Zitate zu "Demokratie"
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Joachim Gauck
Angesichts dieses in jeder Hinsicht herausragenden Gästekreises möchte ich Sie alle - gewissermaßen praemissis praemittendis - als Freunde und Wegbegleiter des Jubilars ganz herzlich willkommen heißen. // Wenn der Bundespräsident eine Tischrede zu Ehren von Helmut Schmidt hält, dann sieht er sich vor eine doppelte Herausforderung gestellt. Zum einen ist schon so viel über den Staatsmann und politischen Publizisten, den Menschen Helmut Schmidt gesagt worden, dass der Jubilar, der Redner und die Zuhörer die Wiederholung fürchten müssen. Zudem ist es einfach ein Ding der Unmöglichkeit, alle Verdienste Helmut Schmidts in einer menschenfreundlichen und dazu noch protokollarisch vorgegebenen Zeit zu würdigen und dabei dann auch noch seiner Persönlichkeit nur annähernd gerecht zu werden. // Ich möchte Ihnen deshalb an diesem heutigen Abend nur das mitteilen und sagen, was mich persönlich an Helmut Schmidt beeindruckt hat, in all den Jahren, in denen ich sein Wirken aus der Ferne und Nähe nun verfolge. Und es wird Sie nicht wundern, dass ich mit dem Weg zur deutschen Einheit beginne. // Das erste Mal bin ich Ihnen, lieber Herr Schmidt, in Rostock begegnet, meiner Heimatstadt, das war auf dem Kirchentag im Juni 1988, wie auch Ihnen, liebe Frau Hamm-Brücher, Sie waren auch dort. Damals, als Deutschland und Europa noch geteilt waren, die Zeit der Perestroika aber bereits angebrochen war, damals hielten Sie eine Rede in der Rostocker Marienkirche, allem Widerstreben der SED zum Trotz. Denn erst nach hartnäckigen und zähen Verhandlungen und Zurückweisung der Forderung der SED, wir, Kirche und Kirchentag, sollten Sie wieder ausladen, was wir nicht taten, sind Sie dann doch nach Rostock gekommen. Weit mehr als 2.500 Menschen waren damals in die Marienkirche gekommen, um Ihnen zuzuhören, und man empfing Sie so, wie man eben ein Idol empfängt. Ein Offizier der Stasi fasste das, was sich bei Ihrer Begrüßung abspielte, laut Stasi-Akten in fünf Wörtern zusammen: "Jubelrufe, lang anhaltender stürmischer Beifall." // Ihre Rede damals gab der Christen- und Bürgergemeinde Kraft. Es war vor allem ein Satz, der vielen, die dabei waren, in Erinnerung geblieben ist. Sie sagten damals: "Jeder von uns weiß, dass wir eine Aufhebung der Teilung nicht erzwingen können. ( ) Und trotzdem darf jeder von uns an seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation festhalten." Was wir damals noch nicht wussten: Genau in dieser Kirche versammelten sich dann ein Jahr später, 1989, die Rostocker, um jeden Donnerstag mit dem Wort Gottes und den neuen politischen Programmen gegen die kommunistische Diktatur zu protestieren. Und während sie das taten, verwandelten sie sich von Untertanen in Bürger. // Damals hat sich eine Hoffnung erfüllt, zu der wir 1988 noch gar kein rechtes Zutrauen hatten. Seitdem hat sich unendlich viel verändert. Eines aber, lieber Helmut Schmidt, ist unverändert geblieben: Auch heute hören Ihnen die Menschen zu, auch heute bringen sie Ihnen großen Respekt entgegen. Einer Umfrage zufolge sind Sie sogar "das größte lebende Vorbild der Deutschen". // Schon viele haben versucht, das Phänomen Helmut Schmidt zu ergründen. Ich will mich da lieber nicht einreihen. Was ich aber tun möchte, ist, Ihnen zu sagen, warum ich mich freue, Sie heute hier in Schloss Bellevue zu Gast zu haben. Ich freue mich, weil ich Ihre Erfahrung schätze, Ihre politische Urteilskraft und Ihre geistige Unabhängigkeit. Und weil viele Stationen Ihres Lebens auch für mich bedeutsam waren, als Bewohner der DDR und später als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die fast ein ganzes Jahrhundert erlebt und reflektiert hat."Unser Jahrhundert" - so nannten Sie Ihre Rückschau, die Sie zusammen mit Fritz Stern 2010 veröffentlicht haben. Uns begegnet ein Mann mit republikanischen Werten - zuvörderst aber mit einem deutlichen Ja zu politischer Verantwortung und ausgestattet mit einer im politischen Raum nicht eben häufigen Tugend, dem Mut. // Besonders beeindruckend finde ich, wie offen Sie im Rückblick auch über schwierige Gewissensentscheidungen gesprochen haben. Noch im Zweiten Weltkrieg, in dem Sie als Offizier der Wehrmacht kämpften, standen Sie vor der quälenden Frage: Wann endet die Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat, wann beginnt die individuelle Verantwortung und wo die Schuld? // Die Erfahrungen von nationalistischer Hybris, von Krieg und Massenmord haben Sie, wie viele Zeitgenossen, zu einem überzeugten Europäer gemacht. Bei Ihrem Geburtstagsfest im Hamburger Thalia Theater sagten Sie Anfang des Jahres: "Ich wünsche mir, dass die Deutschen begreifen, dass die Europäische Union vervollständigt werden muss - und nicht, dass wir uns über sie erheben." Dass Sie dies sagten, gerade Sie, das hat Gewicht. Ich bin mir sicher: Ihre Denkanstöße leisten einen wichtigen Beitrag, im Vorfeld der Europawahlen im Mai und hoffentlich weit darüber hinaus. // Lassen Sie mich noch einmal zurückschauen in eine schwierige Phase Ihres Lebens. // Als Bundeskanzler sahen Sie sich, vor allem im "Deutschen Herbst" des Jahres 1977, mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion konfrontiert und vor die Frage gestellt: Darf sich ein demokratischer Staat erpressen lassen, darf er Gefangene gegen Geiseln austauschen? Was soll man tun, wenn die Staatsräson in Konflikt gerät mit dem Leben von Einzelnen? Sie haben damals mit Ihrem Gewissen gerungen, und ich bewundere Sie für einen Satz, der so einfach klingt und einem doch so schwer über die Lippen kommt: Er lautet: "Ich bin verstrickt in Schuld." // Dies sehr klar zu erkennen und zu benennen und gleichwohl die beständige Pflicht zum Handeln zu akzeptieren, zeichnet einen großen Politiker aus. // Lieber Herr Schmidt, Sie haben immer wieder Mut und Pflichtbewusstsein, Führungskraft und Standfestigkeit bewiesen, auch in Situationen, die Sie persönlich und politisch an Ihre Grenzen brachten. Der NATO-Doppelbeschluss zum Beispiel war im ganzen Land, auch in Ihrer Partei, der SPD, heftig umstritten - aber die Geschichte hat Ihnen Recht gegeben. Sie haben erlebt, wie es ist, wenn man in der Politik nicht wegen eines Versagens, sondern wegen einer politischen Entscheidung plötzlich den Rückhalt verliert, wenn es einsam wird auf dem Gipfel der Macht. Sie haben auch erlebt, was es ausmacht, die Gestaltungsmacht zu verlieren und die Regierungsverantwortung dann dem politischen Gegner zu überlassen. Sie kennen den bitteren Geschmack der politischen Niederlage. Sie wissen besser als ich, dass solche Lebensphasen auch eine Einladung enthalten. Eine dunkle Einladung zu Fatalismus, Pessimismus oder gar zu Zynismus. // Sollte Ihre Psyche jemals solche Einladungen erhalten haben, so haben Sie es vermocht, sie auszuschlagen. // Später, außer Dienst, als politischer Publizist und Herausgeber der ZEIT, haben Sie sich immer wieder in die öffentlichen Debatten eingemischt, und das tun Sie bis heute. Ihre Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Moral, orientiert an Ihren vier"Hausapothekern" Marc Aurel, Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper, haben das politische Denken dieses Landes beeinflusst. Sie sind ein Verteidiger unseres parlamentarischen Systems, der nicht müde wird, den friedlichen Meinungsstreit und den Kompromiss als demokratische Tugenden zu würdigen und für pragmatische, verantwortungsvolle Politik zu werben. // Wer Ihr publizistisches und politisches Lebenswerk in der Gesamtschau betrachtet, der ist überwältigt von der thematischen Vielfalt. Einer Ihrer"Hausapotheker", Marc Aurel, dessen "Selbstbetrachtungen" Sie als Soldat stets im Tornister trugen, hat einmal geschrieben: "Tue nichts widerwillig, nichts ohne Rücksicht aufs allgemeine Beste, nichts übereilt, nichts im Getriebe der Leidenschaft." Das klingt in meinen Ohren - verzeihen Sie - stark nach Helmut Schmidt - nach einem Mann, der sich ganz der Sache hingibt, sorgfältig arbeitet, auch viel Zeit am Schreibtisch verbringt. Ein Arbeitsethos übrigens, das auch geeignet ist, einem gefährlichen Vorurteil zu begegnen: dem Vorurteil nämlich, Politik sei ein dubioses Geschäft, das vor allen Dingen von Leichtgewichten betrieben werde. // Fleiß, Pflicht und Vernunft, Weber und Kant, das alles klingt erst mal kühl, rational, streng. Ich glaube, zu Ihrer Beliebtheit heute hat ebenso eine andere Seite Ihrer Persönlichkeit beigetragen, die es seit langem gibt. Ich meine den Mut, die eigene Meinung deutlich und ohne andauernde Rückversicherung zu sagen. Manchmal durchaus eigensinnig, dann wieder hinreißend sozialdemokratisch. Ein Weltbürger mit universellen Interessen - und zugleich immer in Hamburg-Langenhorn -, bodenständig und beständig brahmseeverbunden. Ich schweige von Sturheit, möglicherweise norddeutsch, denn ich möchte nicht vom Rauchen sprechen. // Lieber Herr Schmidt, nun zum Schluss muss dann aber der Satz kommen, auf den ich mich schon lange gefreut habe und den ich als Präsident der Bundesrepublik Deutschland mit großer Dankbarkeit ausspreche: Sie haben sich verdient gemacht um unser Land. Ihr tätiges Leben für unsere Republik, Ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen - all das macht Sie zu einem Vorbild für aktuelle und künftige Politikergenerationen. Die Demokratie braucht Menschen wie Sie. // Bitte erheben Sie Ihr Glas auf Helmut Schmidt und Frau Ruth Loah. Auf Ihre Gesundheit und Ihr Wohl!
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Joachim Gauck
Auf einem Historikertag darf man doch sicher mit einem Kaiser beginnen. Ich beginne mit dem letzten deutschen Kaiser, Franz Beckenbauer. Er erzählt gelegentlich von einem Ereignis, bei dem er selber ausnahmsweise einmal Verlierer war. Es handelt sich um das Vorrundenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 1974, genauer gesagt in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem die Auswahl der DDR gegen die der Bundesrepublik 1:0 gewann. // Franz Beckenbauer soll dann, wie auch andere Akteure damals, immer sinngemäß gesagt haben: "Ohne die Niederlage gegen die DDR wären wir '74 nie Weltmeister geworden. Denn nur dadurch wurden wir radikal mit unseren Schwächen konfrontiert, die wir dann in der Folge abstellen konnten". Also: Eine schmähliche Niederlage, ausgerechnet gegen die DDR, bereitete für die Mannschaft der Bundesrepublik den großen Triumph, die Weltmeisterschaft vor. // Ich erzähle diese deutsch-deutsche Sportanekdote natürlich, weil sie auf direkte und einschlägige Weise zum Thema passt, das Sie sich gegeben haben, wenn Sie hier auf dem 50. Deutschen Historikertag über Gewinner und Verlierer sprechen wollen. Ich gestehe, dass mich dieses Thema naturgemäß sehr fasziniert, und mich interessiert daran besonders der immer wieder - nicht nur im Sport - zu beobachtende dialektische Umschlag zwischen Sieg und Niederlage. // Bevor ich näher darauf zu sprechen komme, zunächst ein Wort zum heutigen Anlass und zum heutigen Ort: Göttingen. // "In Göttingen schien die Sonne." So beginnt Walter Kempowski in seinem Roman "Herzlich Willkommen" die Kapitel, die von der Studentenzeit des Erzählers handeln. // "In Göttingen schien die Sonne": Dieser oberflächlich so schlichte Satz ist die Überschrift über ein ganz neues Leben für jenen nicht mehr so ganz jungen Erzähler. Als Kind hatte er den Krieg und die Nazizeit erlebt und die Zerstörung seiner - und übrigens auch meiner - Heimatstadt Rostock, er hatte den Verlust allen Familienbesitzes erlitten, und war dann selber von der sowjetischen Besatzungsmacht aus politischen Gründen gefangen und gequält worden, hatte acht Jahre Zuchthaus in Bautzen erlebt, mit Einzelhaft. All das hatte er hinter sich. Und zudem musste er mit der Schuld leben, dass durch ihn auch seine Mutter und sein Bruder in Haft gekommen waren. Kurz: Er hatte selber schon genügend Geschichte, ja, sogar Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt und erlitten. // Der kommt nun, Mitte der 1950er Jahre, hierher ins sonnenbeschienene Göttingen, in die bemüht heile Welt der westlich-westdeutschen Nachkriegszeit, um an der Pädagogischen Hochschule zu studieren, unter anderem Geschichte - dort ausgerechnet, wo die Geschichte nicht nur stillzustehen, sondern, wie er findet, gar nicht stattgefunden zu haben scheint: "Göttingen, das war eine Stadt, als wenn nichts gewesen wäre, eine Stadt, so wie man sie in älteren Fotobänden abgebildet sieht, in Brauntönen, Fachwerkgassen im Gegenlicht." // Nun wissen wir heute, dass auch in Göttingen die Zeit nie stehen geblieben ist. Auch das ehemals so beschauliche Städtchen beherbergt heute eine Universität mit bald 30.000 Studentinnen und Studenten. Das wollen wir in diesem Zusammenhang gern erwähnen, und die Universität und die Stadt sind stolz darauf, diesen Historikertag hier mit all den Gästen zu begehen. Ein fast unüberschaubares Programm wartet auf Sie, die rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und dass auch die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft gigantische Fabrikationsstätten historischen Wissens und historischer Publikation geworden sind, wird uns bei einem solchen Anlass recht deutlich bewusst. Das alles ist beeindruckend, und ich freue mich, bei Ihnen zu sein und wünsche Ihnen viel Erfolg. // Alles auf Erden ist Geschichte, alles hat Geschichte. Aber was gewinnen wir eigentlich, wenn wir uns damit befassen? Ist es nicht belastend oder gar kränkend, wenn wir uns vor Augen führen, dass nichts denkbar ist ohne ein Vorher, und dieses Vorher, das haben nicht wir, sondern andere gemacht? Lange vor uns sind Entscheidungen getroffen worden, die auch uns binden, obwohl wir nicht dazu gehört wurden. Dazu zählt auch Schuld, die wir nicht selber auf uns geladen haben, an der wir aber heute noch zu tragen haben. // Aber was vor uns geschah, ist oft ja auch Wohltat und Gewinn: Lange vor uns sind die Kämpfe ausgetragen worden, die uns auch heute noch Freiheiten schenken, für die wir selber nicht streiten mussten. Lange vor uns sind die Leistungen erbracht worden, aufgrund derer wir heute Wohlstand, Frieden und Sicherheit genießen. // Es gibt also, auch in den Zeiten der scheinbar generellen Machbarkeit und des Anspruchs auf unbedingte individuelle Autonomie, so etwas wie ein Schicksal, etwas Unverfügbares, von dem sich niemand voll und ganz emanzipieren kann. // Aber genau hier erscheint dann die wirkliche Aufgabe. Zwar sind wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr aber allemal. Und ist es nicht dieser Umgang, der oftmals darüber entscheidet, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten vermögen? // Wir haben zwar unsere Vorgeschichte nicht gemacht, wir können nichts dafür, wie sie verlaufen ist, dafür glauben wir aber, dass wir besser als unsere Vorfahren wissen, was zum Beispiel an ihren Entscheidungen falsch und was richtig gewesen ist. Wir haben - wie wir denken, und sicher oft zu recht - bessere und tiefere Einsichten. Und wir können oft nur den Kopf schütteln über die Einstellungen, Urteile und eben auch über die Entscheidungen von früher. Wir sind sozusagen kognitive Geschichtsgewinner oder vielmehr: Wir könnten es sein, wenn wir bereit sind zu lernen und genau hinzuschauen. // Nehmen wir nur die Beispiele, die die großen Gedenktage des laufenden Jahres bieten, allen voran der 100 Jahre zurückliegende Beginn des Ersten Weltkrieges. In aller Deutlichkeit sehen wir heute, dass damals auf allen Seiten weitgehende Wahrnehmungsverweigerungen geherrscht haben müssen, die bis zu partieller Blindheit gingen. // Heute sehen wir eine Unfähigkeit, Folgen bestimmter Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Oder wir erkennen auch heute eine zynische Einstellung der Herrschenden oder Befehlenden gegenüber dem Leid der Untertanen. // Auch erblicken wir eine maßlose Selbstüberschätzung und eine unbedachte Bereitwilligkeit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen und das alte Europa eine "Welt von gestern" werden, also untergehen zu lassen. // Extrem unverständlich erscheint es uns heute, dass die Eliten von 1914 den Krieg als reinigendes Feuer empfinden konnten, dass ihr Unbehagen oder ihr Überdruss gegenüber der Moderne positive Untergangsphantasien hervorbringen konnte, ohne dass Einigkeit auch nur über die Konturen einer "neuen" Welt geherrscht hätte. // Ebenso sehen wir heute, um nur ein Beispiel aus einem anderen Zeitabschnitt zu nennen, welche Fehler zum Beispiel die Westmächte vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gemacht haben: Genannt wird dann oft das Münchner Abkommen mit Hitler. // Aber wissen wir es wirklich besser als die Akteure von damals? Oder wissen wir lediglich mehr, nämlich wie die Geschichte weiterging? Im Augenblick des Geschehens kann niemand die Geschichte des Geschehens selber erzählen. Robert Musil, der im Ersten Weltkrieg Teilnehmer an den so absurden wie barbarischen Dolomitenschlachten war, hielt sarkastisch fest: "So also sieht Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts." // Nur weil wir später dran sind, können wir heute die Geschichte erzählen. Und erzählen heißt ja, einen sinnvollen, plausiblen Zusammenhang zwischen den Fakten und den Ereignissen herzustellen. // Beides ist übrigens wichtig: Wenn die Historiker einerseits penibel und klar Fakten ermitteln und erforschen, Quellen aufsuchen und