir, was wir tun können, wo wir stehen. Also muss man auch ein paar Zahlen nennen. // Sie alle hier im Raum wissen: Bund und Länder haben beschlossen, weitere 10.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Das empfinde ich als richtig, wichtig und wertvoll. 5.400 Syrer haben dank der ersten beiden Kontingente auf gefahrlosem Wege Schutz in Deutschland gefunden. // Aber der Bürgerkrieg dauert nun schon seit 2011. Die Toten, kann keiner mehr zählen, von mehr als 150.000 ist die Rede. Und auch wenn kein anderer europäischer Staat mit vergleichbaren humanitären Programmen auf den dramatischen Konflikt reagiert hat, auch wenn die, die in Deutschland aufgenommen werden, bessere Bedingungen vorfinden als in den meisten anderen Ländern der Welt: Der überwiegende Teil der rund 32.000 Syrer, die seit Beginn der Gewalt nach Deutschland kamen, hat sich auf anderen Wegen durchschlagen müssen, auch auf dem illegalen und lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer. // Millionen sitzen in der Krisenregion fest, als Flüchtlinge im eigenen Land oder in Lagern in der Türkei und in Jordanien. Was dort geleistet wird, haben Daniela Schadt und ich mit eigenen Augen gesehen. Im Libanon leben derzeit mehr als eine Million Flüchtlinge. Das ist, gerechnet auf die Bevölkerung, als wären unter uns in Deutschland 20 Millionen Flüchtlinge anwesend. // "Tun wir wirklich alles, was wir tun könnten?" Das habe ich immer wieder gefragt, auch in der Weihnachtsansprache habe ich das getan. Sie, liebe Gastgeber, zitieren es in der Ankündigung zu diesem Symposium. Zahlen und Statistiken geben auch hier einen Eindruck. // In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden in Deutschland insgesamt 54.956 Erstanträge auf Asyl gestellt - mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum im vergangenen Jahr. In absoluten Zahlen kommen in kein anderes Land Europas mehr Asylbewerber. Gemessen an der Bevölkerungszahl aber liegt Deutschland in Europa längst nicht an der Spitze, sondern auf Platz 9, deutlich hinter Schweden, auch hinter Österreich, hinter Ungarn und Belgien. // Blicken wir nur auf uns selbst, dann neigen wir nicht selten zur Selbstgerechtigkeit. Ziehen wir aber auch in Betracht, wie viele andere dieselben oder ähnliche Probleme lösen, dann werden wir wohl zwangsläufig demütiger. // Wer macht sich bewusst, dass sogenannte Binnenflüchtlinge den absolut größten Teil der Flüchtlinge in der Welt ausmachen? Wer weiß schon, dass insgesamt nur ein kleiner Teil der weltweit mehr als 51 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen Schutz in Europa sucht - und ein noch kleinerer tatsächlich findet? Dass meistens die ärmsten Länder für die Armen aus ihrer Nachbarschaft aufkommen? Setzt man die Zahl der Flüchtlinge ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft der Länder, so sind nach der aktuellen Statistik des UNHCR die drei größten Aufnahmeländer Pakistan, Äthiopien und Kenia. // "Tun wir alles, was wir tun könnten?" Eine Antwort liegt - nach den genannten Zahlen - nahe: Wir, das heißt Deutschland und auch Europa, tun viel. Aber nicht so viel, wie es selbst manchmal scheint. // Nun hat sich Politik leider nie allein am humanitär Gebotenen zu messen, sondern immer auch am politisch Machbaren. // Das ist ein Satz, der mir schwer über die Lippen geht. Ich möchte es eigentlich anders. Aber wir leben in einem Land, in dem wir es mit Menschen zu tun haben, die ihrerseits mit vielen Begrenzungen leben müssen. Und deshalb richtet Politik ihr Augenmerk eben immer auch auf das Machbare. In diesem Satz steckt so etwas wie eine doppelte Abgrenzung: Abgrenzung gegenüber denen, die wünschen, wir sollten unsere Tore weit aufmachen für alle Mühseligen und Beladenen. Aber auch gegenüber denen, die meinen, die Grenze des Machbaren sei doch längst erreicht und wir müssten uns noch viel besser abschotten als wir es bisher getan haben. // Flüchtlingspolitik wird immer eine schwierige Politik bleiben. Und ich sehe nirgendwo eine Patentlösung. Wir werden nie allen Bedrohten und Verfolgten Zuflucht und Zukunft bieten können. // Der Asylkompromiss von 1993 hat den dramatisch gestiegenen Antragszahlen damals nach dem Ende der Teilung Europas Rechnung getragen, allerdings auf eine bis heute umstrittene Weise. Und ich will nicht verhehlen, in mir klingt eine Feststellung von Burkhard Hirsch aus dem Jahr 2002 nach, die ich als Warnung empfinde: "Die Geschichte des Asylrechts ist auch eine Geschichte der Abwehr von Zuwanderung." // Vielleicht ist es diese Befürchtung, die mich vor einiger Zeit veranlasst hat zu sagen: Wir könnten mehr tun. Wir könnten manches besser tun. Wir müssten es tun in Achtung der Rechte, zu denen wir uns doch verpflichtet haben. Vor allem sollten wir es gemeinsam tun, als Europäer. // Viele Ältere von uns haben selbst noch erlebt, wie Europa ein Kontinent der Flüchtlinge und Vertriebenen war. Dieser Kontinent hat durch eine Geschichte von Gewalt und Kriegen zu den Werten gefunden, auf die wir heute unsere Gemeinschaft in Europa gründen: Menschenrechte und Demokratie, Solidarität und Offenheit - nicht Ängstlichkeit und Abwehr. // In der Flüchtlingspolitik stellt uns das vor ein Dilemma: Einerseits hat die Europäische Union ein legitimes Interesse daran, ihre Außengrenzen zu überwachen und sich vor unkontrollierter Zuwanderung zu schützen. Andererseits muss sie sich fragen lassen, inwieweit sie dadurch die Rechte oder sogar das Leben derer gefährdet, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung Schutz suchen. // Das Jahr ist nun gerade zur Hälfte herum - und schon jetzt sind mehr als 50.000 Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeerraum angekommen, mehr als im gesamten vergangenen Jahr. Darin spiegelt sich auch der bewaffnete Konflikt in Syrien, der zu den anderen, weiter bestehenden Krisenregionen hinzugekommen ist. Ein neuer Konflikt im Irak existiert, wir alle wissen es. // Die wachsende Zahl der Bootsflüchtlinge ist aber auch eine Reaktion auf die zunehmende Abschottung der südöstlichen Landgrenzen der Europäischen Union. Mehr und mehr Fluchtwillige suchen also den Weg, der lebensgefährlich ist, über das Mittelmeer. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind vermutlich rund 23.000 Menschen beim Fluchtversuch übers Meer umgekommen. Sie sind verdurstet, ertrunken oder gelten als vermisst. // Und kaum ein Tag vergeht, ohne dass von neuen Flüchtlingen die Rede ist. Auch der heutige nicht. Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich wissen, ist heute Morgen eine Nachricht herumgegangen, die uns erschüttert hat: Wieder ist ein Boot mit 30 Toten vor der Küste Siziliens entdeckt worden. // Ich kann mich an solche Nachrichten nicht gewöhnen. Niemand in Europa sollte sich daran gewöhnen. Wir sind doch stolz darauf, dass zwei Dutzend Staaten - darunter solche, die über Jahrhunderte hinweg miteinander im Krieg lagen - ihre Grenzkontrollen untereinander abgeschafft und einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" geschaffen haben. Der europäische Gipfel von Tampere, auf dem 1999 über ein gemeinsames Asylsystem verhandelt wurde, war sich übrigens einig: "Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen." So heißt es dort. // Und nun die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa, die Bilder der kletternden Menschen am Stacheldrahtzaun der Exklaven Ceuta oder Melilla - sie passen doch nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben. // Was können, was müssen wir also tun? // Die Bundesrepublik hat bei ihrer Gründung einen fundamentalen Satz in ihre Verfassung