präsentieren, und wenn sie andererseits Geschichte in Geschichten zu erzählen wissen, die uns Sinn erschließen können durch eine bestimmte Perspektive der Erzählung. Gerade dieses Erzählen kann die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und auf diese Weise auch ethische und politische Fragen an uns heute stellen. // Dass wir heute vieles genauer sehen können, weil wir später dran sind, das darf uns nicht zu Besserwisserei und Hochmut verleiten. Im Gegenteil: Als kognitive Geschichtsgewinner lernen wir Skepsis und gewinnen die ständige Bereitschaft zur Überprüfung unseres eigenen gegenwärtigen Handelns. Wenn zum Beispiel, wie wir immer wieder feststellen, unsere Vorfahren von Vorurteilen geleitet wurden oder intellektuellen Moden folgten: Mit welchem Recht und mit welcher Sicherheit können wir eigentlich glauben, dass wir nicht selber zeitgeistigen Plausibilitäten oder schlichten Fehlurteilen aufsitzen? Es besteht aber genauso die Gefahr, dass Geschichte ideologisch missbraucht oder instrumentalisiert wird. // Mir ist zum Beispiel in Erinnerung, dass nicht nur Teile der Medien, sondern auch Lehre und Forschung im Westen die Erfahrungen mit der konkreten kommunistischen Herrschaft, die Konstruktion von der Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen nur unzureichend darzustellen vermochten. // Das gewinnen wir in der Beschäftigung mit der Geschichte: Skepsis und kritisches Bewusstsein. Wenn die Geschichte auch nur selten eindeutige Handlungsoptionen für die Gegenwart bereitstellen kann, die sich aus historischer Erfahrung gleichsam von selber ergeben, so kann sie uns doch vor Selbstgefälligkeit und Unbelehrbarkeit warnen. // Historisch gebildet zu sein, das heißt doch eigentlich: seiner Endlichkeit, seiner Fehlbarkeit und der Offenheit der Geschichte eingedenk zu sein. Wer so historisch reflektiert lebt, der denkt zweimal nach, bevor er handelt, und er bemüht sich, mit Einsicht in das Notwendige zu handeln, mit Rücksicht auf die anderen und mit Hinsicht auf die denkbaren Folgen, auch die sogenannten unwahrscheinlichen. // Eines lernen wir aus der Geschichte auf jeden Fall: Es gibt, und damit sind wir wieder hier, bei Ihrem Thema, es gibt meistens Gewinner und Verlierer. Wir sollten uns nicht lange mit Klagen darüber aufhalten, dass das so ist, sondern fragen: Wie geht der Verlierer mit dem Verlieren, der Gewinner mit dem Gewinnen um? Und auch: Wie verhält sich der Verlierer zum Gewinner und der Gewinner zum Verlierer? // Kommen wir zunächst auf den jungen Mann zurück, der, ohne Zweifel ein Verlierer, schwer geprüft nach Göttingen kommt, wo für ihn, nach all der erlebten Lebensfinsternis, die Sonne scheint. Was macht er hier? Hadert er endlos mit dem unverdienten Schicksal? Sinnt er auf Rache? Reicht es ihm aus, alle Welt seine Verletzungen spüren zu lassen? Nein, so ist es nicht. Er lässt sich ganz auf Neues ein, er ist sehnsüchtig nach neuer Erfahrung, nach Leben, nach Lernen, nach Liebe. Er - und man darf und soll in dem Erzähler Kempowski selber erkennen - er bleibt nicht der Gefangene seiner Vergangenheit. Indem er sie gestaltet, wird er zum Gewinner: Er schreibt die Erinnerungen an seine Gefangenschaft auf, er führt Interviews mit seiner Mutter und mit Verwandten, er sammelt die verlorenen Bücher seiner Kindheit. Er, der schuldlos acht Jahre seines Lebens im Zuchthaus verloren hat, wird später zu einem unermüdlichen Sammler, zum Historiker und Erzähler, zuerst seiner selbst, dann seiner Familiengeschichte, dann der Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert. // Aus dem Verlierer, aus dem Opfer wird aus eigener innerer Kraft der Schriftsteller Walter Kempowski, der mit dem "Echolot" und der "Deutschen Chronik" ein Werk schafft, das auch international seinesgleichen sucht. Der unter die Räder der Geschichte geraten war, zum Objekt der Mächtigen, hat sich selber zum Schöpfer und zum Subjekt seiner Geschichte und der seines Volkes geschrieben. Sieht so ein Verlierer aus oder - ob zwar gezeichnet und unter die "gebrannten Kinder" zu rechnen - nicht eben doch ein Gewinner? // Was am Beispiel dieses Einzelnen zu zeigen ist, das gilt auch für Nationen, für Völker oder Völkergruppen. Wo steht denn geschrieben, dass Verlierer Verlierer bleiben müssen? Und kommt es nicht tatsächlich alles darauf an, wie im Nachhinein mit der Niederlage umgegangen wird - wie im Übrigen auch mit dem Sieg? // Achten wir beim Nachdenken darüber nicht nur auf bewaffnete Konflikte, sondern auch auf andere Entwicklungen, die von Siegern und Verlierern sprechen lassen. // Da ist zum Beispiel die Geschichte der Industrialisierung. Uns steht einerseits die Rasanz des Fortschritts vor Augen, mit den Eisenbahnen, den großen Fabriken, die allüberall entstehen, den Erfindungen des Funks zum Beispiel, dem Verlegen der ersten Seekabel, und so weiter - und andererseits wissen wir doch alle um die Berichte über das erbärmliche soziale Elend, ob sie nun geschrieben waren von Friedrich Engels über "die Lage der arbeitenden Klasse in England" oder ob es die Protokolle des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern sind, der über die himmelschreiende Not der Ärmsten in Hamburg berichtete. // Da gab es ohne jeden Zweifel echte Verlierer, und es gab Verlorene und Mühselige und Beladene, Erniedrigte und Beleidigte. Und doch war diese Entwicklungsphase auf lange Sicht ein wichtiger Ausgangspunkt für eine unglaubliche Verbesserung der Lebensumstände für alle, an der viele mitwirkten und die weltgeschichtlich ohne Beispiel ist. Zugespitzt gefragt: Hat ein König um 1800 so leben können wie der durchschnittliche Europäer im Jahre 2014? Nie hat es sich - in diesem Teil der Erde, in dem wir leben dürfen - leichter und angenehmer leben lassen, nie konnten vor allem Krankheit und Armut besser bekämpft werden als heute. Und - schauen wir wieder zurück - durch die sozialistische Arbeiterbewegung, durch christliche Gesellschaftslehre, durch demokratische Parteien und Gewerkschaften haben der Arbeiter und der sogenannte "kleine Mann" Recht, Würde und Stimme bekommen. Ob das Wissen darum, dass das passieren würde, ein Trost gewesen wäre für die damaligen Verlierer der Geschichte, das steht auf einem anderen Blatt, einem Blatt, das ich etwas später gesondert aufschlagen werde. // Gewinner und Verlierer: Manchmal changiert das Bild, der Verlierer sieht wie der Sieger aus oder umgekehrt. // Wir sprechen zum Beispiel in Westeuropa vom Ersten Weltkrieg als der "Urkatastrophe" des Jahrhunderts - und zwar unabhängig davon, ob wir in England oder Frankreich zu den Siegern oder ob wir in Deutschland zu den Verlierern des Krieges gehören. Bei anderen Kriegsteilnehmern aber denkt man ganz anders. // Ich hatte vor kurzem acht Historiker aus acht europäischen Ländern zu einer Diskussionsveranstaltung ins Schloss Bellevue eingeladen. Es ging um die Frage, wie in den verschiedenen Ländern heute an den Ersten Weltkrieg erinnert wird. Dabei wurde vollkommen klar, dass die Polen oder die Tschechen und Slowaken oder auch Serben oder Kroaten, Esten, Letten und Litauer keineswegs von einer Urkatastrophe sprechen, da doch ihre Staaten oder Staatenbünde erst durch den Ersten Weltkrieg und nach dem Zerfall der Großreiche gegründet oder wiedergegründet werden konnten. Die neuen Nationen sind also Gewinner, obwohl die aus ihnen stammenden Soldaten zum Teil oft auf Seiten der Verlierer-Imperien gekämpft hatten. // Und wie geht man mit dem Verlieren um? Nehmen wir unser Land, Deutschland. Der erste Blick nach 1918: Auf der einen Seite spüren die Deutschen damals so etwas wie ein Aufatmen, als mit der Niederlage im November endlich die Republik und die Demokratie kommen. Aber nicht alle haben dieselben Gefühle. Alle aber drücken schwer die Reparationen, die der Versailler Vertrag, der auch von Ressentiment und Rache geprägt war, dem Land auferlegt hat. Und es drückt schwer die als ungerecht empfundene Behauptung, der Alleinschuldige am Krieg gewesen zu sein. Und man glaubt nicht an die Realität der militärischen Niederlage. Man lügt sich das Gegenteil vor und behauptet und tröstet sich mit der Legende: der vom Dolchstoß. // Diese Hypothek, so wissen wir es alle, lastet schwer auf der jungen Republik, bei allem guten Willen und aller aufrichtigen Anstrengung besonnener und überzeugter Demokraten. Zu viele bleiben damals abseits. Trotz "roaring twenties" und großer Aufschwünge in den goldenen Zeiten vergraben sich viele in Gram und hadern verstockt mit dem Schicksal. Andere sind einfach nur verelendet. Die soziale Not der Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Rachephantasien wachsen, andere Schuldige werden gesucht und gefunden: mal sind es Juden oder Bolschewisten, für manchen schlicht die Demokratie, die einige Verächter schlicht "das System" schimpfen. Eine Selbstvergewisserung mit klarem Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten bleibt größtenteils aus. Von rechts und links wird die schwache Republik angegriffen und verraten. So erobern Hitler und die Nazis ein Land, das nicht mit sich ins Reine gekommen war. // Wie anders geht das Land nach 1945 mit der Niederlage um! Da blieb kein Raum für Lebenslügen wie 1918. Und die, die es versucht haben, sind mit diesem Versuch gescheitert. Militärisch war Deutschland eindeutig besiegt und moralisch, auch nach eigener schmerzhafter Einsicht einiger, später dann vieler seiner Bürger, zutiefst diskreditiert. Weder der Verlust von Gebieten noch Reparationszahlungen führten zu so bedeutenden revanchistischen Kräften, dass sie dauerhaft politisch durchsetzungsfähig gewesen wären. Aber das Land konnte mit der Niederlage auch deshalb anders umgehen, weil es von den Siegern anders behandelt wurde, also schon bald wieder in den Kreis der möglichen, dann der tatsächlichen Partner aufgenommen wurde. Zwar stellen der beginnende Kalte Krieg und die Aufteilung des Landes in zwei Blöcke eine besondere Situation dar, aber zumindest im Westen wurden Chancen geboten, gesehen und ergriffen. // Eine entschiedene Haltung der ausgestreckten Hand seitens der Sieger hat - zunächst für einen Teil unseres Landes - zu einer glücklichen neuen Geschichte geführt. Schon 1944 hatte das Britische Foreign Office für die britischen Soldaten, die nach Deutschland gehen sollten, in diesem Geist einen Leitfaden geschrieben, der noch heute lesenswert ist. Die Haltung lässt sich zusammenfassen in der Aufforderung: Be smart, be firm, be fair. Oder ausführlicher: "Es ist gut für die Deutschen, wenn sie sehen, dass Soldaten der britischen Demokratie gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair und anständig sein können. Die Deutschen müssen selber fair und anständig werden, wenn wir später mit ihnen in Frieden leben wollen." // Ich versage mir an dieser Stelle einen Exkurs darüber, dass die Besiegten der sowjetischen Besatzungszone weder freundliche Sieger noch eine erfreuliche Zukunftsperspektive hatten. Das muss ich auslassen, denn in diesem Falle würde ja der größte Gegner der Historikerzunft, nämlich der Zeitzeuge, auf der Bühne stehen. // Umso größer ist mein Respekt für eine Haltung, die den gegenwärtigen Feind schon als künftigen Partner sieht. Sie verhindert die Perpetuierung von Sieg und Niederlage, von Rache und Vergeltung, und sie wird so einem neuem Krieg oder der Bereitschaft, ihn zu führen, vorbeugen. // Von ähnlicher Art waren im Übrigen die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück, die 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendeten und auch die Friedensordnung des Wiener Kongresses 1815, also vor bald genau 200 Jahren. Man ersparte sich das Aufrechnen, auch die moralische Verurteilung des Feindes. So schuf man, im Gegensatz zu Versailles, eine Friedensordnung, die fast 100 Jahre hielt. Allerdings gab es auch hier neue Verlierer, nun waren sie im Innern der Staaten. Denn die neue Internationale der Fürstenhäuser, die in weiten Teilen die alte geblieben war, sicherte ihren Frieden auch gegen die freiheitlichen Bestrebungen ihrer eigenen Bürger. Ich bin dankbar, dass vorhin die Göttinger Sieben erwähnt wurden - anderer Zeitzusammenhang, aber dasselbe Problem. // Ein anderes Beispiel: Nach 1945 konnte eine Gruppe aus unserer Bevölkerung, die sich nach dem jüngsten Krieg ganz besonders als Verlierer fühlen musste, die Chance ergreifen, zu Gewinnern zu werden. Ich spreche von den Flüchtlingen und Vertriebenen, die zu Millionen ihre Heimat, Haus und Hof, also praktisch alles verloren hatten. Sie hatten eine fundamentale Erfahrung gemacht: Was ihnen blieb, war nur ihr Können, ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr Fleiß, ihr Glaube, ihre Bildung. "Was du gelernt hast, kann dir keiner nehmen!" Diese Erfahrung wurde damals in vielen Familien weitergegeben. Und überdurchschnittlich viele von ihnen haben in der Nachkriegszeit weit überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse erzielt. Vieltausendfach sind hier Aufstiegsgeschichten zu erzählen, führte die persönliche Entfaltung sozusagen auf die Gewinnerstraße. // Dennoch, wir wissen es, konnten oder wollten manche den unwiederbringlichen Verlust ihrer Heimat und das erlittene Unrecht nicht akzeptieren. Andere, viele aber, fühlten sich einer besseren Zukunft in neuer Heimat verpflichtet und wurden so zu Wegbereitern der Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn - und so noch einmal zu Gewinnern für unser Land. // Von Gewinnern und Verlierern hat man auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Ich kann das nur sehr bedingt nachvollziehen. Wo für alle Freiheit anbricht, wo für alle Freizügigkeit, Recht und demokratische Mitwirkung ermöglicht werden, wo für alle die Chancen eröffnet werden, sich frei zu entfalten, da kann doch vom Verlieren eigentlich nur reden, wer Privilegien eines Unrechtsstaates genossen hat. // Aber schauen wir genauer hin: Es existieren zweierlei Verlusterfahrungen. Neben der politisch gewollten Ablösung der politischen Eliten und ihres sehr kleinen Herrschaftszentrums musste eine sehr große Zahl Beschäftigter in Funktionseliten der öffentlichen Verwaltungen, des Parteiapparates, von Polizei, Militär und Geheimpolizei in eine unsichere Zukunft überwechseln. Dabei ist weniger der Verlust an materieller Sicherheit als der Verlust einer sich über zwei Generationen herausgebildeten Rollensicherheit von Bedeutung für die Lebensgefühle der Betroffenen. // Und auch wer sich als unpolitischer Zeitgenosse an die Defizite mit der Zeit gewöhnt hatte - und es gab eine ganze Sammlung von Defiziten -, wer sich privat in den berühmten "Nischen" ein lebbares Leben errichtet hatte, war dann, als sich alles änderte, häufig überfordert vom neuen System, reagierte also, wenn nicht mit Ablehnung des Neuen, so doch mit starken Fremdheitsgefühlen - und das besonders natürlich, wenn man seine Arbeit verloren hatte und das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich gebraucht zu werden. Aber alles in allem sind die Deutschen und insbesondere die Ostdeutschen insgesamt Gewinner der Vereinigung. // In der Dialektik der Gewinner- und Verlierergeschichte werden immer wieder, wenn wir genauer hinschauen und etwas tiefer blicken, zwei Muster offenbar, die zu den grundlegenden abendländischen Erlebnis- und Erzählmustern gehören und die bis heute prägend sind. Sie haben beide eine religiöse, genauer, eine christliche Wurzel. // Da ist einmal die Geschichte des absoluten Verlierers, der, selber gewaltlos und friedlich, unschuldig verhaftet und sogar hingerichtet wird. Von den religiösen und staatlichen Autoritäten vernichtet. Seine Anhänger verzagt, verstreut, verloren. Doch wenig später entsteht in ihrem Kreis die Botschaft, er sei von den Toten auferweckt worden, also von Gott selber gerechtfertigt, von der höchsten Instanz. In dieser mythosgleichen Geschichte des Jesus aus Nazareth findet der denkbar größte Umschlag von Niederlage in Sieg statt. // Und diese Geschichte, sie trat nun selber einen Siegeszug an: erzählt zunächst von einer kleinen, verfolgten Verlierersekte, erobert sie Schritt für Schritt das römische Weltreich. Es war diese Geschichte und die mit ihr begründete Praxis der Nächstenliebe zu den Verlierern und Verlorenen, die ohne Gewalt, ohne politische Tricks, ohne strategische Planung plötzlich gegen alle anderen Geschichten gewann. Dass das unschuldige Leiden nicht vergeblich erlitten wurde, dass es einen Sinn hat und Rechtfertigung erfährt, das war eine Hoffnung, der sich Menschen seither gerne hingaben und hingeben. // Das andere, korrespondierende Muster der Geschichte vom Verlieren und doch Gewinnen, handelt vom selbst verschuldeten Leid. Diese individuelle Schuld- und Leidenserfahrung kann zu Einsicht, Reifung, dann zu Versöhnung und zu neuem Anfang führen - auch für sie gibt es eine Geschichte in der Bibel, etwa die, die vom verlorenen Sohn handelt. // Ob selbstverschuldet oder schuldlos erlitten: Leid muss nicht sinnlos sein, es kann zu Läuterung, Besinnung, neuem Selbstvertrauen führen. Bis heute lieben wir deshalb Geschichten, ob in Büchern oder Filmen, ob in der Oper oder im Theater, in denen die Helden ein schweres Schicksal erleiden, daran fast endgültig zu zerbrechen drohen und zu scheitern drohen, dann aber, vielleicht geläutert, vielleicht mit neuer Kraft und Stärke, alle Widrigkeiten besiegen und gleichsam wieder auferstehen, aufstehen. // An diese Erzähl- und Erlebnismuster muss ich denken, wenn ich mir und uns die Frage stelle: Was ist nun mit den Opfern, die keine neue Zukunft mehr hatten, was ist mit den wirklichen und endgültigen Verlierern, den Verlierern der Geschichte, die nicht erhöht wurden, die keine Chance zu einer Läuterung bekamen und denen jeder Triumph versagt blieb? Mit den Opfern von Völkermord und Holocaust, von Krieg, was ist mit den Opfern von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Epidemien? Mit den unschuldig leidenden Kindern? Was ist mit denen, die ein metaphysischer Trost nicht erreicht, denen die gerade zitierten Geschichten von Tod und Auferstehung fremd oder unglaubwürdig, jedenfalls nicht zugänglich sind? // Hierauf, das weiß ich, können Historiker, aus ihrem Beruf heraus jedenfalls, keine Antwort geben. Die Frage nach dem Sinn von Leid, nach dem Sinn oder der Rechtfertigung von jedem einzelnen Leidenden, jedem einzelnen Opfer, sie kann nicht historisch beantwortet werden. // Aber diese Frage könnte nach meinem Verständnis doch die Geschichtsschreibung durchaus begleiten. Auch wenn die Geschichte, wie man sagt, von den Siegern geschrieben wird, ist doch immer auch die Geschichte der Marginalisierten zu erzählen, der Unterdrückten, der Geschlagenen. Und das geschieht doch auch schon. Es gibt doch schon einen erprobten Perspektivenwechsel. // Geschichtsschreibung kann ihnen keinen Sinn zusprechen, aber Geschichtsschreibung kann ihnen ihre Würde lassen, diesen Opfern, über die wir eben gesprochen haben. Sie kann ihnen ihre Würde lassen oder wiedergeben, wenn sie ihre Stimmen zu Wort kommen lässt oder wenn sie die zum Schweigen Gebrachten in Forschung und Lehre in die Erinnerung einbringt - und in der Schule. // Hier, im Gedächtnis des Leids, liegt jene "gefährliche Erinnerung", wie der Theologe Johann Baptist Metz es nannte und von der er oft so eindringlich gesprochen hat, die wir wieder brauchen, damit sie uns immer wieder beunruhigt und aus jeder Selbstgenügsamkeit aufrüttelt. Er, Metz, formulierte vor nun 40 Jahren für die Synode der deutschen Katholiken die folgenden bewegenden Sätze: "Die vergangenen Leiden zu vergessen und zu verdrängen, hieße uns der Sinnlosigkeit dieser Leiden widerspruchslos zu ergeben. Schließlich macht auch kein Glück der Enkel das Leid der Väter wieder gut, und kein sozialer Fortschritt versöhnt die Ungerechtigkeit, die den Toten widerfahren ist. Wenn wir uns zu lange der Sinnlosigkeit des Todes und der Gleichgültigkeit gegenüber den Toten unterwerfen, werden wir am Ende auch für die Lebenden nur noch banale Versprechen parat haben." // Erinnerung in diesem starken Sinne ist die Erinnerung daran, dass auch unsere Existenz sich dem Opfer anderer, vor uns Lebender verdankt, das nicht vergeblich gewesen sein soll und nicht vergeblich gewesen sein darf. Und dass wir in unserem Leben dazu aufgerufen sind, Leid nach Möglichkeit zu verhindern, Menschen, so es an uns liegt, nicht zu Opfern werden zu lassen. Das kann durch Unterlassen des Bösen geschehen oder durch Tun des Guten. // Etwas liegt mir zum Schluss noch am Herzen, es hat auch mit Gewinnen und Verlieren zu tun. Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der" Geschichtslosigkeit" und "Geschichtsvergessenheit" der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen. Unaufhörlich, so sieht es aus, sind wir mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin? // Oft haben wir den Eindruck, die Zukunft, sie käme sozusagen von allein, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, sie sei im Grunde das Werk einiger weniger Ingenieure, Softwarefirmen, Investoren und vielleicht auch noch von Politikern. Dazu kommt das Gefühl: Die Welt ist heute so komplex geworden, dass die Folgen vieler Entscheidungen nicht mehr abzusehen sind. Die gegenwärtigen Krisen tun ein Übriges, um uns ratlos zu machen und viele von uns zu lähmen. // Aber die Zukunft, sie kommt nicht von selbst, früher nicht und heute nicht. Wenn wir uns auch daraufhin einmal die Geschichte anschauen, dann sehen wir, dass - jenseits aller Zufälle und unbeabsichtigten Wechselwirkungen - das meiste bewusst von Menschen gemacht, von Menschen bewirkt worden ist - oder auch von Menschen verhindert. Wer die Hand in den Schoß legt und glaubt, die Zukunft würden schon andere für ihn gestalten, der macht sich selber schnell zum Opfer und wird sehr schnell auf eine ungute Verliererstraße geraten. // Alles, was wir heute so intensiv genießen, Frieden, Freiheit, unseren Wohlstand - was Menschen in so vielen Teilen der Welt so bitter fehlt - ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen. Und es ist zerbrechlich und endlich, wie alles Menschenwerk. Es muss verteidigt, erneuert, wo nötig, neu errungen werden. Es gibt kein Ende der Geschichte. // Wenn die Geschichte keinen Schluss kennt, dann gilt aber auch, dass es nie zu spät ist, gegenwärtiges Leid und Unglück zu wenden. Dann ist Hoffnung sinnvoll, dann kann uns Hoffnung zu entschiedenem Handeln motivieren. // Wir haben es zu einem großen Teil selber in der Hand, ob wir uns im Spiel dieser Welt als Gewinner oder als Verlierer beschreiben können. Wenn die Geschichte auch oft als Lehrmeisterin wenig brauchbar ist: Gute und ermutigende Beispiele, wie aus vermeintlichen Verlierern durch eigenen Mut und eigene Tatkraft, aber auch durch solidarisches Handeln, Gewinner werden können, die gibt es in Fülle. // Meine eigene Lebenserfahrung - und nun meldet sich doch der Zeitzeuge - sie lehrt mich, dass es nicht umsonst ist, sich stark zu machen für eine andere, bessere Zukunft, für eine Veränderung der Verhältnisse. Sicher, so etwas wie die Friedliche Revolution 1989 in Mittelosteuropa und der DDR - so etwas geschieht nicht alle Tage. Aber was wir dort erlebt haben, das bleibt ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Geschichte selbst in Situationen, die unabänderlich erscheinen, beeinflussbar und gestaltbar ist. // Wir haben es, zu einem Teil wenigstens, auch in der Hand, dass das Spiel dieser Welt weniger Verlierer und mehr Gewinner haben kann. Es liegt auch an uns, ob wir auf Kosten anderer siegen wollen oder ob wir dafür sorgen, dass möglichst viele zu Gewinnern werden. Es liegt auch an uns, dass Verlierer eine neue und gerechte Chance bekommen. Es gehört zu der Verantwortung, zu der unser Land sich in Wort und Tat bekennen muss und bekannt hat, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, in welch mühsamen und kleinen Schritten auch immer, auch und gerade durch unseren Beitrag wachsen mögen. // Die Geschichte gibt uns kein unfehlbares Wissen darüber, was in einer gegebenen Situation richtig ist. Aber wir können aus der historischen Erfahrung ganz gewiss eine Überzeugung gewinnen: Wer sich für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat, für das Recht und die Gerechtigkeit, für Anstand, für Menschlichkeit, der mag vielleicht eine Zeit lang auf der verlorenen Seite gewesen sein - auf der falschen war er nicht.
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Joachim Gauck
Der Tag der Deutschen Einheit. Das ist für unser Land seit 25 Jahren ein Datum der starken Erinnerungen, ein Anlass für dankbaren Rückblick auf mutige Menschen. Auf Menschen, deren Freiheitswille Diktaturen ins Wanken brachte, in Danzig, Prag und Budapest. Auf Menschen auch in Leipzig, Plauen und so vielen anderen Orten der DDR, die mit der Friedlichen Revolution die Vereinigung beider deutscher Staaten überhaupt erst vorstellbar werden ließen. Ich begrüße mit besonderer Freude diejenigen unter uns, die damals dabei waren. Wir wären heute nicht hier, wenn Sie damals nicht aufgestanden wären! // Am 3. Oktober denken viele von uns an den Klang der Freiheitsglocke, an die Freudentränen nicht nur vor dem Reichstag, an die Aufbruchsstimmung, die uns beherrschte, ja: an großes Glück. // Aber in diesem Jahr ist doch manches anders. So mancher fragt: Warum zurückblicken? Hat die Bundesrepublik momentan nicht drängendere Probleme, drängendere Themen als dieses Jubiläum? Was können wir feiern in einer Zeit, in der hunderttausende Männer, Frauen und Kinder bei uns Zuflucht suchen? Einer Zeit, in der wir vor so immensen Aufgaben für unsere Gesellschaft stehen? // Meine Antwort darauf lautet, ganz einfach: Es gibt etwas zu feiern. Die Einheit ist aus der Friedlichen Revolution erwachsen. Damit haben die Ostdeutschen den Westdeutschen und der ganzen Nation ein großes Geschenk gemacht. Sie hatten ihre Ängste überwunden und in einer kraftvollen Volksbewegung ihre Unterdrücker besiegt. Sie hatten Freiheit errungen. Das erste Mal in der deutschen Nationalgeschichte war das Aufbegehren der Unterdrückten wirklich von Erfolg gekrönt. Die Friedliche Revolution zeigt: Wir Deutsche können Freiheit. // Und so feiern wir heute den Mut und das Selbstvertrauen von damals. Nutzen wir diese Erinnerung als Brücke. Sie verbindet uns mit einem Erfahrungsschatz, der uns gerade jetzt bestärken kann. Innere Einheit, so machen wir uns klar, innere Einheit entsteht, wo wir sie wirklich wollen und uns dann ganz bewusst darum bemühen. Innere Einheit entsteht, wenn wir uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns von Zweifeln oder Phantastereien treiben zu lassen. Und innere Einheit lebt davon, dass wir im Gespräch darüber bleiben, was uns verbindet und was uns verbinden soll. // Auch 1990 gab es die berechtigte Frage: Sind wir der Herausforderung gewachsen? Auch damals gab es - wir haben es schon gehört - kein historisches Vorbild, an dem wir uns orientieren konnten. Und trotzdem haben Millionen Menschen die große nationale Aufgabe der Vereinigung angenommen und Deutschland zu einem Land gemacht, das mehr wurde als die Summe seiner Teile. // Für mich steht die positive Bilanz im 25. Jahr der Deutschen Einheit außer Frage. Auch wenn es zuweilen Enttäuschungen gab, wenn Wirtschaftskraft und Löhne nicht so schnell gewachsen sind, wie die meisten Menschen in Ostdeutschland hofften, und wenn die finanzielle Förderung länger währt, als die meisten Westdeutschen wünschen, so ist doch gewiss: Die große Mehrheit der Deutschen, gleichgültig woher sie stammen, fühlt sich in diesem vereinten Land angekommen und zuhause. Die Unterschiede sind kleiner geworden und besonders in der jungen Generation, da sind sie doch eigentlich gänzlich verschwunden. Deutschland hat in Freiheit zur Einheit gefunden - politisch, gesellschaftlich, langsamer auch wirtschaftlich und mit verständlicher Verzögerung auch mental. // Es ist wieder zusammengewachsen, was zusammengehörte - Willy Brandt hat Recht behalten. Allerdings war der Prozess der Vereinigung deutlich schwieriger, als die meisten in der Euphorie vor 1989/90 glaubten. Beide Seiten hatten sich ihre Eindrücke vom "Drüben" ja lange nur aus der Ferne gemacht. Als wir einander schließlich direkt in Augenschein nehmen konnten, da waren viele Menschen überrascht, einige auch erschrocken. "Alles marode", sagten die einen. "Alles Show", fanden die anderen. // Eins stimmt natürlich: Noch hat der Osten das wirtschaftliche Niveau des Westens nicht erreicht. Gleichwohl, das Bild vom maroden Osten ist inzwischen Vergangenheit. Der äußere Wandel ist überdeutlich in Vorher-Nachher-Bildern darstellbar: hunderttausende von Eigenheimen, sanierte Straßen, Dörfer, Städte, gerettete Baudenkmäler und Kulturstätten, saubere Flüsse und Seen. All die runderneuerten Landstriche, sie geben Anlass zur Freude. Sie sind Zeugnisse einer großen gemeinsamen Anstrengung und Belege dafür, dass auch die Westdeutschen die Einheit als gesamtdeutsche Aufgabe angenommen haben, zeigten sie sich doch von Anfang an solidarisch mit jenen, von denen sie über Jahrzehnte getrennt worden waren. // Ich kann und will dies am heutigen Festtag nicht für selbstverständlich nehmen, sondern ich will es würdigen, ausdrücklich und dankbar. // In diesem Zusammenhang sollten wir uns außerdem bewusst machen, dass auch die Westdeutschen den Ostdeutschen ein Geschenk gemacht haben: mit dem Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Grundrechte sichert, mit einer funktionierenden Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einem sozialen System, das die Schwachen auffängt. // Allerdings hat die Einheit den meisten Westdeutschen im täglichen Leben wenig abverlangt, den Ostdeutschen dagegen mit einem enormen Transformationsdruck sehr viel. Das neue Leben im Osten brachte ja nicht nur volle Einkaufsregale, schnelle Autos und bunte Reisekataloge. Es brachte auch die massenhafte "Abwicklung" sogenannter volkseigener Betriebe, brachte damit Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Leere Werksgelände, leere Plattenbauten, leere Schulklassen - all das hinterließ seelische Spuren. Selbst für die Jüngsten von damals, die sich heute als "Wendekinder" bezeichnen, sind dies prägende Erinnerungen, sie sind in ihrem Gedächtnis geblieben. // Für 16 Millionen Menschen änderte sich in kürzester Zeit fast alles. Aber manches - gemessen an den großen Hoffnungen - eben nicht schnell genug. Erst allmählich wurde klar, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse und Mentalitäten in Ost und West eine Aufgabe, ein Prozess von Generationen - ja: Plural! - sein würde. // Schmerzlich mussten wir im Osten erfahren, dass wir Demokratie 1989/90 zwar über Nacht erkämpfen, nicht aber über Nacht auch erlernen konnten. Gestern Untertan, heute Citoyen: was für ein Irrtum! Ohnmacht hatte sich in vielen Köpfen eingenistet. Ohnmacht nach Jahrzehnten totalitärer Diktatur, in denen die Grundrechte der Menschen beschnitten und das eigenverantwortliche Tun gelähmt war, in denen freie Wahlen ein ferner Traum bleiben mussten. So erklärt sich die wohl größte Herausforderung der Ostdeutschen im vereinten Land. Es galt, jahrzehntelange Selbstentfremdung zu überwinden, möglichst im Zeitraffer. Es galt, genau das zu tun, was vorher alles andere als erwünscht war: selbständig zu denken, selbständig zu handeln. Von Freiheit nicht nur zu träumen, sondern Freiheit in der Freiheit tatsächlich zu gestalten. // Trotz aller Schwierigkeiten: Millionen Ostdeutsche haben den persönlichen Neuanfang gewagt und bewältigt, unter neuen Prämissen, in neuen Berufen oder an neuen Orten. Millionen haben die Brüche ihrer Biographien in Zukunft verwandeln können, haben Unternehmen gegründet und Verwaltungen demokratisiert, haben an Universitäten die freie Lehre und Forschung eingeführt, haben Vereine ins Leben gerufen, wo sich vorher der Staat für zuständig hielt. Millionen Menschen haben sich der fundamentalen Einsicht geöffnet: Neue Freiheit bietet neue Möglichkeiten, aber sie verlangt eben gleichzeitig die Übernahme neuer Verantwortung, auch Selbstverantwortung. Besonders diese Veränderungsleistung der Ostdeutschen war enorm. Sie wirkt bis heute nach. // Und genau an dieser Stelle möchte ich einmal Dank sagen all denen, die angepackt haben, die das gemacht haben, was sie vorher nie gelernt hatten: als ehren- oder hauptamtlicher Bürgermeister, als Abgeordneter, als Sekretär einer freien Gewerkschaft, als Verantwortlicher einer demokratischen Partei, als Minister, als Ministerpräsident, gar als Bundeskanzlerin - sie alle hatten niemals erwartet, zu tun, was sie dann taten. Wir schauen heute einmal auf sie alle - und sagen einfach "Danke". // Zu denen, die ich eben aufgezählt habe, gehört auch mancher unserer Gäste. Ich sehe in der dritten Reihe jemanden aus der polnischen Nachbarschaft, Bogdan Borusewicz, heute Senatspräsident der Republik Polen. Damals aber, in der Zeit, über die ich eben gesprochen habe, als wir alle ganz woanders waren, da war er ein unbekannter Mann aus der Mitte des Volkes, der mutiger und früher angefangen hat als wir und der uns zusammen mit seinen Landsleuten motiviert hat, auch etwas zu wagen. Danke! // Meine Damen und Herren, die innere Einheit Deutschlands konnte vor allem wachsen, weil wir uns als zusammengehörig empfanden und weil wir in Respekt vor denselben politischen Werten gemeinsam leben wollten. Doch nun, da viele Flüchtlinge angesichts von Kriegen, von autoritären Regimen und zerfallenden Staaten nach Europa, nach Deutschland getrieben werden, nun stellt sich doch die Aufgabe der inneren Einheit neu. Wir spüren: Wir müssen Zusammenhalt wahren zwischen denen, die hier sind, aber auch Zusammenhalt herstellen mit denen, die hinzukommen. Es gilt, wiederum und neu, die innere Einheit zu erringen. // Diese Entwicklung hat vor 25 Jahren niemand ahnen können. Damals, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende des Ost-West-Konflikts, sahen wir sehr optimistisch in die Zukunft. Wir wähnten uns sogar am Beginn einer neuen Epoche. Die Überlegenheit der Demokratie schien schlagend bewiesen, ihr weltweiter Siegeszug nur noch eine Frage der Zeit. Wir erinnern uns an Francis Fukuyama, den amerikanischen Politologen, der das "Ende der Geschichte" verkündete. Mit ihm glaubten viele - auch ich - an eine gerechtere, friedliche und demokratische Zukunft. // Die Hoffnung auf eine solche Veränderung weltweit, sie ist jedoch zerstoben. Statt weiterer Siege von Freiheit und Demokratie erleben wir vielerorts das Vordringen autoritärer Regime und islamistischer Fundamentalisten. Statt mit größerer Friedfertigkeit sind wir konfrontiert mit Terrorismus, mit Bürgerkriegen, imperialen Landnahmen und einer Renaissance von Geopolitik. Und die Gemeinschaft der Europäer, die vor 25 Jahren begann, Ost- und Westeuropa zusammenzuführen, sie findet sich nun mit der Euro-Rettung, auch hier und da mit Austrittsdiskussionen und vor allem mit der Bewältigung der Fluchtbewegungen mitten in einer Zerreißprobe. // Aber was heißt es nun, die innere Einheit wieder und neu zu erringen, wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerungen in kurzer Zeit so erheblich verändert? Wie schaffen es Staaten, wie schaffen es Gesellschaften, ein inneres Band zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen herzustellen? Und wie kann die Europäische Union Einvernehmen erreichen, wenn die Haltungen gegenüber Flüchtlingen noch so unterschiedlich sind? // Noch führt der Druck die europäischen Staaten nicht völlig zusammen. Allerdings zeigen die jüngsten Entscheidungen der Europäischen Union, dass die Einsicht wächst: Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben - es sei denn, sie ist europäisch. Wir werden den Zustrom von Flüchtlingen nicht verringern können - es sein denn, wir erhöhen unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Krisenregionen, sowie vor allem zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und auch das müssen wir uns klar machen: Wir werden unsere heutige Offenheit nicht erhalten können - es sei denn, wir entschließen uns alle gemeinsam zu einer besseren Sicherung der europäischen Außengrenzen. // Die Gewissheit über diese gemeinsamen Aufgaben hebt jedoch die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten nicht automatisch auf. In den aktuellen Debatten offenbaren sich unterschiedliche Haltungen aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Wir erleben das ja schon bei uns, im wiedervereinigten Land, der Bundesrepublik Deutschland. Westdeutschland konnte sich über mehrere Jahrzehnte daran gewöhnen, ein Einwanderungsland zu werden - und das war mühsam genug: ein Land mit Gastarbeitern, die später Einwanderer wurden, mit politischen Flüchtlingen, Bürgerkriegsflüchtlingen und Spätaussiedlern. Für die Menschen im Osten war es doch ganz anders. Viele von ihnen hatten bis 1990 kaum Berührung mit Zuwanderern. Wir haben erlebt: Die Veränderung von Haltungen gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern kann immer nur das Ergebnis von langwierigen - auch konfliktreichen - Lernprozessen sein. Diese Einsicht sollte uns nun auch Respekt vor den Erfahrungen anderer Nationen ermöglichen. // Wenn wir Deutsche uns an die "Das Boot ist voll"-Debatten vor zwanzig Jahren erinnern, dann erkennen wir, wie stark sich das Denken der meisten Bürger in diesem Land inzwischen verändert hat. Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Ein ist ein ganz neues, ganz wunderbares Netzwerk entstanden - zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen. Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen. Und ich sage heute: Danke Deutschland! // Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge einschleicht, wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der Größe der Aufgabe begleitet wird. Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. // Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden. Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung steuern - nächstes Jahr, in zwei, drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern? // Wie 1990 erwartet uns alle eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten auf dieselbe Kultur zurück, auf dieselbe Geschichte. Ost- und Westdeutsche standen selbst in Zeiten der Mauer durch Kirchengemeinden, Verwandte oder Freunde in direktem Kontakt miteinander und wussten über die Medien voneinander Bescheid. Wie viel größere Distanzen dagegen sind zu überwinden in einem Land, das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zu diesem Land gehören heute Menschen verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben, Kulturen - Menschen, die vor Jahrzehnten eingewandert sind, und zunehmend auch jene, die augenblicklich und in Zukunft kommen, hier leben wollen und hier eine Bleibeperspektive haben. // Ähnlich wie bei den Zuwanderern seit den 1960er Jahren, aber wohl in größerem Ausmaß werden wir erleben: Es braucht Zeit, bis Einheimische sich an ein Land gewöhnen, in dem Vertrautes zuweilen verloren geht. Es braucht Zeit, bis Neuankömmlinge sich an eine Gesellschaftsordnung gewöhnen, die sie nicht selten in Konflikt mit ihren traditionellen Normen bringt. Und es braucht Zeit, bis alte und neue Bürger Verantwortung in einem Staat übernehmen, den alle gemeinsam als ihren Staat begreifen. // Wir befinden uns aktuell in einem großen Verständigungsprozess über das Ziel und das Ausmaß dieser neuen Integrationsaufgabe. So etwas ist in Demokratien auch verbunden mit Kontroversen - das ist normal. Aber meine dringende Bitte an alle, die mitdebattieren, ist: Lassen Sie aus Kontroversen keine Feindschaften entstehen. Jeder soll merken, wir debattieren, weil es uns um Zusammenhalt geht, um ein Miteinander, auch in der Zukunft. // Und wir nehmen aus unserer jüngeren Geschichte etwas mit, das wir niemals aufgeben dürfen: den Geist der Zuversicht. Wir haben nicht nur davon geträumt, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, nein, wir haben es getan! Wir sind die, die sich etwas zutrauen. // Und so gestimmt fragen wir uns jetzt: Was ist denn das innere Band, das ein Einwanderungsland zusammenhält? Was ist es, das uns verbindet und verbinden soll? // In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will und mit welcher politischen Ordnung er sich identifiziert. // Gerade weil in Deutschland unterschiedliche Kulturen, Religionen und Lebensstile zuhause sind, gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es eine Rückbindung aller an unumstößliche Werte - einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert wird. // Ich erinnere mich noch gut, welche Ausstrahlung die westlichen Werte bei uns in der DDR und in anderen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks besaßen. Wir sehnten uns nach Freiheit und Menschenrechten, nach Rechtsstaat und Demokratie. Diese Werte, obwohl im Westen entstanden, sind zur Hoffnung für Unterdrückte und Benachteiligte auf allen Kontinenten geworden. Die Demokratie hat zwar seit 1990 keinen weltweiten Siegeszug angetreten, aber ihre Werte sind weltweit präsent, werden zunehmend nicht mehr als westlich, sondern als universell bezeichnet und verstanden. Und das ist richtig so. // Doch nicht immer und nicht überall vermögen sie jeden zu überzeugen, übrigens auch nicht bei uns. Wir wissen, dass selbst im Westen die eigenen Werte verletzt wurden und gelegentlich auch werden. Aber damit sind doch nicht die Werte diskreditiert, sondern diejenigen, die sie verraten. // Und diese, unsere Werte, sie stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden und verbinden sollen, hier in unserem Land. Hier ist die Würde des Menschen unantastbar. Hier hindern religiöse Bindungen und Prägungen die Menschen nicht daran, die Gesetze des säkularen Staates zu befolgen. Hier werden Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller Menschen nicht in Frage gestellt und die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt - nicht der Familie, nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft. Und vor diesem Hintergrund gewinnt der Satz, den wir alle kennen - Toleranz für Intoleranz darf es nicht geben - seine humane Basis. Und noch etwas: Es gibt in unserem Land politische Grundentscheidungen, neben den eben angesprochenen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere entschiedene Absage an jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum Existenzrecht von Israel. // Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die dem Individuum so viel Freiheit, so viele Entfaltungsmöglichkeiten, so viele Rechte einräumt wie die Demokratie. Sie mag mangelhaft sein, aber wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die im Widerstreit von Lebensstilen, Meinungen und Interessen zu so weitgehender Selbstkorrektur fähig ist. Wir kennen auch keine Gesellschaftsordnung, die sich so schnell neuen Bedingungen anzupassen und zu reformieren vermag, weil sie - wie Karl Popper einmal sagte - auf einen Menschen baut, "dem mehr daran liegt zu lernen, als recht zu behalten". // Für eben diese Werte und für diese Gesellschaftsordnung steht die Bundesrepublik Deutschland. Dafür wollen wir auch unter den Neuankömmlingen werben - nicht selbstgefällig, aber selbstbewusst, weil wir überzeugt sind: Dieses Verständnis, kodifiziert im Grundgesetz, ist und bleibt die beste Voraussetzung für das Leben, nach dem gerade auch Menschen auf der Flucht streben. Ein Leben - wie es in unserer Nationalhymne heißt - in Einigkeit und Recht und Freiheit.
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Joachim Gauck
Die CDU hat die Idee der Freiheit nie dem Zeitgeist geopfert.
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Joachim Gauck
Die Politik von Wulff werde ich fortsetzen, mit meinen Worten.
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Joachim Gauck
Ein ungewöhnlicher, ein stolzer Anlass führt uns heute zusammen: Die deutsche Sozialdemokratie feiert ihren 150. Geburtstag. Keine andere Partei konnte so lange überdauern, weil ihre Kernforderungen auf immer neue Weise aktuell blieben und bleiben: Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe. // Dies ist ein Feiertag für die älteste Partei in Deutschland. Es ist auch ein Feiertag des europäischen Ringens um Freiheit und Demokratie. Es ist auch eine Geschichte voller Siege und Niederlagen, mit schrecklichen und abgründigen Kriegen, mit Aufstand und Widerstand, vor allem mit der Erkenntnis: Gesellschaften sind veränderbar, Demokratie ist möglich, wenn wir wissen, welche Werte wir mit ihr anstreben, verteidigen oder erkämpfen und wenn wir mutig genug sind, die Widerstände zu überwinden. // Immer lag und liegt es an uns, den Ohnmachtsgefühlen zu trotzen, für uns selbst und für andere Partei zu ergreifen und neue Entwicklungen anzustoßen. So viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das in der bewegten Vergangenheit ihrer Partei mit unerschütterlicher Konsequenz getan, haben für ihre Überzeugungen viel riskiert: ihren Aufstieg, ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Existenz und einige - viele - haben sogar ihr Leben hingegeben. // Es ist das Vermächtnis dieser mutigen Menschen, das Jubiläum nicht nur als "Ort der Erinnerung" zu betrachten. Wir fragen heute auch nach unseren Aufgaben in der Zukunft, fragen: Was bedeutet in der Perspektive von heute das alte "Vorwärts"? // Aber lassen Sie mich im Jahr 1863 beginnen, bei Armut und Ausbeutung, bei Arbeitsbedingungen, wie wir sie derzeit nur aus manchen Entwicklungsländern kennen und kritisieren und die damals für Millionen Deutsche bedrückender Alltag waren. Wie konnte die Reaktion derer aussehen, die die Kraft aufbrachten, sich zur Wehr zu setzen: Sollte es Aufruhr sein und dann Revolution und Errichtung einer neuen Herrschaft der zuvor Unterdrückten? Das wäre ja eine naheliegende Option gewesen. Aber Ferdinand Lassalle, der die Revolution von 1848 in der Rheinprovinz miterlebt hatte, fand eine andere Antwort auf Not und Unfreiheit. Wir hören sein Credo - Veränderung der Gesellschaft durch emanzipatorische Politik, die Massenteilhabe ermöglichen sollte. Dazu gehörte nun von Anfang an Bildung, Schulpflicht für alle, aber auch die Arbeiterbildungsvereine, die dem Einzelnen Aufstieg durch Wissen ermöglichten. Emanzipation gelang also durch Teilhabe an verbrieften Rechten, aber immer wieder auch durch Selbst-Ermächtigung. Dieser Ansatz war vor 150 Jahren revolutionär, modern ist er auch heute noch. // In der Gründungszeit der Sozialdemokratie stand selbstverständlich der Kampf für gleiche Rechte der unterdrückten Arbeiterschaft im Vordergrund. Das Eisenacher Programm von 1869 nennt zentral freie, allgemeine und gleiche Wahlen ungeachtet der Herkunft der Wählenden, das Verbot von Kinderarbeit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte. // Im langen, innerparteilichen Kampf setzte sich die Haltung durch, keine neuen Klassenprivilegien zu errichten, Ungleichheit nicht durch neue Ungleichheit zu beantworten. Eduard Bernstein, der bedeutende und lange bekämpfte Theoretiker der SPD, bezeichnete die Demokratie dreieinhalb Jahrzehnte nach der Parteigründung durch Lassalle als "Mittel und Zweck zugleich". In diesem neuen Politikverständnis liegt für mich eines der wirklich größten historischen Verdienste seiner Partei. Es war die SPD, die bedeutende Teile der Arbeiterschaft und der sozialistischen Bewegung in Deutschland frühzeitig und intensiv und stark mit der Demokratie verband. Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren. // Die kommunistische Weltbewegung entschied sich anders - allerdings mit durchgängig fatalen Folgen. Sie schuf eine neue Klasse der Machtbesitzenden und ersetzte die alte durch eine neue Ohnmacht. Auf Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand warteten die Arbeiter vergeblich. // Umso mehr wissen wir heute den reformerischen Ansatz der Sozialdemokratie zu würdigen. Ihm verdanken wir unter anderem die ersten Arbeitsschutzgesetze und das Frauenwahlrecht. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, den Mut gehabt hätten, sich für die politische Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der bürgerlichen Parteien einzusetzen. Vor allem haben die Sozialdemokraten diese Demokratie länger und tapferer verteidigt als die meisten anderen Demokraten. Sie haben die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hoch gehalten und aufbegehrt gegen jene, die Unfreiheit und Krieg entfesselten. // Unvergessen ist die Rede von Otto Wels am 23. März 1933, als die Nazis bereits viele Oppositionelle inhaftiert und in die Emigration getrieben hatten. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht": Es war - wie Peter Struck es einmal beschrieben hat - "die mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde". // Das wollen wir uns merken. Damals haben 94 SPD-Abgeordnete mit ihrem Nein zum sogenannten Ermächtigungsgesetz nicht nur die eigene Ehre gerettet, sondern die der ersten deutschen Demokratie. Sie haben uns - nämlich allen Deutschen - ein Stück aufrechter Demokratiegeschichte geschenkt, ein Gegenstück zu Schuld und Scham, die kostbare Erfahrung, dass Menschen auch dann zu ihren Werten stehen können, wenn sie verhöhnt, gedemütigt und verfolgt sind. Dankbar würdigen wir heute ihren Mut. // Zu diesen Menschen gehörte Kurt Schumacher, einer der Abgeordneten, die das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ablehnten. Nach zehn Jahren KZ-Haft widerstand er nach dem Krieg der Versuchung, aus Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei zu schaffen. Denn er erkannte, dass die Kommunistische Partei Deutschlands - so seine Worte - "nicht eine deutsche Klassen-, sondern eine fremde Staatspartei" war. Im Osten Deutschlands konnte eine eigenständige SPD tatsächlich erst nach 1989 wieder entstehen. Auch dafür bin ich tief dankbar. // Im Westen Deutschlands hingegen hatte die SPD gemeinsam mit Konservativen und Liberalen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesrepublik ein funktionierender, breit legitimierter "demokratischer und sozialer Bundesstaat" werden konnte - so wie es unser Grundgesetz vorsieht, ein Dokument, das übrigens auch, wie wir alle wissen, an einem 23. Mai verabschiedet worden ist. // An Tagen wie heute wird uns bewusst, dass unsere Demokratie so stabil, bisweilen so anfällig war wie ihr jeweiliges Parteiengefüge. Die SPD kann nicht nur auf die längste Tradition der Parteien in Deutschland zurückblicken. Sie hat wohl auch den tiefgreifendsten inneren Wandel vollziehen müssen. Denn die SPD von heute ist ja keine Klassenpartei mehr. Sie hat sich im Zuge eines langen und schwierigen Lernprozesses zu einer Volkspartei entwickelt. Das Godesberger Programm von 1959 hat diesen Wandel dokumentiert, gefestigt und befördert. // Die Verdienste der SPD in der Bundesrepublik stehen den meisten von uns vor Augen. Ich nenne die gesellschaftlichen und sozialen Reformen der 70er Jahre unter Willy Brandt, ich nenne die erste, die innovative Phase der Ostpolitik, die eine Öffnung gegenüber der DDR und anderen osteuropäischen Nachbarn ermöglichte und den Eisernen Vorhang durchlässiger machte. // Der Film hat uns auch das Wirken der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, die heute beide unter uns sind. Auch mit ihrer Kanzlerschaft sind bleibende Verdienste der SPD für die Bundesrepublik verbunden. // Das Kernthema der Sozialdemokratie ist in 150 Jahren geblieben: die solidarische Gesellschaft, die sich beständig verbessernde Demokratie. Aber in der veränderten Welt von heute stellen sich für die SPD wie für alle anderen Parteien auch neue Herausforderungen. Dazu gehört zentral, dass Parteien immer auch Teil einer sich selbst ermächtigenden Bürgergesellschaft sein müssen und erst dann belastbare Bindungen herstellen können für ein umfassendes politisches Programm. // Keine leichte Aufgabe, denn in den letzten Jahren haben wir viele Protestbewegungen erlebt, die oftmals radikaler waren als die Volksparteien und sich - oft in der Konzentration auf nur ein Thema - auch als ihre Gegenspieler darstellen konnten. Sie zeigten den Willen vieler Bürger zur Mitsprache. Das begrüße ich und unterstütze ich. Die Parteien sollten sich davor nicht fürchten, sondern umgekehrt derartige Formen der Beteiligung als so etwas wie ein Frühwarnsystem verstehen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Zugleich brauchen neue Partizipationsformen aber auch umgekehrt die Parteien, damit deren Impulse auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie ihren Weg in unseren Alltag finden. Kurz: Neue Beteiligungsformen sind eine wichtige Ergänzung, aber sie sind kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. // Schauen wir uns das noch einmal an - in einer Frage wird dies besonders deutlich: Bürgerinitiativen vertreten - zumeist berechtigte - Partikularinteressen, Parteien hingegen müssen stärker allgemein ausgerichtet sein, das Ganze im Blick behalten. Manchmal gelingt es Parteien sogar, gerade den eigenen Wählern Zumutungen aufzuerlegen, mit Entscheidungen, die bisherigen Linien oder kurzfristigen Parteiinteressen widersprechen. Ich weiß, so etwas ist innerhalb einer Partei nicht populär. Aber wir haben erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land! // Heute gratuliere ich der SPD zu 150 Jahren ihres Bestehens. Ich sage Dank und Anerkennung all jenen, die in 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben und damit das Leben von Millionen Menschen verbessert haben. // Ich verbinde diesen Dank an die SPD mit meiner Anerkennung für alle, die in allen demokratischen Parteien für unser Gemeinwohl arbeiten - ob im Ortsverein oder in der Europapolitik, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Ihr Wirken trägt zum Gelingen unserer Demokratie bei. Deshalb gratuliere ich auch uns allen - dazu, dass wir unsere demokratischen Parteien haben. Sie sind wie alle menschlichen Geschöpfe mangelhaft und unvollkommen und tun deshalb gut daran, offen für Kritik und Selbstkritik, also lernfähig, zu sein. Unsere demokratischen Parteien waren immer notwendig für das Leben unserer Demokratie und sie werden auch in Zukunft unentbehrlich sein. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