geschrieben: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" - ein damals noch ganz nahes und ganz uneingeschränktes Echo auf die Leidensgeschichten ungezählter Deutscher, die vor der nationalsozialistischen Diktatur fliehen mussten. Wir sollten uns an Hannah Arendt erinnern, die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts von Staaten- und Schutzlosigkeit von Menschen das Recht, Rechte zu haben, einforderte. // Sowohl unsere Verfassung als auch die Genfer Flüchtlingskonvention halten uns dazu an, Menschen Zuflucht zu gewähren, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Mögen sich die Gründe für die Flucht in den vergangenen Jahrzehnten auch verändert haben, so bleiben die Kernpunkte der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bis heute gültig. // Für mich gilt daher: Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat sicherzustellen, dass jeder Flüchtling von seinen Rechten auch Gebrauch machen kann - nicht zurückgewiesen zu werden ohne Anhörung der Fluchtgründe, gegebenenfalls auch Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Auch die Hohe See ist kein rechtsfreier Raum, auch dort gelten die Menschenrechte. Dabei beziehe ich mich nicht zuletzt auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. // Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat also nicht nur die europäischen Grenzen zu schützen, sondern auch Menschenleben an den Grenzen Europas. Solange Asylsuchende nur in Deklarationen, nicht aber in der Realität in allen Mitgliedsländern die gleichen Bedingungen von Schutz und Hilfe erleben, werden sich alle europäischen Regierungen fragen lassen müssen, was sie tun, um die Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungsstandards auch tatsächlich in allen Ländern anzugleichen. // Und schließlich haben wir unter Europäern die entstehenden Lasten der Solidarität gerechter, transparenter und solidarischer zu teilen. Ich höre mit Interesse, dass Sie hier beim Symposium auch darüber debattieren werden, wie Lösungen aussehen könnten, die etwa Druck von den Grenzländern nehmen könnten und auch darüber, wie wir als Deutsche Teil einer fairen Lastenteilung sein können. // Eines sollten wir nicht tun: einander vorrechnen, was erst der andere tun muss, bevor wir uns selbst bewegen. Denn die Flüchtlinge, die an Italiens oder Maltas Küsten landen, sind nicht allein die Flüchtlinge Maltas oder Italiens. Es sind nicht allein die Flüchtlinge von Lampedusa. Es sind Flüchtlinge, die in unserem Europa Schutz suchen. Sie haben Rechte, die zu achten wir uns als Europäer gemeinsam verpflichtet haben. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung als Europäer, sie menschenwürdig zu behandeln. // Unser Land hat angefangen - etwa mit den Kontingenten für syrische Flüchtlinge -, auch auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, als Teil unserer Verantwortung in der Welt. Die Bürgerkriegsflüchtlinge brauchen vor allem vorübergehenden Schutz, den wir ihnen mit humanitären Aufnahmeprogrammen bieten können. Die meisten von ihnen wollen doch zurück, wenn es nur irgend geht. // Jene Flüchtlinge aber, die nicht zurückkehren können, weil sie sonst verfolgt oder gar getötet würden, oder weil die Gewalt in ihrem Heimatland einfach nicht beendet ist, sie brauchen eine dauerhafte Lebensperspektive im Exil. Gut, dass Deutschland seit zwei Jahren in einem Resettlement-Programm besonders Schutzbedürftige aufnimmt. Wer mit Menschen spricht, die - oft nach quälenden Jahren der Ungewissheit - endlich ankommen können, der weiß, wie sehr man sich wünschen muss, noch mehr von ihnen würden diese Chance erhalten. Es ist gut, dass die Große Koalition bereit ist, das Resettlement-Programm auszubauen. Die Zahlen sprechen für sich: gesucht werden aktuell Plätze für 170.000 Flüchtlinge. Deutschland nimmt derzeit 300 pro Jahr auf, die gesamte EU ungefähr 5.000, dieUSA alleine hingegen mehr als 50.000. // Insgesamt geht es meines Erachtens darum, die Verfahren für die Flüchtlinge gerechter und effektiver zu gestalten. Schnellere Prüfungen, wie sie im Koalitionsvertrag verabredet wurden, bringen, wenn sie fair bleiben, allen Seiten schneller Klarheit. Zu einer effektiveren Flüchtlingspolitik gehört aber auch, dass wir diejenigen auf humane Weise zurückweisen, die nach den gültigen Kriterien keine Fluchtgründe haben, die zur Aufnahme, jedenfalls bei uns in der Bundesrepublik, berechtigen würden. Ich wünsche mir eine Solidarität, die wir auch leben können. // Es ist gut, dass sich in Bereichen, die lange umstritten waren, inzwischen etwas bewegt: bei der Lockerung der Residenzpflicht etwa oder beim Arbeitsverbot für Asylbewerber. Ich habe vor etlicher Zeit das Übergangswohnheim in Bad Belzig besucht. Und dort habe ich gesehen, dass viele, die dort untätig bleiben müssen, darunter leiden, sich nicht selbst ein besseres Leben erarbeiten zu können. Sie müssen einfach sitzen und warten. Das legt sich schwer auf ihr Gemüt. Die allermeisten von ihnen wollen doch keine Almosenempfänger sein. Gut also, wenn die Zeit des Arbeitsverbots gekürzt wird. Schwierig, wenn die bleibenden Beschränkungen weiterhin die Chance auf einen Arbeitsplatz erschweren. // Grundsätzlich sollten wir überlegen, wie mehr Durchlässigkeit zwischen den Zugangswegen "Asyl" und "Arbeitsmigration" geschaffen werden kann. Denn wer einmal vergeblich um Asyl gebeten hat, wird kaum noch durch ein anderes Tor Einlass finden, auch wenn er oder sie Qualifikationen hat, die hierzulande durchaus gebraucht werden. Viele der Flüchtlinge, die es bis nach Deutschland geschafft haben, sind hochmobil, flexibel, mehrsprachig, leistungs- und risikobereit. // Wir wissen: Die Grenzen sind oft fließend zwischen politisch erzwungener, wirtschaftlich erzwungener oder tatsächlich freiwilliger Migration. Zwar können und wollen wir die Unterscheidung nicht aufgeben, wer schutzbedürftig ist und wer nicht. Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Wohl aber sollten wir - im nationalen wie im europäischen Rahmen - versuchen, unterschiedliche Zuzugsmöglichkeiten vom Studium bis zum Familiennachzug zu gewährleisten. // Erlauben Sie mir eine kleine Abschweifung: Wir sind hier in der Französischen Friedrichstadtkirche, an einem Ort, der - wie auch viele Familiennamen in unserem Land - an eine der berühmtesten Flüchtlingsgruppen der Vergangenheit erinnert: an die Hugenotten. Unser Bundesminister des Inneren hat also einen - ich gebe zu: sehr weit zurückreichenden - Migrationshintergrund. Als seine Vorfahren in diese Gegend kamen, hatten sie eine lange Geschichte von Verfolgung, Bürgerkrieg und Duldungen hinter sich. Damals gab man den Neuankömmlingen die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit einen Platz in der neuen Heimat zu erarbeiten - durchaus zum Vorteil des Aufnahmelandes. Auch daran sollten wir denken in einer Gesellschaft, in der viel über den demografischen Wandel, Bevölkerungsrückgang und drohenden Fachkräftemangel diskutiert wird. // Migration, das haben Studien längst erwiesen, kann ein starker Entwicklungsmotor sein, übrigens auch für die Herkunftsländer. Oder, wie es der berühmte Ökonom John Kenneth Galbraith formulierte: "Migration ist die älteste Maßnahme gegen Armut". Darauf sollten wir bauen, im besten Fall zum allseitigen Nutzen: mit Programmen, die so gestaltet sind, dass sie sowohl den Migranten selbst helfen als auch den Gesellschaften, von denen sie aufgenommen werden - und auf längere Sicht auch den Gemeinschaften und Gesellschaften, die sie verlassen haben. Wir wissen inzwischen zum Beispiel, dass Migranten dreimal so viel Erspartes in ihre Herkunftsländer überweisen