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Joachim Gauck
Es ist schön, hier zu sein. Viele Menschen sind zusammengekommen, um miteinander "Ja" zu sagen zum Alter. Ich gehöre dazu. Ich stehe heute vor Ihnen als Verbündeter: Als einer, der hoffentlich bald zum dritten Mal Urgroßvater wird und der jetzt, mit 72 Jahren, eine neue, schöne und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte und als einer, der Hoffnungen hat und Pläne und so das Motto dieses Seniorentages auf seine ganz eigene Gaucksche Weise mit Leben erfüllt. // Ihr Motto "Ja zum Alter!" gefällt mir. Aber je älter ich werde, desto mehr frage ich mich: Muss das eigentlich extra betont oder gar eingefordert werden? // Dass wir altern, ist ja nicht neu. Seit Menschengedenken fragen wir uns, was das Alter uns bringen wird. Die großen Philosophen und Denker haben sich mit diesem Thema befasst. Platon in seiner "Politeia", Cicero in seinem fiktiven Dialog "Cato der Ältere über das Alter", Jacob Grimm in seiner "Rede über das Alter" oder Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung": Sie alle und noch viele andere haben sich mit dem Alter beschäftigt. // Neu ist, dass so viele von uns um so viel älter werden - eine rasante Veränderung, die seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gange ist. Welch ein Segen für die, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel und sogar Urenkel aufwachsen sehen dürfen! Das war ja in anderen Generationen meistens anders. Historisch neu ist, dass ein materiell abgesicherter Lebensabend heute nicht nur Privileg von ganz wenigen ist. Welch ein Glück, wenn man mit seinem Leben etwas anzufangen weiß! Und welch ein Gewinn, wenn wir mit den geschenkten Jahren auch in der Gesellschaft gut miteinander umzugehen lernen! // Das "wenn" ist wichtig. Denn mit dem Altern verbinden sich auch viele Befürchtungen. Landauf, landab werden sie debattiert: Da ist die Sorge, dass unserer Gesellschaft die Ideen ausgehen, dass die Netze der sozialen Sicherung zerreißen könnten, dass die Kosten für Pflege und Gesundheit explodieren könnten. Da ist auch die Angst vor Armut im Alter, vor Einsamkeit und davor, ein "Pflegefall" zu werden - was für ein schreckliches und eigentlich auch verräterisches Wort - ist das, was einst ein Mensch war, ist das dann nur noch ein "Fall", Pflegefall eben? // So berechtigt die Befürchtungen im Einzelnen sind - wir dürfen uns von ihnen nicht überwältigen und vor allem nicht einschüchtern und nicht ängstigen lassen. Wir sollten sie als Anstoß nehmen, die Dinge anders und besser zu gestalten. Die höhere Lebenserwartung ist uns schließlich auch nicht einfach in den Schoß gefallen, sie ist erarbeitet und manchmal auch erkämpft worden, von Ihnen, von unseren Vorgängern. Sie ist eine Leistung unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir leben gesünder, wir bekämpfen erfolgreich viele Krankheiten, wir arbeiten sicherer. Und so liegt es jetzt auch in unserer Verantwortung, das längere Leben zu einem Gewinn für alle zu machen. Und dort, wo aus Krankheitsgründen von Gewinn nun wahrlich keine Rede mehr sein kann, soll es jedenfalls darum gehen, vom Wert und von der Würde derer zu sprechen, die dieses für sich selbst nicht mehr zu reklamieren vermögen. // Die gewonnenen Lebensjahre, meine Damen und Herren, schenken uns Freizeit und Freiheit: die Freiheit, entlastet von vielen äußeren Zwängen, unsere Fähigkeiten nun weiter zu erproben und vielleicht auch weiterzugeben. Sie geben uns zugleich eine Verantwortung auf: die Verantwortung, unser Leben, solange irgend möglich, selbst zu gestalten und - was besonders schön und erfüllend ist - unsere Fähigkeiten so einzusetzen, dass das individuelle Glück des längeren Lebens auch ein Glück für unser Gemeinwohl bleibt oder wird. "Ja zum Alter!" heißt also für mich: "Ja" zum eigenverantwortlich gestalteten Leben, und "Ja" zu den Veränderungen, die wir dafür als Einzelne und als Gesellschaft anstoßen, manchmal auch ertragen müssen. // So setzen wir uns in Beziehung zur Lebenswelt unserer Enkel und Urenkel. Was wird sie erwarten, wenn sie erwachsen sind? Wie wird es aussehen, ihr Land - wird es ein Land sein, in dem alle Lebensalter menschenwürdig und verantwortlich miteinander zusammenleben? // Eines sollten wir auf jeden Fall begriffen haben: Das Alter gibt es nicht, ebenso wenig wie die Alten. Den einen versagen schon mit Mitte 60 die geistigen oder körperlichen Kräfte, die anderen können noch mit über 90 völlig klar denken und sich selbst versorgen. Wir altern so individuell, wie wir unser Leben führen, und so gut, wie es unser Schicksal und die Umstände im Lande es erlauben. Ebenso wenig gibt es den Rentner oder die Rentnerin. Manche sind kinderlos, andere haben Enkel oder gar Urenkel, die einen sind lebensfroh, die anderen frustriert. Manche können ihren Lebensabend in Wohlstand genießen, andere beziehen Renten, die kaum zum Leben reichen. Manche übrigens trotz eines Lebens voll harter Arbeit. Derartiges dürfte es ja eigentlich in diesem reichen Land gar nicht geben, nicht wahr? Aber schauen wir auf die Gesamtheit. Und da sieht es so aus, dass die heutige ältere Generation die wohlhabendste und gesündeste ist, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Und während ich diesen Satz spreche, frage ich mich zugleich: Ist es eigentlich auch die dankbarste Generation, die es jemals gegeben hat? // Es gilt Anspruch und Wirklichkeit aneinander anzupassen. Unsere Ansprüche an den Ruhestand, unsere Vorstellungen davon, wann er beginnt und was wir mit dieser Zeit anfangen, mit der Wirklichkeit der neuen, hinzugewonnenen Jahre. Das ist unter anderem auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft, nicht nur, aber auch. Es ist nötig, um die Errungenschaft des Ruhestandes auch kommenden Generationen zu erhalten. Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse. // Wir wissen doch, wie glücklich es macht, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und etwas erreichen können. Wenn wir herausholen, was in uns liegt an Kraft, an Potenz, an Verantwortungsfähigkeit. Ich bin überzeugt, dass wir gestalten können und müssen, damit es uns gut geht. Und ich glaube fest daran, dass wir Menschen lern- und begeisterungsfähig sind bis ins hohe Alter hinein - da weiß ich auch die Wissenschaft auf meiner Seite, unter dem Stichwort "Plastizität des Gehirns". Hannah Arendt hat einmal gesagt: "Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod." Das ist die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen sollten! // Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die von uns Älteren erwartet, veränderungsbereit zu sein, die uns die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen auch gibt, und damit die Grundlage, lebenslang tätig zu sein. "Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung", so heißt es schon in Goethes "Wilhelm Meister". Das mag manchem Bild vom Ruhestand konterkarieren. Aber ist es nicht im Grunde viel kraftraubender, wenn man sein Leben nur auf seine Tätigkeit ausrichtet, und mit der dann plötzlich schlagartig aufhört, auf Kosten der Vielfalt an Fähigkeiten, die doch immer noch in uns stecken? Viele geraten dann in eine regelrechte Krise, wenn plötzlich Anerkennung durch Arbeit und Leistung und damit auch durch das soziale Umfeld wegbrechen. // Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können - unter besseren Bedingungen täten das bestimmt heute schon viele. Dazu gehört auch, dass ich mir wünsche, dass wir individuelle Übergänge ermöglichen: zwischen den Lebensphasen und zwischen unterschiedlichen Arten des Tätigseins. Ich wünsche mir, dass wir Älteren eine Chance geben, sich weiter zu entwickeln, ihnen Achtung und Wertschätzung entgegenbringen und ihren Bedürfnissen pragmatisch entgegenkommen. // Gewiss ist es nicht jedem vergönnt, bis ins hohe Alter tätig zu bleiben. Es gibt Krankheiten, Schicksalsschläge. Mancher ist früh ausgelaugt, von lebenslanger harter Arbeit und lebenslangen Strapazen. Deshalb wünsche ich mir auch: Niemandem soll Unzumutbares zugemutet werden. Aber das Zumutbare schon, denn wir alle wissen doch, wir tun einander auch nichts Gutes, wenn wir nichts von uns erwarten. Ich tue mir nichts Gutes, wenn ich nichts von mir erwarte. Ich rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst nicht nur vom Broterwerb, sondern ich rede von Tätigkeit. // Warum, so werden mich meine Urenkelkinder vielleicht später fragen, hattet Ihr früher Euer Zusammenleben eigentlich so eingerichtet, dass den Jüngeren oft die Zeit gefehlt hat - und vielen Alten die Decke auf den Kopf gefallen ist? Und wenn sie so fragen, hätten sie recht. Warum teilen wir all diese Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, nicht besser auf zwischen den Generationen und Geschlechtern - die Sorge um Kinder, die Sorge um ältere Angehörige, die Arbeit im Haushalt, das Engagement in der Nachbarschaft, in der Zivilgesellschaft und in den Ehrenämtern? Je selbstverständlicher wir schon in unseren jungen Jahren zwischen all diesen Sphären wechseln, desto selbstverständlicher wird das auch im Alter sein, nicht nur für uns, sondern auch für andere tätig zu bleiben. Es fasziniert mich immer wieder, dass es dieses abrupte Ausscheiden, wie wir es aus dem Berufsleben kennen, bei denen selten gibt, die ehrenamtlich über lange, lange Jahre aktiv gewesen sind in ihren verschiedenen sozialen Bereichen. Sei es im kirchlichen, im kulturellen, im sportlichen Bereich. Da gibt es diesen Abbruch zwischen tätig und aktiv sein und dann Ruhekissen überhaupt nicht so. Das ist ein guter Hinweis auf die Art und Weise, wie wir aktiv in dieser Lebensphase uns selber finden und unserer Gesellschaft nützen können. // Es gibt im Übrigen viele gute Ansätze für diese Art von Aktivität, von Einbezogensein in das Leben in der Gesellschaft. Immer mehr Bürgerstiftungen organisieren Gemeinsinn und bieten die Plattform, mit seinem Geld und seiner Zeit etwas Sinnvolles für das Allgemeinwohl zu leisten. Es gibt Leihomas oder -opas. Ich weiß nicht, ob die eine Antwort auf jedes Problem sind, aber immerhin will ich mich freuen, dass es sie gibt. Denn vielfach ist es so, dass es gar keine Großeltern an dem Ort gibt, wo die jungen Menschen leben und schaffen. Manche haben auch gar keine Enkelkinder und wünschten sich, gerade einmal dieser Generation begegnen zu können. Wir haben die Senior Experten. Sie teilen ihr Wissen mit den Jüngeren, bringen Erfahrungen ein aus dem weiten Feld ihres Berufslebens, helfen in Gründungsphasen von Unternehmungen oder geben Rat in Krisensituationen einer Firma oder einer beruflichen Karriere. Immer öfter ziehen Ältere und Jüngere, Familien und Singles bewusst zusammen, weil sie einander helfen und ergänzen wollen. In Seniorengenossenschaften - wie der im baden-württembergischen Riedlingen, die es seit über 20 Jahren gibt - helfen die, die noch können und rüstig sind, denen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, gegen ein kleines Entgelt oder nur gegen das Versprechen, dass ihnen selbst später von anderen geholfen wird. Und es spricht vieles dafür, dass wir im mittleren Alter anderen das geben, was wir uns selbst fürs hohe Alter selber dringlich wünschen - Zuwendung, liebevolle Pflege bei weitestgehender Autonomie. // Selbstverantwortung ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Wir wissen aber natürlich auch, dass ein Moment kommen kann, in dem wir nur noch sehr bedingt selbst steuern können, was mit uns passiert. Diese Lebensphase zu akzeptieren als eine, in der die gewohnten Kategorien von Selbstverantwortung, Leistung und Nützlichkeit gar nicht mehr zählen - ja nicht mehr zählen dürfen -, ist eine der großen Herausforderungen, der wir uns zu stellen haben. Hier wird sich die Menschlichkeit unserer alternden Gesellschaft erweisen. // Wir alle werden hier sehr viel neu oder wieder neu lernen müssen, denn es wird nicht gehen ohne die Haltung von Barmherzigkeit - oder nennen Sie es einfach Solidarität miteinander. Und vielen Menschen sind solche Werte in ihren beruflichen Lebensläufen ja leider abhanden gekommen. So müssen wir zum Teil wieder erlernen, was wir eventuell früher einmal gewusst, aber dann verlernt haben bei unseren mannigfachen Formen von Egotrips oder unsozialen Arbeitsverhältnissen. // Eine weitere Herausforderung ist, zukunftsfähig zu bleiben. Früher hieß es, wir müssten die Alten fürchten, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben. Heute fürchten viele eher die Angst der Alten vor dem Neuen. Doch der Unmut der Älteren muss uns nur dann Sorgen machen, wenn er sich aus einer generellen Abneigung jeglicher Veränderungen speist oder, was es auch gibt, aus rein egoistischen Motiven. Die meisten Älteren sind aber nicht einfach nur "Wutbürger". Sie nehmen eine ganz andere und wichtige Verantwortung wahr: kommenden Generationen ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen. Es ist wichtig, ihre Stimme zu hören und abzuwägen: Was ist es wert, bewahrt zu werden gegen den Furor des Fortschritts - und was muss sich wirklich ändern? Und es ist gut, wenn möglichst viele der Älteren interessiert sind und bleiben. Denn wer interessiert ist, ist dazwischen, mittendrin, bringt er sich ein. // Wie gut es gelingt, dieses Interesse wach zu halten, wird auch die Zukunft unserer Demokratie mit beeinflussen. Franz Müntefering, den ich hier vorne sehe, übrigens genau acht Tage älter als ich, hat einmal den schönen Satz gesagt: "Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich." Und damit, meine Damen und Herren, meint er doch sicher, nicht nur für das, was uns jeweils ganz persönlich betrifft, sondern auch für das sind wir verantwortlich, was nach uns kommt, was wir weitergeben an unsere Kinder und Enkel. Ich bin sicher, Sie, meine Damen und Herren, leben genau diese Verantwortung, deshalb sind Sie hier, und deshalb danke ich Ihnen, all den Aktiven in ihrem Verband, Frau Professorin Lehr, und allen, die sich hier so engagiert einbringen. Was wäre unsere Gesellschaft ohne Ihr aktives Mittun. // Mir ist darum nicht bang, meinen Urenkeln sagen zu können: Wir werden das schaffen. Wir werden den Gewinn an Lebenszeit besser teilen - zum Vorteil von Alten und Jungen, zum Vorteil der Gesellschaft wie des Einzelnen. Wir werden das Alter als eine besondere Phase unseres Lebens schätzen und diese verantwortlich gestalten. Wir werden erkennen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Gesellschaft des langen Lebens nur dann bedrohlich sind, wenn zu starr an bisherigen Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festgehalten wird. // Wenn wir viele sind, die so denken, dann wird auch das Loslassen einst, wenn die Kräfte schwinden, uns keine Angst machen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Menschen, die von dem Geschenk des Alters sprechen können. Ich gebe ehrlich zu, ich muss das noch lernen, so zu sprechen. Vor etwas über 100 Jahren schrieb Rainer Maria Rilke an einen Freund: "Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein." Welch eine Eloge auf die Möglichkeiten des Alters! // Wir alle haben nicht die poetischen Gaben eines Rainer Maria Rilke. Aber wir alle hatten und haben einen Schatz an Erfahrungen und Wissen, haben erworbene Geduld und erhaltene Ungeduld, wir haben nicht die alte, aber die uns jetzt mögliche Fähigkeit, Verantwortung zu leben. Und mit alledem kann es uns doch gelingen, unser "Ja zum Alter" zu sprechen, zu leben.