wie öffentliche Entwicklungsgelder fließen. Schwerer zu berechnen, aber nicht minder wichtig sind die Kenntnisse und nicht zuletzt die Werte, die sie in ihre Heimat bringen, wenn sie zurückkehren. // "Tun wir wirklich schon alles, was wir tun sollten?" Die Antwort auf diese Frage hängt nicht allein von finanziellen Ressourcen ab oder von politischen Programmen, sondern mindestens ebenso von der Art und Weise, wie ehrlich, pragmatisch und nüchtern die Politik und die Gesellschaft die Herausforderungen der Flüchtlingspolitik diskutiert. Dabei würde deutlich, dass die Zahlen und Proportionen, die ich eingangs nannte, keineswegs so erschreckend sind, dass unsere Hilfsbereitschaft schon überfordert wäre. Solidarität ist zuerst und vor allem eine Grundlage unseres menschlichen Miteinanders und im Übrigen ist sie Kennzeichen unserer Demokratie. // Diejenigen, die kommen, sind Menschen, die oft Schlimmes erlebt und Unterstützung nötig haben. Ich bin den zivilgesellschaftlichen Organisationen dankbar, auch den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden, den Anwälten, all den Ehrenamtlichen, die sich seit vielen Jahren für humane Verbesserungen in der Asylpolitik einsetzen und sich immer wieder gegen diejenigen wenden, die gegen Zuwanderer hetzen oder gar Brandsätze auf Asylbewerberheime werfen. Bewundernswert ist auch das Engagement vieler Kommunen, der Bürgerinnen und Bürger für die ganz konkreten Bedürfnisse von Flüchtlingen. Viele Gemeinden begreifen diese nicht länger als lästige Gäste auf Zeit, sondern als Menschen, denen - egal, wie lange sie bleiben wollen - Brücken in unsere Gesellschaft gebaut werden müssen, weil das auch im Sinne unserer Gesellschaft ist. Es gibt ungezählte Initiativen, die auf die unterschiedlichste Weise Begegnungen fördern und damit auch das Verständnis für die Situation von Asylsuchenden. // Das macht Mut. Wir wollen doch offen sein und offen bleiben für den Wunsch von Menschen, frei zu sein so wie wir das wollen: frei zu sein von Verfolgung, von Gewalt, von Tod. Wir wollen doch dieser ihrer Sehnsucht folgen und wir können dennoch in unserer Politik geerdet bleiben. Mit Verständnis für die Gründe, die Menschen haben, ihre Heimat zu verlassen. Mit Rücksicht, auch auf die Grenzen der Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft. Aber vor allem mit Weitsicht bezüglich der Chancen von Zuwanderung. Wir müssen es sehen wollen. Und wir sehen all dies im Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung als Europäer. // Wir wissen: Es wird nie möglich sein, genug zu tun. Aber wenn wir das uns Mögliche nicht tun, versagen wir nicht nur vor unserem Nächsten, sondern wir verlieren auch die Neigung zu uns selbst, unsere Selbstachtung.
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Joachim Gauck
Wenn der Bundespräsident den Deutschen Bankentag eröffnet, im siebten Jahr nach dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise, dann steht er ganz unterschiedlichen Erwartungen gegenüber. Viele Bürger wünschen sich, dass den Banken wieder einmal die Leviten gelesen werden, dass noch einmal abgerechnet wird mit Gier, Größenwahn, Fehlverhalten und Kontrollverlust. Viele Bankmanager, vielleicht auch manche von Ihnen hier im Saal, wünschen sich dagegen eine Würdigung der Reformen, auch einer neuen Geschäftskultur, um die sich die Politik und die Branche jeweils bemühen. // Beide Erwartungen sind selbstverständlich. // Es stimmt ja: Einige Banken und einige Mitarbeiter haben sich eine Menge zu Schulden kommen lassen. Die Justiz ermittelt noch immer in mehreren Fällen wegen des Verdachts auf Untreue, Bilanzfälschung oder Marktmanipulation. Und erst vor wenigen Tagen wurden weitere Vorwürfe öffentlich: Die Finanzbehörden untersuchen, ob durch einige besonders trickreiche Anlagemodelle der Banken und der Geldanlagefonds Steuern in Milliardenhöhe hinterzogen wurden. Auch dort, wo nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen wurde, war manches Geschäft ethisch fragwürdig, manches Risiko auch unvertretbar hoch. Falsche Anreize im Bonussystem, übersteigerte Gewinnansprüche, verantwortungsloses Verhalten zu Lasten Dritter - da war viel fehlgeleitete Kreativität im Spiel. // Hinzu kamen Mängel in der staatlichen Aufsicht und Regulierung, eine Politik des billigen Geldes und eine hohe Verschuldung bei Staaten, Unternehmen und Bürgern. Das alles trug dazu bei, dass die Stabilität des ohnehin extrem komplexen Finanzsystems unterminiert wurde. Einzelne Banken mussten, weil too big to fail, von der Politik gerettet werden, natürlich auf Kosten der Steuerzahler. So wurde ein zentrales Prinzip der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt: Wer Risiken eingeht, muss für Verluste haften. // Das alles ist oft und völlig zu Recht kritisiert worden - auch ich habe mich gelegentlich kritisch dazu geäußert. // Andererseits ist aber auch richtig: Es hat sich inzwischen viel getan. Banken müssen heute mehr Eigenkapital vorhalten als vor der Krise. Neue Regeln sollen riskante Geschäfte kontrollierbarer, durchschaubarer machen. Mit Stresstests wird die Überlebensfähigkeit der Banken im Krisenfall überprüft. Und nicht zuletzt haben viele Institute Fehler eingestanden, sie haben neue Geschäftsmodelle entwickelt und sie haben sich ethischen Fragen gestellt. Kein Zweifel: Die Branche befindet sich im Wandel. // Ein Zwischenfazit fast sieben Jahre nach Beginn der Krise fällt also gemischt aus: Fehler sind erkannt, politische und unternehmerische Reformen auf dem Weg. Dieser Prozess ist in vollem Gang, aber er ist noch lange nicht abgeschlossen. // So will ich heute weder Bankenbeschimpfung betreiben noch kann ich eine heile Bankenwelt besingen. // Vielmehr möchte ich einen Schritt zurücktreten und mit etwas Grundlegendem beginnen: Ich möchte über Geld sprechen. // Nun wird mancher denken: nicht die originellste Idee auf einem Deutschen Bankentag. Aber ganz so naheliegend ist das Thema eben doch nicht. Denn es ist in unserer Gesellschaft ja keineswegs selbstverständlich, über Geld zu sprechen. Ganz im Gegenteil, es heißt doch oft: Über Geld spricht man nicht! Das gilt als anstößig, als unmanierlich. Es mag im Privatleben durchaus Gründe für diese Meinung geben. Im öffentlichen Leben aber, in der Sozialen Marktwirtschaft, wäre eine solche Haltung fatal. So, als ob sich die Bürger in unserer Demokratie auf die Maxime einigten: "Über Politik spricht man nicht!" // Geld verleiht Einfluss, aber es erzeugt auch Abhängigkeiten. Man kann es verdienen, sparen und anlegen - und dann darauf vertrauen, dass andere es vermehren. Man kann es sich leihen und muss es anschließend zurückzahlen. Banken sind Mittler zwischen Schuldnern und Gläubigern, und sie selbst sind beides: Schuldner und Gläubiger. Geld und Kredit, Forderungen und Verbindlichkeiten erzeugen Abhängigkeiten. Und wo Abhängigkeiten entstehen, da wird auch Macht ausgeübt. // Welche Macht heute von Banken und Finanzmärkten ausgeht, lässt eine einzige Zahl erahnen: 30 Billionen Euro - das ist die Summe der Bankbilanzen im Euroraum. Seit der Finanzkrise hat sich der Wert der weltweit zirkulierenden Schuldtitel noch einmal erhöht. Noch nie gab es so viele Schulden, und noch nie gab es so viel Vermögen wie heute. Nie war also die Rolle der Vermittler zwischen Gläubigern und Schuldnern wichtiger. // Die Finanz- und Schuldenkrise hat uns vor Augen geführt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn Akteure versagen und die Kontrolle lückenhaft ist oder gar ausbleibt. Gerade weil die Wirkungsmacht der Finanzwirtschaft so groß ist und so weit in die Lebenswirklichkeit der Menschen