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Joachim Gauck
Es war mir in meinem Leben so wenig gesungen, Präsident zu werden, wie es Karl Carstens geschehen ist. Er kam nicht aus erlauchten Kreisen, sondern hat sich seinen Weg von unten an die Spitze einer freien Republik gebahnt. Und dass ich, der ich vom Osten her so oft sehnsüchtig ins Fernsehen geschaut habe auf das, was sich hier im deutschen Parlament der Freiheit abgespielt hat, an diesem Ort verschiedene Male sprechen kann und nun auch einen Bundespräsidenten würdigen kann, das ist ein besonderes Geschenk der Geschichte. Und es erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. // Wir ehren heute einen Mann, dessen Dienst am Gemeinwesen wir als herausragend empfinden, dessen Einsatz zur Förderung des freiheitlich verfassten Staates vorbildlich war. Deshalb treffen wir uns hier in guter Laune und mit Zuversicht, weil die Erinnerung an eine solche Haltung und an ein solches Wirken uns selber stärken soll. Karl Carstens' pragmatischer Realismus, sein Pflichtbewusstsein und die überzeugende Repräsentanz der Demokratie und unseres Gemeinwesens, das kann uns bis heute Orientierung geben. Als Realist und Pragmatiker war er bekannt. In der Rückschau treten aber auch jene Elemente seines Denkens hervor, die hineinragen bis in unsere Zeit. // Deshalb bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung sehr dankbar, dass sie zu dieser Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Karl Carstens eingeladen hat - ich bin dieser Einladung gern gefolgt. // Denn damit wird uns Gelegenheit gegeben, die Welt des Karl Carstens neu zu betrachten und seine Republik - unsere Republik! - geistig zu durchwandern. Ja, wandern. // Mit dem "Wander-Präsidenten" begeben wir uns also noch einmal zurück in jene Zeit. // Beim Wandern, das spürt man, kommt gelegentlich die Heiterkeit auf, die damals die Zeitgenossen bewegte. Das begann schon während seiner Antrittsrede, da hat er die deutsche Öffentlichkeit darüber informiert, er werde die Republik im Laufe seiner Amtszeit durchwandern, zu Fuß, etappenweise, von der Ostsee bis zu den Alpen. Natürlich gibt es Kritiker, wenn man ein solches Vorhaben ankündigt. // Und die haben dann gleich geschlossen: altbacken, irgendwie provinziell! Wandern: Wer macht das schon? Irgendwie traditionalistisch, dieser Bundespräsident. Und das nach den wilden Zeiten der 1968er Ära. // Dabei hatte Karl Carstens einen interessanten Plan. Einerseits konnte er eine Zeitströmung aufnehmen und sie zugleich auf eine zurückhaltende Weise ein wenig hinterfragen. Die Sorge um die Umwelt hatte damals besonders junge Leute ergriffen. Carstens teilte diese Sorge durchaus, wollte sich aber der generellen Wachstums- und Zivilisationskritik entgegenstellen. Es war natürlich auch das Milieu, aus dem heraus sehr forciert diese Themen angebracht wurden, von der damals sehr jungen grünen Bewegung. Das lag Carstens nicht, das müssen wir ja nicht verbergen. // Er machte sich dann auf seine Weise daran, die Naturschönheiten Deutschlands zu erkunden - zu Fuß. Das war eine ganz eigenartige, als Norddeutscher würde ich sagen, eine gediegene Einladung an das Bürgertum, ein bisschen genauer hinzuschauen, was unser Land eigentlich ausmacht. Damals gab es als Herausforderung das sogenannte "Waldsterben". Während der Wanderungen sah Carstens sich auch Demonstranten gegenüber, die darauf in besonderer Weise aufmerksam machten. Er konnte dann auf seine Weise Gespräche führen, beispielsweise über die Idee, bleifreies Benzin einzuführen. // "Unterwegs", so schrieb eine große Zeitung, "unterwegs ging den Spöttern die Luft aus". Der Bundespräsident war ja mit offenen Augen unterwegs. Und so begegnete er auf seinen Wanderungen nicht nur der Fichte und der Tanne, dem Bärwurz und dem Sonnentau, sondern er begegnete Menschen, und zwar sehr vielen Menschen. Anfangs waren es dutzende, die ihn begleiteten, später hunderte, schließlich tausende. Sie brachten gerne auch Proviant mit und Geschenke oder sangen ihm etwas vor. Das war dann so eine wunderbare Begegnungsmöglichkeit mit den Bürgern. Nach 60 Tagen und 1600 Kilometern war Karl Carstens und seiner Frau Veronica, die ihn oft begleitete, keine Sorge mehr fremd, die es in diesem Land gab. // Bei Amtsantritt hatte der Bremer Karl Carstens eher als norddeutsch-kühl gegolten, vielleicht auch als hanseatisch-streng. Aber nun zeigte sich seine Wärme, auch Herzlichkeit. Er konnte Nähe herstellen und Barrieren niederreißen. Er zeigte - wie auch sein Vorgänger Walter Scheel -, dass sich die Würde des Amtes durchaus mit Bürgernähe verträgt. Eine Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, die muss es nicht geben, das wissen wir alle. Denn in der Demokratie ist jeder Bürger gleich. Und Autorität wird in ihr nur auf Zeit verliehen, durch Wahl. Und im Mittelpunkt, auch das wissen wir, steht immer der Souverän, steht unser Volk. Indem er diese Ansichten seinerseits beglaubigte, hat Karl Carstens ein Amtsverständnis demonstriert, dem sich Bundespräsidenten bis heute verpflichtet fühlen. Sich hinein versetzen in andere, das kann eben nicht jeder. Karl Carstens hat sich diese Qualität erarbeitet, und vielleicht darf er auch damit als ein Wanderer gelten - nicht zuletzt war er auch ein Wanderer zwischen den Welten. // Er bewegte sich zwischen der Privatwirtschaft und Wissenschaft hin und her, zwischen Ministerialbürokratie und Politik. Er war Anwalt und war Diplomat, Hochschullehrer und Parlamentarier, Staatssekretär und dann Bundestagspräsident. Er brachte Erfahrungen aus der einen Sphäre ein in die andere. Sein Werdegang ist ein frühes Beispiel für eine vielseitige Karriere mit bemerkenswertem Ausgang. // Karl Carstens darf auch als Rollenvorbild für den Aufstieg durch Bildung gelten. Und meine Damen und Herren, schauen Sie sich in unserer politischen Landschaft um. Sie werden dieses Modell in den verschiedenen Parteien immer wieder erblicken. Es wäre schlimm, wenn das in unserem Land in Zukunft nicht mehr möglich wäre. Wir arbeiten daran, dass das so bleibt. // Karl Carstens hat seinen Vater nie kennengelernt, er fiel im Ersten Weltkrieg, noch vor der Geburt des Sohnes. Die Mühen der Vaterlosigkeit und drohender sozialer Abstieg prägten Carstens' Jugend. Und doch trugen ihn Talent, Fleiß und Leistungsbereitschaft in eine Bildungslaufbahn, die ihn zur Professur und schließlich ins höchste Amt unseres Staates führte. // Carstens' Karriere begann, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Sein steiler Aufstieg ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel dieser Republik. Er gehörte zu jener Generation, die sich mit den Irrungen und Lasten und vielfältiger Schuld während der NS-Diktatur auseinandersetzen musste. // Und er musste diese Lehren auch für sich selbst ziehen. Als er 1979 für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, nahmen ihm Teile der Öffentlichkeit diesen Lernprozess nicht ab. Sie sahen Carstens' Wahl gar als Gipfel der Verdrängungskunst. Denn er war Mitglied der NSDAP gewesen. Tatsächlich war seinerzeit Druck auf Carstens ausgeübt worden, dass er, um Rechtsanwalt zu werden, in die Partei eintreten müsse. Karl Carstens beugte sich. Und zwar, wie er später formulierte, wider die eigenen "besseren Überzeugungen". Er selbst sagte damals, dass er "verstrickt" gewesen sei. Er benutzte dieses Wort. Eine intensive, zumal öffentliche, Auseinandersetzung mit der objektiv geringen eigenen Verstrickung suchte Carstens nicht. // Als er für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, hatte die notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus inzwischen weite Teile der Bevölkerung erreicht. In diesen Jahren war die Erkenntnis gewachsen, wie viele Personen des öffentlichen Lebens tatsächlich verstrickt gewesen waren, auf die eine oder andere Weise. Es gab auch so etwas wie eine systemische Verstrickung, die vielfach ohne persönliche Schuld war. Aber sie existierte eben, und man war zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Weise bereit, darüber zu sprechen. // Aus heutiger Sicht illustrieren die damaligen Kontroversen, welch schmerzhafte Prozesse notwendig waren, um der Bundesrepublik trotz ihrer Vorgeschichte ein so ansehnliches Profil zu geben. Aus heutiger Sicht können und müssen wir sagen, dass manches damals leichter gewesen wäre, wenn mehr Betroffene früher Schuld auch als Schuld benannt und anerkannt hätten. Aber es zählt zu den großen Errungenschaften der Nachkriegsgeschichte, auf den Trümmern des Totalitarismus, auf tiefer Schuld und moralischem Versagen, ein neues Haus der Demokratie gebaut zu haben. Gewiss konnten nur wenige Repräsentanten der frühen Bundesrepublik auf eine Biographie ohne Verstrickung und ohne Widerspruch zurückblicken. Aber die meisten von denen, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung übernahmen und sich in den demokratischen Parteien engagierten, zogen aus der Erfahrung ihrer Generation einen wichtigen Schluss: dass nur unbedingtes Eintreten für die Demokratie und den Rechtsstaat Deutschland in die Zukunft führen konnte und dass die Würde des Menschen und die Grundrechte des Einzelnen Kern dieser Republik waren. Karl Carstens hat diese Erkenntnis glaubhaft und überzeugend vertreten. Dafür sind wir ihm dankbar. // Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn suchte er keineswegs den Weg in den öffentlichen Dienst. Nach der Befreiung wollte er staatsfern bleiben. Doch er besann sich früh, 1948, nach einem prägenden Erlebnis - einem Studienaufenthalt an der amerikanischen Yale-Universität. // Er traf dort auf den Geist der Freiheit und auf eine Bereitschaft zum Engagement für das Gemeinwohl, die ihn ansteckten und die er mit zurück nach Bremen brachte. Später habilitierte er sich mit einer Arbeit über die amerikanische Verfassung. Schließlich bedurfte es nur noch der Einladung seines Mentors, des Bremer Bürgermeisters Wilhelm Kaisen, einer der Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Er hat sich als Sozialdemokrat übrigens schon frühzeitig für die Westintegration eingesetzt. Machen wir uns dieser Tage immer mal wieder bewusst, wie wichtig es für dieses Land ist, nicht von einem Weg abzuweichen, der so wichtig war für Deutschland, für das geteilte Deutschland wie für das wiedervereinigte. Aus diesem Grunde ist es mir an dieser Stelle eine große Freude, dass ich mit Dankbarkeit den Namen eines solchen wachen und wunderbaren Sozialdemokraten nennen kann. Dagegen hat die Adenauer-Stiftung sicher nichts einzuwenden. // Mit Hilfe von Wilhelm Kaisen fand sich nun also Karl Carstens im Staatsdienst wieder. Fortan und bis zu seinem Tod war er davon überzeugt, dass Deutschlands Platz an der Seite der freien Völker sein müsse. Die Pflege enger Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika stand für ihn "an erster Stelle aller außenpolitischen Überlegungen". Deutschland brauche Freunde und Verbündete, und die finde es im Westen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Denn wer verantwortlich Politik betreiben wolle, dürfe die Macht des großen Nachbarn im Osten nicht außer Acht lassen. Im westlichen Bündnis sah Carstens, so sagte er, die Grundlage für eine "kraftvolle, gesicherte, freiheitlich-demokratische Bundesrepublik". // Für Carstens, den schnell bis zum Staatssekretär aufsteigenden Diplomaten, war die große Aufgabe der Nachkriegszeit die Aussöhnung mit Frankreich. Und er hat dabei aktiv mitgewirkt. Er beschäftigte sich intensiv mit europäischen Fragen, als Wissenschaftler wie als Praktiker. // Nicht zuletzt seine Erfahrungen als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat und seine Teilnahme an den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen machten ihn zum Verfechter der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Am Erfolg der Europäischen Integration hat er großen Anteil: Als die Verhandlungen über den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Oktober 1956 in eine schwere Krise gerieten, waren es Karl Carstens und sein französischer Partner Robert Marjolin, die ein Scheitern der Verhandlungen verhinderten. Der Kontinent, davon war Karl Carstens sein Leben lang überzeugt, müsse mehr sein als nur eine Freihandelszone, er müsse sich auch politisch einigen. // Aus heutiger Perspektive wissen wir besonders zu schätzen, wie Carstens die Westintegration als Bedingung der deutschen Einheit erkannte und betonte. Nach seiner Auffassung hätte die Bundesrepublik ohne Westbindung keine hinreichende Attraktivität auf die Bewohner der DDR ausüben können. Und ohne Westintegration, ohne europäische Integration hätte man nicht Frankreich, nicht Großbritannien und auch nicht die Vereinigten Staaten dem Ziel der Wiedervereinigung verpflichten können. Daraus ergaben sich für Carstens wie selbstverständlich die Prioritäten bundesdeutscher Politik: Freiheit - Frieden - Einheit, in dieser Reihenfolge. // Und so gehörte es für den Bundespräsidenten Carstens zu den unverzichtbaren Elementen eines jeden Staatsbesuches, die Gesprächspartner daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirkt, "in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Besuchern aus den entferntesten Gegenden der Welt - wie etwa dem Königspaar von Tonga - präsentierte er dieses Zitat aus dem "Brief zur Deutschen Einheit". // Der Logik der frühen Ostpolitik mochte er nicht folgen. Nachdem die Ostverträge dann aber abgeschlossen waren, hat er gleichwohl erkannt, dass Deutschland der Wiedervereinigung ohne eine Entspannung des Verhältnisses zu den Staaten des Warschauer Paktes nicht näher kommen würde. Aus heutiger Sicht war Karl Carstens ein Deutschland- und Außenpolitiker, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass ein Land entstand, in dem wir bis heute in Freiheit, in Frieden und in Wohlstand leben können. // Er sah sein Amt als Bundespräsident als parteiferne Instanz an, übte seine verfassungsrechtlichen Pflichten mit Bedacht aus und machte gleichzeitig deutlich, dass er sich seiner amtsspezifischen Autorität bewusst war. So ließ er den Bundeskanzler einmal vertraulich wissen, dass er die Entlassung eines Ministers nicht vornehmen werde, weil er sie für ungerechtfertigt hielt. // Die wichtigste innenpolitische Entscheidung seiner Präsidentschaft hatte er Anfang 1983 zu treffen, als es darum ging, den Bundestag vorzeitig aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Bundeskanzler Kohl wollte - nach der Übernahme der Kanzlerschaft - seine Bundesregierung durch Bundestagswahlen grundsätzlich neu legitimieren lassen und hatte deshalb im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt - mit dem Ziel der Bundestagsauflösung. // Wie geplant, ging dann die Abstimmung verloren. // Es war nicht nur Carstens' wichtigste, es war - wie er selber sagte - seine "schwerste Entscheidung". Er beriet sich genau 21 Tage lang, so lange, wie es das Grundgesetz höchstens erlaubt. Er wusste, dass seine Entscheidung politisch und rechtlich umstritten sein würde, egal wie sie ausfiel. Er wollte sie als ordentlicher Professor des Staatsrechts vor seiner Zunft vertreten können. Und zugleich ahnte er, dass seine Entscheidung im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht angefochten werden würde, als erstes Verfahren dieser Art für einen Bundespräsidenten. // Damals, im Übergang von der SPD-FDP-Koalition zur Koalition aus Union und FDP, ging es um eine prinzipielle Frage: ob nämlich das Instrument der Vertrauensabstimmung, bewusst von der Regierungsmehrheit eingesetzt und doch in einer absehbaren Niederlage für den Bundeskanzler endend, zu einer Neuwahl führen könne und dürfe. Kritiker sahen darin eine "unechte" Vertrauensabstimmung, eine Trickserei, in der ein Vertrauensentzug nur vorgetäuscht werde. // So entstehe in der Praxis ein verfassungsfremdes Selbstauflösungsrecht des Parlaments. // Karl Carstens entschied sich für die Auflösung des Bundestages. In seiner Begründung sagte er, er habe nicht feststellen können, "aus welchen Gründen der einzelne Abgeordnete dem Bundeskanzler die Zustimmung versagt" habe. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die vom Grundgesetz gewollte und politisch zu erstrebende stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr zu erreichen sei. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte später Carstens' Rechtsauffassung. Diese Bestätigung war für ihn essentiell, bekannte er doch später, er wäre zurückgetreten, hätte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung nicht bestätigt. Diese Begebenheit ist bis heute bedeutsam, weil sie die Bedingungen von Misstrauensvoten und Neuwahlen zu klären half. Karl Carstens` umsichtiges Handeln im Sinne der Verfassung trug dazu bei, die Stabilität und die Regierungsfähigkeit des Landes zu sichern, zwei Prinzipien, die in der Hierarchie seiner politischen Wertmaßstäbe ganz weit oben standen. // Karl Carstens wurde auch deshalb zum respektierten Bundespräsidenten, weil er den scharfzüngigen Parteipolitiker, der er gewesen war, hinter sich ließ. Er nutzte sein Amt, um zu integrieren. Im Laufe seiner Amtszeit überzeugte er viele, die seine Wahl einst mit Skepsis betrachtet hatten. Respekt und Zuneigung aus allen Schichten der Bevölkerung kamen ihm entgegen. Daran hatte auch seine Gattin Veronica Carstens großen Anteil. Ich erinnere heute gerne an Sie. Während seiner Präsidentschaft arbeitete sie weiter als Ärztin und nahm dabei viele Sorgen und Nöte der Menschen auf. Gemeinsam gründeten sie die Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung. // Auch als Schirmherrin der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft erwarb sich Veronica Carstens große Verdienste. Wir dürfen uns heute auch vor ihr verneigen. // Und noch eines wollen wir nicht vergessen: Karl Carstens schöpfte aus dem christlichen Glauben und gab seine Kraft für die Idee des Gemeinwohls. Und beides hängt miteinander zusammen - so jedenfalls sehe ich das. // Die Quintessenz seines Denkens hinterließ er wenige Jahre vor seinem Tod in einer Rede in Dresden: "Wer frei ist, trägt Verantwortung, wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, wer Ansprüche stellt, vor allem Ansprüche an den Staat, muss auch bereit sein, Leistung zu erbringen." Hinter diesen Sätzen können wir uns auch heute noch versammeln. // Verneigen wir uns also vor der Leistung eines deutschen Demokraten, und halten wir sein Andenken durch unsere Haltung und durch unsere Handlungen als Staatsbürger in Ehren.