hineinreicht, gerade deshalb ist unser Wirtschaftssystem zwingend darauf angewiesen, dass alle Akteure informiert und verantwortungsbewusst handeln. Alle Akteure, was heißt das? Für mich erstens: die Banken, also ihre Mitarbeiter und Manager. Zweitens die Bürger, die als Anleger nicht nur nach Renditeverheißungen schielen dürfen, sondern auch nach dem Risiko fragen sollten, das ihnen allerdings nicht verborgen bleiben darf. Und drittens die Politik, die vor der Herausforderung steht, die Marktordnung fortzuentwickeln und kluge Regeln zu formulieren, die helfen, die Kräfte des Marktes freizusetzen und gleichzeitig Missbrauch zu verhindern. // Lassen Sie mich mit der besonderen Verantwortung der Banken beginnen. // Es lohnt sich, einen Blick auf die Geschichte Europas zu werfen, um zu verstehen, welche Rolle Banken und Geldwirtschaft beim Weg in die Neuzeit spielten. Damals, als Markt- und Münzrechte verliehen wurden, als die Städte aufblühten, als das Geldwesen sich ausbreitete und das Bankenwesen entstand, da löste sich Europa aus dem Mittelalter. Der Raum des Handels und Austausches wuchs. Und das war gut für die Bürger der damaligen Zeit. Und als sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert zunehmend emanzipierte, da öffnete sich das Bankwesen für Handwerker, Kleinunternehmer und Bauern - und für ihre Ideen. Zur gleichen Zeit entstanden damals die Genossenschaftsbanken, die vom Gedanken der gemeinschaftlichen Selbsthilfe geprägt waren. Diese Bankenwelt, die aus großen Universalbanken und Spezialinstituten, aus Sparkassen und Privatbanken besteht, sie ist heute ein Spiegel der deutschen Wirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt - vom Mittelstand bis zu den international aktiven Großunternehmen. // Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, dass es sich lohnt, an diesem Neben- und Miteinander von Privat- und Genossenschaftsbanken sowie öffentlich-rechtlichen Sparkassen festzuhalten! So viel muss sein auf einem Bankentag. // Heute ist fast jeder Bundesbürger ein Bankkunde, dem Girokonto, Sparbuch, Kreditkarte, Privatdarlehen und manchmal auch ein Wertpapierdepot zur Verfügung stehen. Weil so viele Menschen so einfach so viele Finanzprodukte kaufen können - übrigens durchaus ermutigt von der Politik -, weil in der Branche so vieles neu, schnell und unübersichtlich ist, wächst ihren Managern und Mitarbeitern eine besondere Verantwortung zu - für ihre Kunden und für das Funktionieren unserer Sozialen Marktwirtschaft und damit letztlich für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Staat und Gesellschaft. // Worauf kommt es also an? Auch wenn es ein wenig altmodisch klingt: Mitarbeiter von Banken dürfen sich durchaus am Ideal des ehrbaren Bankiers orientieren, gerade in Zeiten, da die Geschäfte so komplex sind wie nie zuvor. Sie müssen durch Seriosität und Sachkenntnis überzeugen, müssen ihr Handeln erklären können, Chancen und Risiken offenlegen. Und zwar nicht nur im Kleingedruckten, sondern im Klartext. Nicht nur zur eigenen rechtlichen Absicherung, sondern zur bestmöglichen Aufklärung der Kunden. So wird vermieden, dass sich das Risiko, für das sich ein Kunde bewusst entscheidet, in eine Gefahr verwandelt, der er hilflos ausgeliefert ist. // Meine Damen und Herren, an diesem Punkt sehe ich Sie in der Bringschuld! // Ich weiß sehr wohl: Die meisten Akteure des Bankgewerbes in unserem Land halten sich an diese Regeln. Sie haben nichts gemein mit dem Finanzjongleur, der in manchem Hollywoodfilm eine Hauptrolle spielt, sondern sie vergeben Firmen- und Hypothekenkredite, informieren über Spareinlagen und Altersvorsorge - und leisten dabei gute Arbeit. Sie tragen bei zu Wachstum und Dynamik, Beschäftigung und Innovation. // Vertrauen zu erwerben und zu erhalten liegt im eigenen Interesse der Banken. Denn sonst entziehen sie sich selbst und dem Markt die Geschäftsgrundlage. Nichts illustriert dies besser als der Zusammenbruch des Geldmarktes zu Beginn der Finanzkrise, damals haben sich nicht einmal die Banken untereinander vertraut. // Damals zeigte sich, was ich einmal die "Fratze der ungezügelten Freiheit" genannt habe. Es ist die Freiheit, man könnte sagen, der Pubertierenden, die sich nur als Freiheit von etwas definiert, von Regeln, von Zwängen, und die zu wenig nach den Folgen des eigenen Handelns fragt. Dagegen ist die "Freiheit, die ich meine", und nach der wir gemeinsam streben sollten, eine Freiheit zu etwas, zu Gestaltung und Mitgestaltung. Es ist Freiheit in Verantwortung, die die Bindungen und Beziehungen zu anderen Menschen und zum Gemeinwesen respektiert und fördert. // Das ist die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft - nicht der grenzenlose Übermut. Diese Freiheit steht für eine Kultur der Verantwortung, die über den Bilanzgewinn hinausgeht. In unserer Wirtschaftsordnung können Privatleute und Unternehmer gutes Geld verdienen, und sie sollen es sogar. Gewinnstreben ist keinesfalls verwerflich, sondern Voraussetzung für Investitionen und Innovationen. Und wer Geschäfte macht, geht auch immer das Risiko ein zu scheitern. Zur Verantwortung aber gehört es, Verluste dann auch selbst zu tragen. Wer besonders hohe Risiken eingeht, weil er weiß, dass im Notfall ein anderer die Kosten schultern wird, der handelt diesem Prinzip zuwider. // Die Abkehr von Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft hat das Vertrauen der Bürger in die Banken erschüttert. Und, ehrlich gesagt: Angesichts mancher Exzesse verstehe ich das auch. Zugleich habe ich den Eindruck, dass auch die Kritik an diesen Zuständen manchmal das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sie schlägt bisweilen um in eine ganz allgemeine Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft. Da werden Wettbewerb und Freiheit für das Problem gehalten, und nicht deren Missbrauch. Das halte ich für fatal, denn Soziale Marktwirtschaft braucht informierte Bürger, die selbstbewusst am Wirtschaftsleben teilnehmen. Und damit bin ich bei meinem zweiten Punkt angelangt, bei der Rolle der Bürger. // Henry Ford, dem amerikanischen Industriellen, wird folgende Feststellung zugeschrieben: "Es ist gut, dass die Menschen das Bank- und Geldsystem nicht verstehen, sonst hätten wir eine Revolution noch morgen früh." In einem Punkt muss ich da widersprechen: Es ist ganz und gar nicht gut, wenn Bürger einen wichtigen Wirtschaftssektor nicht hinreichend verstehen oder verstehen können. Es ist nicht gut, wenn es vielen schwerfallen muss, Sachverhalte zu durchdringen, weil ganze Teilbereiche der Gesellschaft auf kaum durchschaubare Art miteinander verflochten sind. Selbst Experten haben nach eigenem Bekunden oft nicht nachvollziehen können, was auf den Finanzmärkten tatsächlich vor sich ging. // Banken, ich habe es eben erwähnt, haben hier eine Bringschuld. Aber der Bürger, er hat durchaus auch eine Holschuld. Wer die Quellen unseres Wohlstands verstehen, wer persönliche Chancen nutzen und Risiken einschätzen will, der muss sich informieren und in Finanzfragen kompetenter werden. Er darf sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass man über Geld nicht spricht. // Zum informierten Bürger gehört doch eigentlich eine ökonomische Grundbildung. Studien belegen, dass viele Deutsche hier Nachholbedarf haben. Ich weiß, dass einiges getan wird, um ökonomisches Wissen kreativ zu vermitteln. Da gibt es Beispiele, bei denen junge Menschen in der Schule schon eigene Firmen gründen oder an der Börse handeln. Sie lernen dabei wie Unternehmer zu agieren, von der Produktentwicklung bis hin zu Marketing und Vertrieb. Auch der Bankenverband leistet auf diesem Gebiet einen guten Beitrag. Trotzdem, ich frage mich: Wird die ökonomische Bildung in unseren Schulen und Berufsschulen ausreichend berücksichtigt? Hat das Wissen über ökonomische Zusammenhänge den gleichen Rang, den die Ökonomie heute für unser Leben und Wirtschaften hat? // Das ist nicht nur wichtig, damit der Einzelne gute Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Wie durch politische Bildung Urteilsfähigkeit und Engagement junger Mitbürger gefördert werden kann, so ist auch die Fähigkeit wichtig, wirtschaftspolitische Debatten zu verfolgen, sich dort ein eigenes Urteil zu bilden und sich selbst an den Debatten zu beteiligen. Das gehört elementar zur Demokratie. Deren Schlüsselfigur ist doch der vielzitierte "mündige Bürger". Und der ist auch gefragt, wenn es um die Gestaltung unserer Wirtschaftsordnung geht. Nicht nur politische, auch ökonomische Apathie und Unwissenheit sind gefährlich. // Wie wichtig die Fähigkeit zum öffentlichen Gespräch über wirtschaftliche Fragen ist, das zeigt sich gerade dann, wenn es darum geht, die Konsequenzen aus der Krise zu ziehen. Also: welche Regeln brauchen Banken, welche Grenzen die Märkte? Welche Rolle spielt die Geldpolitik, welche Macht darf sie ausüben? Und wie finden wir den Weg aus der hohen Staatsverschuldung? // Dabei reicht es nicht aus, individuelles und unternehmerisches Handeln in den Blick zu nehmen und nur auf die Veränderung von Mentalitäten und Geschäftsmodellen zu setzen. Das alles ist richtig. Aber es war auch die staatliche Rahmenordnung, die Fehlverhalten ermöglicht und oft auch begünstigt hat. Und damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. // Seit dem G20-Gipfel vor fünf Jahren in Washington wird daran gearbeitet, Banken stärker in Haftung zu nehmen und Regeln zu setzen, um Krisen weniger wahrscheinlich zu machen. Wir Europäer schaffen mit der Bankenunion eine einheitliche Aufsicht im Euroraum und neue Verfahren, um Eigner und Gläubiger in Haftung zu nehmen, wenn Banken ins Schlingern geraten. Damit kann es uns in Europa gelingen, Marktwirtschaft und Währungsunion zu stärken. // Es würde uns guttun, wenn solche wichtigen Fragen nicht allein von kau Fachpolitikern und Experten diskutiert würden, sondern stärker als bisher auch von Bürgern und Medien. Denn es wird weiter um das Ausmaß der Regulierung gerungen werden, gerungen werden müssen. Wir müssen uns fragen: Wurde wirklich schon genug getan, um das Finanzsystem krisenfester zu machen und Exzesse zu vermeiden? Oder geht manche Regel gerade für kleine Banken, die nicht "systemrelevant" sind und mit anderen Banken verflochten sind, vielleicht schon zu weit? // Dazu kann es durchaus unterschiedliche Antworten geben. Eine, die mir persönlich sehr sympathisch ist, stammt von Karl Popper, dem Begründer des Kritischen Rationalismus. Er hat einmal gefordert, den freien Markt nicht als "ideologisches Prinzip" zu betrachten, sondern einfach als eine Ordnung, die davon lebt, dass die Freiheit nur dort zu beschränken ist, wo es aus wichtigen Gründen notwendig ist. Er war sich bewusst, dass oftmals umstritten sein wird, wo genau die Grenze des Notwendigen verläuft. Das wird auch so bleiben. // Diese Grenze in kluger und verantwortungsvoller Weise zu ziehen, das ist Aufgabe der Politik. Sie gibt den Rahmen vor. Mindestens genauso wichtig ist es dann aber, wie Banken und Bürger diesen Rahmen füllen. Lassen Sie uns also weiter diskutieren, wie verantwortungsvolles Handeln von Banken und Bürgern zu stärken wäre. Lassen Sie uns über notwendige Grenzen und die Grenze des Notwendigen auf den Finanzmärkten diskutieren! In diesem Sinne also: Lassen Sie uns über Geld reden.
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Joachim Gauck
Wer Sie würdigen möchte, hat es eigentlich leicht. Denn Ihr beruflicher Lebensweg ist derartig abwechslungsreich und spannend, dass man nur die einzelnen Stationen aufzuzählen hätte und eine Laudatio hielte sich gewissermaßen von selber. // Aber wer von Roman Herzog spricht, der hat natürlich zuallererst den Bundespräsidenten Roman Herzog vor Augen. Und die Erinnerung an diese fünf Jahre lässt naturgemäß die anderen Stationen des Berufslebens etwas in den Hintergrund rücken. Das Stichwort für ihre Amtszeit haben Sie bei Ihrem allerersten Auftritt schon selber gegeben, als Sie davon sprachen, Sie wollten unser Land" unverkrampft" repräsentieren. Um diesen Begriff gab es zunächst ein wenig Aufregung, da einige schon vermuteten, damit solle etwa ein verharmlosender Umgang mit der deutschen Geschichte gemeint sein. // Das war aber nicht der Fall. Sie zeigten es schon sehr bald mit jenen entschiedenen und unzweideutigen Reden, die Sie zum Gedenken an Krieg und Holocaust kurz nacheinander in Bergen-Belsen, Dresden und zum 8. Mai hielten. Hier wurde jedem klar, dass Sie nicht nur mit einer unmissverständlichen Haltung zur Vergangenheit die Köpfe und Herzen zu bewegen vermochten, sondern auch mit Lehren für die deutsche Gegenwart und Zukunft. // Auf Ihre Initiative und Ihre Entscheidung geht es auch zurück, dass wir den 27. Januar als den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begehen. Sie haben ihn proklamiert und haben gleich zwei Mal zu diesem Anlass vor dem Deutschen Bundestag gesprochen: "Wenn wir den Anfängen wehren wollen", so sagten Sie, "müssen wir unablässig wachsam sein." // Dass "unverkrampft" in diesem Zusammenhang ein besonders faires und gerechtes, aber auch ein entschiedenes Urteil ohne falsche Rücksichten meint, zeigte sich in einer anderen wichtigen Rede, die Sie uns Deutschen mit auf den Weg gegeben haben. Sie nahmen Stellung zur damaligen Debatte um Martin Walser und Ignatz Bubis. Sie bedankten sich zugleich bei beiden Kontrahenten, weil beide notwendige Fragen zur "Zukunft der Erinnerung" gestellt hatten. // Das scheint mir typisch für Sie zu sein: Bei aller Belesenheit, bei aller Hinwendung zur Geschichte, ging es Ihnen doch in erster Linie um die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft. Sie haben darüber nicht nur gesprochen, sondern dadurch dafür gesorgt, dass es seit Ihrer Amtszeit den "Deutschen Zukunftspreis" gibt. Ihr Interesse an Innovationen war stark und wirkte motivierend auf andere. Jedenfalls fanden sich genügend Mitstreiter, um den Preis auszuloben. Inzwischen haben die meisten wohl den Eindruck, den Deutschen Zukunftspreis gebe es schon immer. // So haben Sie mit dem Gedenktag des 27. Januar und mit dem Deutschen Zukunftspreis als Bundespräsident zwei bleibende Einrichtungen ins Leben gerufen, die eine die Vergangenheit, die andere die Zukunft betreffend. // Es gibt aber ein Wort - ein Stichwort -, das wie kein zweites mit Ihnen verbunden wird, nämlich den "Ruck". Es würde zu weit führen, all jene Debatten und Wortmeldungen zu rekapitulieren, die mit Ihrer sogenannten "Ruck-Rede" verbunden sind. // Ich will nur noch einmal daran erinnern, mit welch unerschrockenem Elan und tatsächlich unverkrampfter Direktheit Sie sich damals so ziemlich alle Gruppen und Grüppchen des Landes vorgeknöpft hatten, um allen, wirklich allen Mut und Lust zur Veränderung zu machen - Mut und Lust, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. // Eine der Wirkungen dieser Rede ist nun für uns Nachfolger im Amt die mit voraussagbarer Sicherheit immer wieder aufkommende Frage von Journalisten, ob diese oder jene Rede des Bundespräsidenten denn nun seine "Ruck-Rede" gewesen sei oder wann seine "Ruck-Rede" denn nun endlich komme. So haben Sie mit einem der kürzesten deutschen Wörter einen wirklich langen Schatten geworfen. // Ich sprach gerade von Ihrer