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Joachim Gauck
Fast 40 Jahre ist es jetzt her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war, mehr als 20 Jahre ist er nun nicht mehr unter uns. // Und doch fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform über ihn zu reden. Ich spreche sicher vielen aus dem Herzen, wenn ich sage: Willy Brandt ist noch immer gegenwärtig - mit allem, was er verkörpert: mit seiner Liebe zur Freiheit, mit seinem Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, mit seiner Überzeugung, dass jede Zeit eigene Antworten will und dass wir selbst die Welt verändern müssen. // Wie sehr wirkt er damit nach, wie sehr fordert er uns alle damit heute heraus! // Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler - die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie nahm noch zu seinen Lebzeiten reale Gestalt an. Gerechter Dank der Geschichte für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen! Vor kurzem habe ich in alten Unterlagen vier handgeschriebene Blätter gefunden: meine Begrüßungsrede für Willy Brandt, der am 6. Dezember 1989 zu uns in die Marienkirche nach Rostock kam. Da war Willy Brandt schon viele Jahre ohne Staatsamt - und doch derjenige, auf den sich ganz selbstverständlich unsere Blicke richteten, weil er verkörperte, wonach wir uns sehnten. "Da begegnen wir uns nun: wir, das Volk, und Sie, der große Politiker", habe ich damals gesagt. Und: "Ihr Wort ist uns wichtig". So ist es auch heute noch - im Präsens! // Darum ist Willy Brandts 100. Geburtstag Gelegenheit zur Rückschau auf ein Jahrhundert voller Schrecken und Aufbrüche und auf das, was sich - auch ihm sei Dank - zum Guten gewandelt hat. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, vorauszuschauen auf das, was vor uns liegt und was Willy Brandt uns für die Zukunft aufgetragen oder doch nahegelegt hat. // So manches, was Willy Brandt in früheren Zeiten entgegenschlug, ist heute jungen Leuten kaum noch verständlich zu machen: dass einer, der den nationalsozialistischen Ungeist bekämpfen half, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes bei vielen als "Vaterlandsverräter" galt und sich fragen lassen musste, was er im Exil eigentlich gemacht habe. Unglaublich, heute, dass sein Kniefall in Warschau - diese Geste der Trauer und der Überwältigung, die auch kommende Generationen noch kennen werden - dass diese Geste vielen seiner Landsleute damals übertrieben erschien. Und später, viel später dann die Pfiffe von Unbelehrbaren vor dem Schöneberger Rathaus, als Willy Brandt mit Helmut Kohl und anderen am 10. November 1989 die Maueröffnung feierte - wie unverständlich, von heute aus betrachtet! // Heute können wir wieder ohne Nationalismusverdacht unsere Nationalhymne singen - auch das ist ein wenig Willy Brandts Verdienst. Viele konnten dank seiner wieder "ja" sagen zu unserem Land. 1972 hieß ein SPD-Wahlslogan: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land." So schlecht konnte dieses Land doch gar nicht sein, wenn einer wie er es trotz allem liebte! Vor allem aber hat er, der "andere Deutsche", der Europäer und Weltbürger, im Ausland glaubwürdig und zugleich selbstbewusst für neues Vertrauen geworben. // Inzwischen sind wir wieder ein "Volk der guten Nachbarn". Wir wissen um die Abgründe der deutschen Geschichte. Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen - so hatte es Willy Brandt schon früh gesehen - bedeutet nicht, Enthaltsamkeit zu üben in gegenwärtigen Konflikten. Im Gegenteil: Aus der Einsicht in das Vergangene erwuchs für ihn die Verantwortung für die Probleme und die Chancen der Gegenwart. 1973 erklärte er als erster deutscher Bundeskanzler vor der UN-Generalversammlung: "Wir sind [ ] gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Verantwortung zu übernehmen." Vor 40 Jahren war das, wohlgemerkt! Heute ist unserem vereinten Deutschland ungleich größere Verantwortung zugewachsen. Wir sind gut beraten, sie unseren Überzeugungen und Möglichkeiten entsprechend anzunehmen. // Von Willy Brandts Haltung in Konflikten lernen heißt: geduldig sein, Vertrauen schaffen und scheinbar unerbittliche Gegner einander schrittweise annähern. Wir sind ja manchmal geneigt zu vergessen, wie aktuell etwa die Bedrohung durch Nuklearwaffen ist, auch weit nach dem Ende des Kalten Krieges. Den gemeinsamen Aktionsplan zwischen Iran, den fünf UN-Vetomächten und Deutschland könnte man - bei aller gebotenen Vorsicht - als einen der hoffnungsvollsten Anfänge der vergangenen Jahre bezeichnen. // In vielem, was Willy Brandt sehr früh schon bewegte, sind wir auch heute noch lange nicht angekommen. Beispiel Entwicklungspolitik: Tatsächlich lebt nach wie vor ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Armut. Beispiel Klimawandel und Umweltverschmutzung: Sie abzubremsen ist dringlicher denn je - die Folgen gerade für die Verletzlichsten erkannte Brandt als einer der ersten. Beispiel Zusammenleben der Verschiedenen: Schon früh sprach er vom "Recht der Ebenbürtigkeit, der Gleichheit und der guten Nachbarschaft" als Grundlage des Miteinanders. Ich bin mir sicher, Willy Brandt hätte auch heute viel zu sagen über das, was wir so sperrig "Integration" nennen und was doch so viel mit der Anerkennung von Unterschieden und dem Streben nach dem Gemeinsamen zu tun hat. Und er, der politische Emigrant, würde gewiss auch Partei ergreifen für die, die heute fliehen vor Unterdrückung und Gewalt. Wir wollen nicht vergessen, dass Willy Brandt, der von den Nationalsozialisten Ausgebürgerte, damals in Norwegen aufgenommen und eingebürgert wurde! Tusen takk! Ich bin gespannt, was Sie, sehr geehrter Herr Gahr Støre, und Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, uns gleich über Willy Brandts Wirken berichten werden. // Ich kann nur jedem, der es noch nicht getan hat, wärmstens empfehlen, in den Briefen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Redemanuskripten und Memoranden der "Berliner Ausgabe" zu blättern - ich habe das Glück, die zehn Bände griffbereit in meinem Amtszimmer stehen zu haben. Willy Brandt hat immer wieder Worte gefunden für das, was andere bewegte. Und er hat andere mit seinen Worten bewegt. Als Berliner Bürgermeister in den Tagen des Mauerbaus: "Wir fürchten uns nicht!" Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!". Oder, am Ende seines Lebens: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." // So soll Willy Brandt uns noch heute prägen und ermutigen: mit seiner Haltung zu seinem Land, über das er weiter hinausblickte als die allermeisten, das er liebte mit all seinen Schwächen und zugleich verbessern wollte, und zwar durch praktische Politik, die sich im Alltag bewähren sollte, um das Leben der Menschen besser zu machen. Er hatte Träume. Aber er gab nicht vor, das Ziel der Politik ein für alle Mal zu kennen. Er sah das Offene, das Unfertige. Manchmal, so meinte er, gebe es keine Lösung. Doch handlungsfähig sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung benennen können. Wir sind es bereits, wenn wir darum ringen, das zu verändern, was in unserer Macht und unseren Möglichkeiten liegt, auch wenn es sich nur um das etwas Bessere handelt. Immer warb er dafür, dass sich heute für Veränderungen einsetzen muss, wer morgen besser leben will. // Wir ehren Willy Brandt darum nicht allein für das, was er getan hat, sondern auch für das, wozu er andere motiviert hat. Sein ganzes politisches Leben war eine Einladung zum Mitgestalten und Weiterdenken - übrigens auch dazu, sich nicht zufrieden zu geben mit einer alles andere ausschließenden Wahrheit, an die er, Willy Brandt, nicht mehr glauben konnte, wie er sagte: "Ich glaube an die Vielfalt und also an den Zweifel". Den produktiven Zweifel auszuhalten, ohne ihn als dominierende Lebensform zu kultivieren, auch dazu kann uns Willy Brandt motivieren. // In einer der vielen Fernsehrunden rund um den Geburtstag hat eine junge SPD-Genossin bekannt, sie fühle sich Willy Brandt zwar nicht als Person nahe, wohl aber in dem, was sie tue. Das hätte ihn gefreut. // Es hätte ihn auch gefreut zu sehen, wie viele hier zusammengekommen sind, um "danke" zu sagen, aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus seiner zweiten Heimat Norwegen und anderen Ländern, denen er verbunden war. Er hätte den Dank vielleicht mit dem bescheidenen Satz quittiert, den er sich angeblich einmal - mit feiner Selbstironie - als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte: "Man hat sich bemüht". Nehmen wir sein Vermächtnis an. Es heißt: Seid nicht gleichgültig! Setzt Euch auseinander und ringt um die bessere, nicht die nächstbeste Lösung! Erkennt, was Ihr verändern und verbessern könnt. Sagt "ja" zu unserem Land, zu unseren Aufgaben und Möglichkeiten! Und habt Mut, Geduld und Zuversicht.
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Joachim Gauck
Freiheit ist immer Freiheit für etwas und zu etwas. Die Freiheit der Erwachsenen bedeutet Verantwortung.
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Joachim Gauck
Gestern war ich in Bergen-Belsen. Ich musste daran denken, als ich die Bilder von Mauthausen sah. Heute darf ich mit Ihnen die österreichische Freiheit und Befreiung feiern. Ich bin tief bewegt und dankbar, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Nicht an irgendeinem Tag und zu irgendeinem Anlass, sondern gerade an jenem Tag, an dem Österreich vor genau 70 Jahren die Grundlagen für seine demokratische Nachkriegsordnung legte. // Noch tobten damals Kämpfe hier, aber auch um Breslau und Berlin. Noch befanden sich große Teile Österreichs in der Hand der Wehrmacht. Noch herrschte vielerorts der Terror der Nationalsozialisten: Zivilisten wurden erhängt oder erschossen, weil sie weiße Fahnen gehisst hatten. Soldaten wurden zum Tode verurteilt, weil sie sich von ihren Truppenteilen entfernt hatten. Doch die Hauptstadt Wien befand sich bereits in den Händen der Roten Armee. Und noch bevor die Wehrmacht kapitulierte, erklärte eine neue österreichische Regierung den gewaltsamen Anschluss an Deutschland 1938 für null und nichtig und proklamierte die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich. Voller Erleichterung tanzten die Wiener zwischen den Trümmern ihrer Stadt zum Donauwalzer. // Die Bürger der Republik Österreich und die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wissen sehr genau, warum wir das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Befreiung würdigen. Schrecklich allein die Vorstellung, die Alliierten hätten uns nicht befreit und unsere Vorgängergeneration hätte uns ein Europa unter dem Hakenkreuz hinterlassen. // Heute, nach Jahrzehnten demokratischer und ökonomischer Konsolidierung, leben Österreicher und Deutsche in einem spannungsfreien und freundschaftlichen Verhältnis - von Fußballländerspielen einmal abgesehen. Wir sind einander willkommen - als Köche und Kellner, als Fachärzte, als Wissenschaftler und Theaterleute. Geschäftsleute und Touristen überqueren millionenfach die Grenze in beide Richtungen. Viele unserer Unternehmen sind miteinander verflochten, und unsere Länder sind füreinander ein wichtiger Markt. // Zu Recht ist es oftmals betont worden: Österreicher und Deutsche sind sich besonders vertraut - allein schon wegen der Sprache. Das Publikum fragt kaum mehr, ob ein Schriftsteller, Komponist oder Schauspieler und Sänger in Deutschland oder Österreich geboren wurde und welche Staatsbürgerschaft er besitzt. // Unsere Völker verbindet zudem eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte: dazu gehört das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, aber natürlich auch blutiger Krieg, um Schlesien etwa, in der Vergangenheit, ebenso wie der 1815 gemeinsam ins Leben gerufene Deutsche Bund. Und selbst in der Zeit der Nationalstaatsbildung fühlten wir uns einander so nahe, dass die Debatte über einen gemeinsamen Staat lange Jahre auf der politischen Agenda stand. // Wir wissen, wie die Geschichte ausging. 1871 entstand das Deutsche Reich - ohne Österreich. Die staatliche Vereinigung Deutschlands und Österreichs war auch nach dem Ersten Weltkrieg keine Option, die Siegermächte hatten es so verfügt. Und als der Zusammenschluss dann 1938 als Anschluss Realität wurde, verspielte er im selben Moment jede Zukunftschance. Auch wenn Zehntausende auf den Straßen jubelten, als Adolf Hitler Österreich 1938 anschloss ans Deutsche Reich, so gab es zugleich die vielen anderen Österreicher, die in der nationalsozialistischen Herrschaft von Anfang an nichts als ein menschenverachtendes System der Unterdrückung sahen. Das, Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, ist eine Traditionslinie, auf die sich das moderne freiheitliche Österreich stolz berufen kann. Für die Menschen, die in dieser Tradition standen, war die Einheit mit Deutschland unter dem Vorzeichen der Diktatur eben keineswegs erstrebenswert, sondern erschreckend und bestürzend gewesen. // Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen Deutschland und Österreich getrennte Wege - zunächst in kritischem Respekt, dann in wachsender freundschaftlicher Geneigtheit. Beide Staaten sind im Rückblick gut mit dieser Lösung gefahren. Mit dem Staatsvertrag von 1955, einem Meilenstein der zweiten Republik, wurde Österreich souverän und frei. Das ist nun schon 60 Jahre her. Längst bekennen sich die Österreicher ganz selbstverständlich zu ihrer Identität, voller Stolz auf dieses Land mit seiner wunderschönen Landschaft, seiner tiefverwurzelten Kultur, seiner politischen Stabilität und seinem sozialen Frieden. // In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen Österreich und Deutschland vielfach vor ähnlichen Herausforderungen. Zunächst strebten beide nach dem Ende der Besatzung und nach der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität, was im Falle Deutschlands erheblich länger dauerte als im Falle Österreichs. Beide Länder hatten gewaltige Leistungen zu erbringen, um die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren. Auch in Österreich standen zunächst der Wiederaufbau des Landes und die Mehrung des Wohlstands im Vordergrund. Dabei flüchteten viele Österreicher ebenso wie viele Westdeutsche vor den langen Schatten der Vergangenheit ins große Schweigen oder auch in die Traumwelt von Heimatfilmen oder Schlagermusik. Es hat mich sehr bewegt, Herr Bundespräsident, wie Sie diese Zeit und die Position innerhalb der Bevölkerung hier gerade beschrieben haben. // Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das musste erst erlernt werden, von Deutschen wie von Österreichern. Sie, Herr Bundespräsident, gehörten 1962 zu den ersten, die in Österreich die fortdauernde Weitergabe von antisemitischem oder neonazistischem Gedankengut unter dem Dach einer Hochschule anprangerten. In den 1980er Jahren drangen die Dispute aus der Alpenrepublik bis ins europäische Ausland und bis nach Amerika. Ich weiß zu schätzen, welche große Bedeutung den Worten von Franz Vranitzky zukam, der 1991 als erster Bundeskanzler im Nationalrat aussprach, was lange - für einige viel zu lange - tabuisiert worden war: "Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so, wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten." // Deutschland hat nach seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit nationalsozialistischer, später auch mit kommunistischer Vergangenheit ähnliche Überzeugungen gewonnen wie Österreich: Wenn wir uns offen und unvoreingenommen der Vergangenheit nähern, kann Wissen an die Stelle des Schweigens treten. Wahrheit hilft und Wahrheit befreit. Wir achten die Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Gewiss: Wir sind nationale Narrative gewohnt. Aber wir können durchaus die eigenen Sichtweisen um die Sichtweisen der Anderen erweitern, und wir können unsere bisherigen Sichtweisen, wo es erforderlich ist, verändern: Das beste Korrektiv gegenüber einem Denken, das sich primär am Nationalen orientiert, ist die Orientierung an universellen Werten, an den Menschenrechten und an der Menschenwürde. // Lassen Sie mich noch einen Blick auf die letzten Jahrzehnte werfen. In einem beispiellosen Einigungsprozess ist es gelungen, die Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg verfeindet und misstrauisch gegenüber standen, auf der Grundlage der Prinzipien von Frieden, Freiheit und Menschenrechten zusammenzuführen. Es war ein Einigungsprozess, der zunächst im Westen des Kontinents, Jahrzehnte später auch in der Mitte und im Osten stattfand. Den Europäern ist es fast überall auf unserem Kontinent gelungen, den Dialog an die Stelle der Feindschaft, und das Miteinander der Verschiedenen an die Stelle eines Wettkampfs um Vorherrschaft und Macht zu setzen. Europa ist damit zum Modell für viele demokratische und freiheitsliebende Menschen auf der ganzen Welt geworden. // An dieser Stelle liegt es nahe, einen weiteren Jahrestag ins Gedächtnis zu rufen: Vor fast genau zwanzig Jahren, am 1. Januar 1995, wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Sich militärisch zur Neutralität verpflichtend, ist Österreich politisch doch immer ein Teil jener Völkerfamilie gewesen, die sich der Freiheit des Einzelnen und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung verschrieben hat. Gerade Österreich, das kommunistischen Ländern Nachbar war, wurde ein wichtiger Ort der Sehnsucht und der Zuflucht für Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa. // Die besondere Anteilnahme der Österreicher am Schicksal der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs verdient großen Respekt. Während des Aufstands 1956 standen sie an der Seite der freiheitsliebenden Ungarn. 