Ermutigung, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. Das ist, wenn ich es richtig sehe, überhaupt eine Ihrer intellektuellen Lieblingsbeschäftigungen: nämlich Ihre Zuhörer durch überraschende Ideenverknüpfung und so-noch-nicht-Gedachtes zu verblüffen. Verblüffung aber nicht als Selbstzweck des Neunmalklugen, sondern als Anstoß, sich wenigstens gedanklich, gern aber auch politisch-praktisch auf Neuland zu begeben. // Gerade weil Ihnen intellektuelle Trägheit immer ein Gräuel war und ist, sind Sie zwar Mitglied einer Partei geworden, aber Ihr Denken ließ sich nicht von Parteitagsbeschlüssen leiten. Und wer glaubte, dass Sie im Bundesverfassungsgericht nun einfach die sogenannte konservative Fraktion starkmachten, der sah sich durch manches Urteil, an dem Sie beteiligt waren, zum Beispiel jenes zur Demonstrationsfreiheit in Brokdorf, eines anderen belehrt. Aber vielleicht ist das auch Ihr Begriff von Konservativismus: im Zweifel für die Freiheit - und im Zweifel nicht für die felsenfeste Überzeugung, sondern für das bessere Argument. // Dass Sie Ihre bundespräsidialen Reden zur Kultur unter dem Titel "Freiheit des Geistes" herausgegeben haben, spricht für sich. Und es passt zu ihrer unruhigen und unbequemen Art, wenn sie dort "den Mut, echte Fragen zu stellen" fordern und Geduld anmahnen, wenn es nicht sofort eine Antwort gibt: "Wo keine Fragen gestellt werden", so sagen Sie, "wird nichts wirklich Neues entstehen, da erstarren die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wer auf Fragen verzichtet, der hat im Grunde auch auf neue Lösungen schon verzichtet." // In der Tradition des "echten Fragens" scheint mir auch das Institut zu stehen, das Ihren Namen trägt, das Roman Herzog Institut. Es versteht sich selbst als "Plattform für freies Nach-, Vor- und Querdenken." // Freies Denken in alle Richtungen: Das haben Sie in Ihren politischen Ämtern geübt, aber Sie waren lebenslang weit mehr als ein unverbindlicher Ideenschmied. Sie haben als Universitätsprofessor geforscht und gelehrt, als Minister der Exekutive angehört und als Richter und Präsident des Bundesverfassungsgerichts der Jurisdiktion. Erst dann, sozusagen nach dem akademischen und politischen Schwarzbrot - und nachdem Sie das Amt des Bundespräsidenten im Grundgesetzkommentar sorgfältig bedacht und beschrieben hatten - konnten Sie im Amt des Bundespräsidenten laut denken und frei reden. // Vieles wäre noch zu sagen, zum Beispiel zu Ihrem tatkräftigen Engagement für Europa im Verfassungskonvent, oder auch zu Ihrem jüngsten Appell, Europa neu zu denken, auch zu Ihren von tiefer Sorge getragenen Ausführungen zu Demokratie und Demoskopie. Aber wir wollen ja noch ein bisschen miteinander reden und miteinander essen und trinken. // Deswegen will ich ganz zum Schluss noch sagen: Was mich und viele andere immer sehr beeindruckt hat, das ist Ihre Gabe, auch sich selbst auf den Arm zu nehmen. Mir hat man erzählt, Sie hätten einmal auf die Frage, ob Sie sich erklären könnten, warum Sie bei den Leuten so gut ankämen, geantwortet, Sie könnten sich leider nicht von Ihrem bayrischen Dialekt befreien, und darum hätten die Zuhörer, sobald Sie den Mund aufmachten, schon das Gefühl, sie seien im Urlaub und bekämen deswegen umgehend gute Laune. Das ist nicht nur unverkrampft, das ist - verzeihen Sie: cool. // Unendlich viele Menschen in Deutschland denken gern und dankbar an Ihre Präsidentschaft zurück. Ich gehöre zu ihnen, so wie Sie, meine Damen und Herren, die Sie unserem Ehrengast freundschaftlich verbunden sind. Deshalb erheben wir voller Freude unser Glas auf Bundespräsident Roman Herzog.
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Joachim Gauck
Wie sollte man eine Rede an der Universität, die Johann Wolfgang von Goethe im Namen führt, anders beginnen, als mit dem wohl berühmtesten Seufzer der deutschen Literaturgeschichte: "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemüh'n." // Zugegeben, ein ziemlich überraschungsfreier Start in diese Rede. Und wahrscheinlich hätte ich mir das "ach!" verkniffen, wenn nicht vor kurzem in einem Blog der Brief einer Hochschulabsolventin an ihre Universität zu lesen gewesen wäre, der den Monolog des Faust mehr als 200 Jahre später gewissermaßen in unsere Gegenwart übersetzt: // Ich zitiere: "Liebe Uni, ich habe Dich mir anders vorgestellt, jahrelang hatte ich von dir geträumt. Von Diskussionen, von Austausch, von dem Gefühl der Freiheit . Ich hatte mir vorgestellt, wie wir an der Universität wilde Debatten führen. Keynes! Marx! Weber! Liebe Uni, ich dachte Du wärst ein Ort zum Streiten [ ] Diese Leidenschaftslosigkeit war unerträglich " // Nun, es gab natürlich eine Menge leidenschaftlicher Antworten auf diesen vehementen Klagebrief, dem eigentlich nur noch die Faustische Beschwerde fehlte: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor". Viele stimmten der Autorin zu, viele widersprachen aber auch und berichteten von guten Erfahrungen mit ihrer Universität, ihrem Studium und ihren Professoren. // Ich hatte an dieser Stelle das Gefühl, wonach sehnt sich wohl diese Schreiberin? - hoffentlich nicht etwa nach den wilden Zeiten von 1970, als eine der merkwürdigen Seiten dieser Universität geschrieben wurde. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte der Adorno-Lehrstuhl neu besetzt werden, und man kam auf einen der wohl bedeutendsten Marxismus-Forscher der Zeit, auf Leszek Kolakowski. Aber Kolakowski war gerade von seiner kommunistischen Führung in Polen gemaßregelt worden. Nun passierte das Merkwürdige: An dieser schönen freien Universität gab es linke, linksextreme und marxistische Mehrheiten, die ihn wegen fehlender marxistischer Linientreue abwiesen. Der arme Mann musste dann in die akademische Wüste nach Oxford. Soviel zum Zeitgeist. // Die Universität und ihr Zustand, sie lassen die Gemüter nicht kalt. Und das ist gut so. Denn wenn es um die Bildung kommender Generationen geht, steht immer die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Deshalb sollen Universitäten blühen und gedeihen, und zwar zuallererst im Interesse der Studierenden. Hier in Frankfurt sind es 46.000, die durch bestmögliche universitäre Bildung entscheidende Chancen für einen gelingenden Lebensweg erhalten, die aber auch als gut gebildete und gut ausgebildete Absolventen Leistungen erbringen sollen, die dann für die ganze Gesellschaft wertvoll sind. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche: Wenn es um die Zukunft der Universität geht, steht immer auch die Frage zur Debatte, was eine Gesellschaft von ihren Hochschulen erwartet und was sie deshalb bereit ist, für ihre Hochschulen zu tun. Aber dazu kommen wir später. Nur Gutes! // Die Frankfurter Universität, zu deren 100. Geburtstag ich heute von ganzem Herzen gratuliere, sie scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um dieses Wechselspiel zwischen einer Gesellschaft und ihren Hochschulen ein wenig näher zu beleuchten. Diese Universität ist nämlich aus verschiedenen Gründen herausragend: einer davon ist, das wissen wir fast alle oder alle hier im Raum, ihre Entstehungsgeschichte, die sich von anderen Universitäten nun doch deutlich unterscheidet. Zur Gründung der älteren Universitäten in Deutschland führte meist der Wille eines Landesherrn, den Ruhm seines Fürstentums und manchmal auch seinen eigenen zu mehren und die Wirtschaftskraft des Territoriums zu stärken - letzteres durchaus ehrenwerte Motive. // Zur Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren aber führte nicht Fürsten-, sondern Bürgerwille. Frankfurts Bürger, zumindest hinreichend viele, waren der Überzeugung, dass höhere Bildung das Beste ist, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Als"Bildungsbürger" ein rundum positiver Begriff war, "Bürger" im vollsten und eigentlichen Sinne nur der gebildete Bürger war, da begriff man in Frankfurt, dass die Gründung einer Universität so etwas wie eine selbstverständliche Bürgerpflicht war. Mit Recht sind deshalb die Frankfurter Universität und mit ihr die Stadt Frankfurt stolz darauf, dass diese Hochschule eine Bürgeruniversität ist. // Eine Bürgeruniversität lebt vom Engagement. Das war und ist hier in Frankfurt in reichem Maße zu finden, weil man weiß, was eine Universität, eine sehr gute und sehr gut ausgestattete Universität einer Stadt und einer Gesellschaft geben kann, in geistiger wie auch in materieller Hinsicht. Zum einen hilft Bildung, die Welt zu verstehen und zu deuten, und damit auch, in der Gemeinschaft freier Bürger miteinander zu leben. Zum anderen aber bietet sie auch schlicht handfeste Vorteile. // Machen wir uns nichts vor: Wissenschaftliche Bildung wurde schon vor 100 Jahren auch als ein Wirtschaftsfaktor verstanden. Und das war auch richtig so, das müssen wir nicht bekritteln. Darüber hinaus war aber auch die Vorstellung lebendig, dass Bildung durch Wissenschaft der Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit sei, zum selbständigen Denken, zum Gebrauch des eigenen Verstandes und damit zur Emanzipation, zur Befreiung von alten Autoritäten und von den Zwängen der Natur. // Bildung und Emanzipation, oder anders ausgedrückt, vielleicht umfassender: Bildung und Freiheit gehörten und gehören zusammen. Deshalb finde ich es schön, dass wir heute dieses Gründungsjubiläum hier an dieser Stätte, hier in der Paulskirche feiern, einem der vornehmsten Orte der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung. // Die Geschichte der Universitäten, die Geschichte auch der Frankfurter Universität, ist ein Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und ein Teil der europäischen Wahrheitsgeschichte. // Wahrheit und Freiheit sind Geschwister. So wie Forschung und Lehre Freiheit brauchen, um sich zu entfalten und ungehindert nach Wahrheit zu suchen und zu streben, so ist die politische Freiheit darauf angewiesen, dass die Wahrheit zugelassen, dass um sie gerungen und dass sie unzensiert öffentlich gemacht werden kann. Dass die Wahrheit frei macht, das gilt auch für die Bildung, die uns - gemäß dem berühmten Wort von Immanuel Kant - dazu frei macht, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Anleitung eines anderen. // So sind, seit ihrer Erfindung im Mittelalter, Universitäten urbane Orte der Emanzipation. Einer der ersten, die man als Professor fast im modernen Sinne ansprechen kann, ist der Theologe und Philosoph Petrus Abälard. Er entwickelte am Anfang des 12. Jahrhunderts an der jungen Pariser Universität eine wissenschaftliche Methode, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. // "Sic et non" heißt seine bedeutendste Schrift. Darin wird die Methode der kritischen, wissenschaftlichen Befragung aller Autoritäten erstmals systematisch begründet und durchgeführt. Abälard listet in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter auf, die zuvor einfach unhinterfragte und unhinterfragbare Autoritäten waren. Und er zeigt, dass alleine die vernunftgeleitete Interpretation zur Wahrheit führt. Zitat: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit." // Freiheit von Vorurteilen, kritische Befragung aller Autoritäten, genaue Analyse und Interpretation der Quellen, Vernunft als oberste Instanz: Das ist sozusagen die erste "kritische Theorie" des Abendlandes, und sie bleibt wesensbestimmend für jegliche wissenschaftliche Arbeit, überall bis heute. Dass sie keineswegs leicht durchzusetzen war, zeigt nicht nur, aber auch die Geschichte Abälards, die von Kämpfen, Verurteilungen, Verbannungen geprägt ist. So wird es immer sein: Emanzipation und die Befreiung von Autoritäten, sie werden nie als Geschenk verteilt. Sie müssen immer erkämpft werden. // Die Kontinuität akademischen Denkens, wie es unsere Hochschulen geprägt hat, ist vor allem eine Kontinuität des kritischen Bewusstseins. Was in Paris mit "Sic et non" beginnt, das führt über die großen "Kritiken" des Königsbergers bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. // Wir wissen allerdings auch und wir dürfen das auch heute an einem solchen Festtag nicht verschweigen, dass die Universität nicht automatisch und nicht immer die aufgeklärte Stimme der Vernunft gewesen ist. Nicht immer hat der Geist die wichtigste Rolle gespielt und nicht immer die interesselose Suche nach der Wahrheit. Auch der Ungeist, ja, die bewusste Lüge, Rassismus, Antisemitismus sind in Universitäten in Deutschland zu Hause gewesen. Intellektualität, wir wissen es leider, ist noch kein wirksamer Schutz gegen Barbarei. Das ist eine der bitteren Lehren aus den Erfahrungen des Dritten Reiches. Auch die Frankfurter Universität hat sich in diesen finsteren Jahren sehr schnell und sehr gründlich von ihren jüdischen Lehrenden und Lernenden getrennt. "Säuberung" nannte man das damals. Dabei verdankte sie doch ihre Gründung zu einem guten Teil dem jüdischen Bürgertum dieser Stadt. Und ein großer Teil des akademischen Glanzes speiste sich aus den Leistungen der Juden, die hier lehrten. // Aus allen deutschen Städten übrigens verschwanden mit den Juden doch Säulen der Gesellschaft: Philanthropie, kultureller Glanz, wissenschaftliche Exzellenz, auch ein aufgeklärter Patriotismus, Verluste ohne Gleichen. Und dazu die Gejagten und all die getöteten Menschen. Im Bewusstsein dieser Verluste und des verzögernden Erkennens und des Benennens der Schuld, die zu diesen Verlusten führte, hatte nun die Gesellschaft eine große Aufgabe nach dem Krieg. Und hier in Frankfurt hat die Frankfurter Universität nach dem Dritten Reich und nach dem Krieg versucht, an ihre glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Ich stelle mir das äußerst schwierig vor, in diesen Zeiten, in denen äußere und innere Zerstörung das Land prägte. Aber es gelang. Einige Gelehrte sind sogar aus dem Exil zurückgekehrt, um beim geistigen Aufbau eines besseren Deutschlands von Frankfurt aus mitzuhelfen. Jeder kennt noch die Namen von Adorno und Horkheimer, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelten, die fast zur Überschrift für eine geistige Grundhaltung, ja, für eine wichtige Phase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde. All das war eng mit Frankfurt verbunden. // Die Geschichte der Frankfurter Bürgeruniversität ist eine Erfolgsgeschichte. Aber auf Erfolgen kann man sich nicht ausruhen. Jede Zeit stellt die Universitäten vor neue Herausforderungen, aber auch vor neue Chancen. // Die ungeheure Steigerung der Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, damit auch die steigende Zahl von Dozenten und Professoren, all das hat einen anderen Typ von Universität geschaffen, als man sie noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. // Das ist ein beispielloser bildungspolitischer Sprung: Wo früher eine akademische Laufbahn nur einer schmalen Elite eines Jahrgangs vergönnt war, sind es heute mehr als ein Drittel. Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen, stieg seit Anfang der 1950er Jahre von etwa fünf auf etwa fünfzig Prozent. Ich weiß um die damit verbundenen Probleme, die gelegentlich auch zu besprechen sind. Das will ich aber an dieser Stelle nicht tun. Diese Steigerung hat den Charakter der Hochschulen grundlegend verändert, und sie musste natürlich auch gestaltet und sie musste finanziert werden. Um die Frage der Hochschulfinanzierung wird bis heute gerungen. Viele Dozenten und Professoren klagen, dass sie sich angesichts der Fülle der Aufgaben vom Kern ihrer Profession, von Forschung und Lehre, entfernen, ja, manchmal entfernen müssen. Es galt und gilt also, eine neue Balance zu finden zwischen Forschung und Lehre, zwischen Spitze und Breite. // Eine Herausforderung, die die Gründer der Frankfurter Universität vor 100 Jahren ebenfalls noch nicht in dieser Deutlichkeit vor Augen hatten, war der Beitrag, den Bildung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zum sozialen Aufstieg jeder und jedes Einzelnen leisten kann und soll. Jetzt fällt mein Blick auf unsere Gesellschaft, wie sie sich heute darstellt. Wir leben heute in einer Einwanderungsgesellschaft. Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen verfügt über einen Migrationshintergrund. Das gesamte Bildungssystem muss - sollte ich sagen: müsste - sich dieser Aufgabe stellen. Es gibt inzwischen viele Initiativen, die diese Herausforderung angenommen haben. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit stand ich hier an derselben Stelle, um die Teilnehmer der Start-Stipendien-Initiative zu begrüßen und zu beglückwünschen. Eine große deutsche Stiftung hat der Tatsache Rechnung getragen, dass wir eine besondere Förderung dieser Gruppe von Auszubildenden brauchen, die - mit einem Migrationshintergrund ausgestattet - nicht dieselben Startmöglichkeiten haben wie Kinder aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Wir müssen verstehen, dieser Realität von Einwanderung gerecht zu werden, sie als praktische Aufgabe zu sehen. Und ich bin dankbar für die Initiativen und die Personen, die sich hier auf diesem Feld engagieren, Hilfe in der Sprachförderung oder durch kulturelle Beiträge. Im Sport haben wir inzwischen gelernt, dass jedes Talent Förderung verdient und dass diese Förderung alle bereichert. Die gleiche Einsicht wünsche ich mir auch in der Bildung und in der Wissenschaft: von der Kita über die Schule bis zur Universität. An jeder dieser Stationen können wir noch viel mehr tun, um allen jungen Menschen in diesem Land ein gelingendes Leben zu ermöglichen. // Nach meinem Verständnis kann und muss die Universität eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft spielen, vielleicht sogar eine aktivere Rolle als gegenwärtig schon üblich. Ausländische Studierende und junge Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen Hilfe. In manchen Fällen ist finanzielle Unterstützung notwendig, etwa durch spezielle Stipendienprogramme. Am wichtigsten aber sind Vorbilder und Ermutigung, und zwar schon lange vor der Immatrikulation. Es darf nicht sein, dass die Herkunft eines Menschen - sei es die soziale oder die ethnisch-kulturelle - darüber entscheidet, welche Zukunft dieser Mensch hat! Der Schlüssel, um solche Herkunftsbarrieren zu überwinden, der heißt Bildung. Die Geschichte von Bildung als Emanzipation, sie geht also weiter. Und sie muss weitergehen. // Ist die alte "Bürgeruniversität" auch diesen neuen Herausforderungen gewachsen? Hier in Frankfurt haben Sie eine klare Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben das Prinzip der Bürgeruniversität neu für sich entdeckt, Sie haben sich ganz bewusst zu Ihren Wurzeln bekannt. Denn seit 2008 ist die Goethe-Universität wieder Stiftungsuniversität. Das Modell soll dazu dienen, Hochschulen und Bürgergesellschaft stärker zu verbinden. Es eröffnet großherzigen und weitblickenden Stiftern und Förderern die Möglichkeit, Verantwortung für die Universität zu übernehmen. Der Umbau zur Stiftungshochschule stärkt die Eigenverantwortung der Institution. Die Stiftungshochschule kann zugleich ein Wir-Gefühl und eine Identität entwickeln, die Lehrende und Lernende verbindet und eine starke Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellt. // Es zeigt sich immer wieder: Bildung und wissenschaftliche Spitzenleistung brauchen so eine förderliche Umgebung. In Frankfurt gibt es dieses bildungsfreundliche Umfeld. Kooperation und Austausch sind damit wesentliche Erfolgsfaktoren dieser Universität, die sich nie als Elfenbeinturm, sondern immer als bürgerschaftliches Forum begriffen hat. Auch dazu kann man heute wahrlich gratulieren. // Eines will ich aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das Lob der Förderer und der Stifter und der Ruf nach weiterem bürgerschaftlichen Engagement für gute Bildung darf keineswegs dazu führen, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung im Bildungswesen zurückzieht. Stifter sind keine Ausfallbürgen in Zeiten knapper Kassen - sie schaffen einen Mehrwert. // Es ist darüber hinaus richtig und wichtig, an neue Mittel und Wege zu denken, um Kräfte zu bündeln. So überlegen richtigerweise Bund und Länder seit der vergangenen Legislaturperiode, wie sie den Bildungsföderalismus fortentwickeln können, um den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das wird am Ende allen nutzen: den Studierenden, die attraktive Studienbedingungen vorfinden, den Hochschulen, die ihre Stärken weiter ausbauen können, und unserem Land als Wissenschaftsnation. // Die Konzentration der Kräfte ist auch deshalb wichtig, weil gute Hochschulen heute in einem weltweiten Wettbewerb stehen. In diesem Wettbewerb wird der Frankfurter Universität ihre Besonderheit als Bürgeruniversität, aber auch die öffentliche Unterstützung, zugute kommen. // Europa, so hat neulich der indische Autor Pankaj Mishra geschrieben, habe seine Leuchtkraft verloren. Es habe früher mit seiner kulturellen und intellektuellen Kraft Vertrauen in die Allgemeingültigkeit seiner Erfahrungen und Lösungen erzeugt. Und dieses Vertrauen sei nun heute verlorengegangen. // Ich teile bei weitem nicht alles, was dieser Autor ausführt. Eines aber, was er sagt, halte ich doch für so wichtig, um es hier vorzutragen: Europa, so schreibt er, müsse die eigene kritische und kosmopolitische Tradition wiederbeleben, es brauche Offenheit, Widerspruch und kein homogenes Weltbild. // Wozu uns ein indischer Autor hiermit aufruft, ist doch nichts weiter als die alte und ewig junge Beschreibung von Aufgabe und Wesen der europäischen Universität, die in ihren guten Zeiten immer weltoffen war und die immer bereit war, auch fremde Erfahrungen aufzunehmen. Gehen wir also ans Werk. Gehen wir daran, diese, unsere europäische Universität wieder so lebendig werden zu lassen, dass es intellektuell gleichermaßen Herausforderung und Freude ist, an ihr zu lehren und zu lernen. // Enden wir, wie wir begonnen haben, mit Goethe: Als er im Alter von 16 Jahren daran ging, ein Studium aufzunehmen, gab es diese Frankfurter Universität noch nicht. So ging er nach Leipzig. Von dort schrieb er am 13. Oktober 1765 an seinen Vater: // "Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah!" Das waren noch Zeiten: Professoren in ihrer Herrlichkeit! Das ist irgendwie endgültig passé. Aber könnte es nicht möglich sein, die Universität als Ganzes, als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Stiftern, Förderern und Bildungspolitikern zu einer neuen Herrlichkeit zu führen? Ich wüsste nicht, was ich dieser Goethe-Universität zu Frankfurt am heutigen Tage besseres wünschen könnte.
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Emanuel Geibel
Viel vermag, wer überraschend wagt.
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Christian Fürchtegott Gellert
Berühmt zu werden ist nicht schwer, man darf nur viel für kleine Geister schreiben.
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Hans-Dietrich Genscher
Die Zukunft kann besser sein und sie wird besser sein, wenn wir die neuen Technologien richtig verwenden.