1968 hofften und bangten sie mit den Tschechen und Slowaken während des Prager Frühlings. Flüchtlingen aus beiden Ländern begegneten sie mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft. Und im Frühsommer 1989 war Österreich gerne bereit, tausenden von DDR-Bürgern ein erstes Obdach zu bieten, als sich die Chance für die Flucht dieser Menschen bot, weil Ungarn schon den Schießbefehl aufgehoben und die Grenzen partiell geöffnet hatte. Das werden wir nicht vergessen und dafür bleiben wir dankbar. // Nachbarschaftliche und kulturelle Bande konnten erneuert werden, als Europa nach 1989 wieder eins wurde und Österreich den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte. Die Wirtschaft profitierte von der Einigung - und mit ihr die Menschen. Und doch haben sich die Hoffnungen auf eine immer engere Zusammenarbeit nicht überall erfüllt. In einigen Ländern Europas, auch innerhalb der Europäischen Union, sehen wir Gefahren für Rechtsstaat und Pluralismus, in anderen das Anwachsen populistischer und nationaler bis nationalistischer Strömungen und Parteien. Sogar ein so großer und für uns alle so wichtiger Partner wie Großbritannien hat Schwierigkeiten, seine Mitgliedschaft in der EU dauerhaft zu bejahen. Dazu kommt noch die Gefahr, die islamistische Terrororganisationen innerhalb Europas darstellen. Angesichts dieser Herausforderungen gewinnt die gemeinsame Verteidigung und Festigung von Einheit, Freiheit und Demokratie in Europa eine neue, eine große Bedeutung. // Deshalb erscheint mir ein abgestimmtes, ja gemeinsames Vorgehen der Europäischen Union in der Außenpolitik besonders bedeutsam zu sein. Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der Europäischen Union neu über ihre gemeinsame Sicherheit nachzudenken. // Unsere beiden Staaten haben je eigene Erfahrungen gemacht mit den Möglichkeiten und den Grenzen der Politik in den Zeiten des Kalten Krieges: Konkurrenz und Konfrontation zwischen den beiden Machtblöcken bargen immer auch die Gefahr eines "heißen" Krieges. Trotz mancher Enttäuschungen setzen wir deshalb heute auf Deeskalation und Gespräch. // Zugleich wissen wir: Es war 1975 die Schlussakte des Helsinki-Prozesses und das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und Grundfreiheiten, das der mitteleuropäischen Freiheitsbewegung auch Inspiration und Ermutigung bot. Es war der erklärte Wille der Menschen dort, unabhängig und selbstbestimmt, in Freiheit und Demokratie zu leben. Was vor einem Vierteljahrhundert bei Polen, bei Ungarn und Tschechen unsere ungeteilte Unterstützung fand, kann uns deshalb heute in der Ukraine nicht gleichgültig lassen. // Heute wie damals besteht Europa auf dem Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität jeden Landes und dessen Recht, seine Partner frei wählen zu dürfen. Heute wie damals weiß Europa, dass nichts den Wohlstand und das friedliche Zusammenleben besser sichert als die Menschen- und Bürgerrechte in einem funktionierenden Rechtsstaat. // Ich freue mich, dass ich an diesem Tag bei Ihnen sein kann. Und ich freue mich vor allem deshalb, weil unsere beiden voneinander getrennten Staaten doch noch mehr verbindet als eine gemeinsame Sprache. Es ist unser gemeinsames Wertefundament und es sind gemeinsame Ideale. Sie verbinden unsere Länder als gleichberechtigte Partner in der großen Familie der Europäischen Union. Und noch etwas verbindet uns: Österreich und Deutschland haben heute die gemeinsame Verantwortung, die Ordnung und die Werte auf denen sie beruht, in der Zukunft zu sichern. Es ist der Geist der europäischen Zusammenarbeit, der unsere Länder auch künftig vereinen wird. Der 70. Jahrestag der Wiedererrichtung der demokratischen Republik Österreich, zu dem ich von Herzen gratuliere, ist ein guter Anlass, sich darüber zu freuen und gemeinsam "Ja" zu sagen zu dieser Verantwortung.
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Joachim Gauck
Gott schuf uns, damit wir Verantwortung übernehmen.
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Joachim Gauck
Guten Abend aus dem Schloss Bellevue. Ich wünsche Ihnen allen, wo immer Sie jetzt zuschauen, ein frohes Weihnachtsfest! // In diesen festlichen Tagen beschenken wir uns gegenseitig. Durch gute Wünsche und Besuche zeigen wir: Wir gehören zusammen - als Familie, als Freunde, als Nachbarn. Wir brauchen diese Bindungen. Denn Glück und Erfüllung erfahren wir, wenn wir anderen zukommen lassen, was wir selber für uns erhoffen: Aufmerksamkeit, Nähe und Zuwendung. // Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns viel Grund zur Freude bietet: Deutschland hat mehr Arbeit als je zuvor, es ist im Ausland beliebt wie nie, und Fußball-Weltmeister sind wir auch. // Zugleich aber blicken wir zurück auf ein Jahr voller Friedlosigkeit, auf Kriege, Bürgerkriege, Terror und Mord, sogar unter Berufung auf die Religion. Fast täglich hören wir von getöteten Menschen. Das Elend der unzähligen Heimatlosen und Vertriebenen steht uns vor Augen. // Wenn wir dann die weihnachtliche Botschaft hören: "Friede auf Erden!", so klingt sie in diesem Jahr besonders dringlich. Denn wir spüren: Kein Friede ist selbstverständlich. Jeder Frieden, ja, auch der, den wir bei uns glücklich und in Freiheit erleben, ist kostbar. // Unser Land ist heute ein Land des Friedens. Deshalb: Wo wir dazu beitragen können, dass Frieden erhalten oder gestiftet, dass Leid gelindert und eine bessere Zukunft gebaut werden kann, sollten wir alles tun, was in unserer Macht steht. Unsere Kultur, unsere Demokratie steht gegen Unfrieden, Hass und todbringende Gewalt. // Eine menschliche Gesellschaft braucht die tägliche Achtung voreinander und das tägliche Achtgeben aufeinander. Nur so schafft sie ein friedvolles Miteinander. Dieses Gebot kennen auch alle Religionen, es verbindet und verpflichtet uns alle. // Ein deutliches Zeichen für die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft sehe ich darin, dass es mittlerweile so viel Bereitschaft gibt, Flüchtlinge aufzunehmen. Vor wenigen Tagen erst habe ich einen Verein in Magdeburg besucht, der sich um minderjährige Flüchtlinge kümmert, die ohne Familie in Deutschland gestrandet sind. Dass wir mitfühlend reagieren auf die Not um uns herum, dass die Allermeisten von uns nicht denen folgen, die Deutschland abschotten wollen, das ist für mich eine wahrhaft ermutigende Erfahrung dieses Jahres. // Ermutigung: Das ist die zweite weihnachtliche Botschaft. Auch sie erklang einst auf den Feldern von Bethlehem und sie lautet: "Fürchtet euch nicht!" Der Gott, der der Welt in der Gestalt eines kleinen Kindes erschienen ist, will jede Furcht von uns nehmen. // "Fürchtet euch nicht!": Das möchte ich in diesem Jahr allen zurufen, die sich durch die Entwicklung in der Welt beunruhigt fühlen, die besorgt sind, dass wir auf etliche Fragen noch keine Antworten kennen. // Ängste ernst zu nehmen, heißt nicht, ihnen zu folgen. Mit angstgeweiteten Augen werden wir Lösungswege nur schwer erkennen, wir werden eher klein und mutlos. Die Botschaft "Fürchtet euch nicht!" dürfen wir auch als Aufforderung verstehen, unseren Werten, unseren Kräften und übrigens auch unserer Demokratie zu vertrauen. Und wir haben es doch schon erfahren: Wer sich den Herausforderungen stellt, findet auch Lösungen. Gerade jetzt, 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution, erinnern wir daran, dass sich die Verhältnisse zum Besseren wenden lassen. // Wir wissen: Ängste werden uns immer begleiten. Aber wir wissen auch: Das zu leben, was wir das Humane nennen, ist tatsächlich unsere große Menschenmöglichkeit. // Dies erfahren wir immer wieder. Ich denke an die vielen, die sich auch heute in der Nachbarschaft, im Krankenhaus oder im Heim um Mitmenschen kümmern. Ich denke auch an Menschen, die in den Ebola-Gebieten Afrikas tätig sind. An die vielen Entwicklungshelferinnen, an Soldaten, an Ärztinnen - an alle, die aus dieser Welt und aus unserem Land einen besseren Ort machen. // Wir alle können einen Beitrag leisten, damit der Wärmestrom lebendig bleibt, ohne den die Welt kalt und friedlos wäre: Indem wir uns engagieren, wenn unsere Mitmenschen Hilfe brauchen. Indem wir Bedrohten Frieden und Verfolgten Schutz bieten. // Dazu kann uns die weihnachtliche Botschaft Mut zusprechen. // In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein fröhliches, gesegnetes Weihnachtsfest.
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Joachim Gauck
Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland! // Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein, dass Politik Freude machen kann. Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden, die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben. Ich danke Ihnen. // Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen "unser Land"? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden? // Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema "Freiheit" ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum. // Stattdessen - da ich das nicht will - will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen "Wirtschaftswunder". Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße. // Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des "Demokratiewunders". Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt. // Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen. Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der 68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu, anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. // Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last der Vergangenheit umgehen sollen. // Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus, wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude! // So wie später - 1989 - dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn die Menschen aufstehen und sagen: "Wir sind das Volk", werden sie sagen können: "Wir sind ein Volk", werden die Mauern fallen. // Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt. // Der Sinn dessen, dass ich so spreche, ist, dass ich nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwortung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung. Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften - wenn auch nicht gleich ideal - zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft. // Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen? Es soll "unser Land" sein, weil "unser Land" soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. // Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit - auch soziale Gerechtigkeit - bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, sondern nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. "Unser Land" muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit - und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. // In "unserem Land" sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa. // Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen. // Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses - Ihr - Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen. // Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir. // Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine "wahre Schule" des Miteinanders auf engstem Raum. "Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben." Darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. // Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. // Mit Freude sehe ich auch, dass die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt. // Europa war für meine Generation Verheißung - aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn. // Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen sollen? Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. // Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System handelt. // Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen - aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land. // Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. // Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. // Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben. // Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht. // Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. "Was?", so hören wir es oft im privaten Raum, "Du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?" "Wie bitte, Du bist aktiv in einer Gewerkschaft?" Manche finden das dann "uncool". Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten? // Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet Euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. // Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. // Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben. // Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für ein Land, so Gandhi. // Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur geträumt, sondern das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.
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Joachim Gauck
Heute Morgen ist Bundespräsident Richard von Weizsäcker gestorben. Deutschland trauert. // Unser Land verliert mit ihm einen großartigen Menschen und ein herausragendes Staatsoberhaupt. Richard von Weizsäcker hat das Amt des Bundespräsidenten auf bleibende Weise geprägt. // Mit seinen großen Gaben und mit seiner Glaubwürdigkeit vertrat er die Bundesrepublik Deutschland überzeugend nach Außen. Er verkörperte weltweit ein Deutschland, das seinen Weg in die Mitte der demokratischen Völkerfamilie gefunden hat. // Richard von Weizsäcker war geprägt von der christlichen und aufklärerischen Tradition Europas. Er hatte das Dunkel der Diktatur erlebt. So stand er auch für eine Bundesrepublik, die sich ihrer Vergangenheit stellt. Richard von Weizsäcker hat dem Ansehen Deutschlands in der Welt einen bleibenden Dienst erwiesen. // Nach Innen gelang es ihm, dem überzeugten Demokraten, vielen Bürgern die demokratischen Institutionen näherzubringen. Mit Reden, Handeln und mit seiner Ausstrahlung verkörperte er glaubhaft eine lebendige, demokratische Bürgergesellschaft. // Auch den Menschen in der DDR gab er zu Zeiten der Teilung Orientierung und Motivation, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten. Als erster Bundespräsident des vereinten Deutschland hat er auch einen unschätzbaren Beitrag zum Zusammenwachsen der Bürgerinnen und Bürger aus Ost und West geleistet. // Richard von Weizsäcker hat gesagt: "Wenn Freiheit das Geheimnis der Demokratie ist, dann ist es eine Freiheit zur Beteiligung und zur Mitverantwortung." // Diese Maxime hat vielen Menschen und auch mir vielfach Orientierung gegeben, und ich empfinde sie als Vermächtnis für uns alle. Richard von Weizsäcker hat sich um Deutschland verdient gemacht. Mit vielen Menschen in unserem Land und in vielen anderen Ländern der Welt trauere ich um unseren früheren Bundespräsidenten. // In großer Dankbarkeit verneige ich mich vor einem großen Deutschen.
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Joachim Gauck
Heute vor 75 Jahren begann hier auf der Westerplatte der Zweite Weltkrieg. Während des Krieges standen mehr als 110 Millionen Menschen unter Waffen, fast 60 Millionen kamen um. Mehr als 60 Staaten waren in diesen Krieg verwickelt, in einem Waffengang, der erst nach sechs Jahren endete und mit dem Völkermord an den Juden eine bis dahin unbekannte Grausamkeit und Menschenverachtung erreichte. // Die Menschen hier in Polen haben entsetzlich gelitten unter diesem Krieg, der ihnen vom Deutschen Reich aufgezwungen worden war. Denn nach der militärischen Niederlage im Oktober 1939 setzte sich die Gewalt als Terror gegen die Zivilbevölkerung fort. Hitler wollte mehr als die Korrektur der Grenzen von Versailles - er suchte sogenannten "Lebensraum" für das deutsche Volk. Hitler wollte auch mehr als einen polnischen Vasallenstaat - er strebte die gänzliche Vernichtung des Staates an - die Auslöschung seiner führenden Schicht und die Ausbeutung der übrigen Bevölkerung. // Hitler nutzte Polen als Laboratorium für seinen Rassenwahn, als Übungsfeld für seine Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Slawen und Juden. Fast sechs Millionen polnische Bürger wurden willkürlich erschossen oder systematisch liquidiert. Sie endeten in Gefängniszellen, bei der Zwangsarbeit, im Bombenhagel oder in den Konzentrationslagern. // Und noch etwas kennzeichnet dieses Land: Keine andere Nation hat in einem derartigen Umfang und so lange Widerstand geleistet. Polen wollten ihr Land eigenständig befreien. Polen wollten ein freies, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Land. // Als die Befreiung dann endlich kam, brachte sie der Nation jedoch weder Freiheit noch Unabhängigkeit. Polen zählte zu den Siegern, doch weder Freiheit noch Unabhängigkeit wurden Ihrem Land zuteil. Mit der sowjetischen Herrschaft folgte eine Diktatur auf die vorangegangene. Frei wurde Polen erst dank Solidarnosc. // Die bitteren Erfahrungen gerade der polnischen Nation zeigen: Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die unabhängig und selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheiden können. Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Anderen respektieren. // Heute dürfte es in Deutschland nur noch wenige Menschen geben, die persönliche Schuld für die Verbrechen des NS-Staates tragen. Ich selber war gerade fünf Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Aber als Nachfahre einer Generation, die brutale Verbrechen begangen oder geduldet hat, und als Nachfahre eines Staates, der Menschen ihr Menschsein absprach, empfinde ich tiefe Scham und tiefes Mitgefühl mit jenen, die unter den Deutschen gelitten haben. Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine ganz besondere Verantwortung für heute und morgen. // Wenn die Beziehungen zwischen Völkern so tief von Unrecht, von Schmerz, von Arroganz und Demütigung geprägt waren wie bei Deutschen und Polen, ist eine Entfeindung alles andere als selbstverständlich. Die Annäherung zwischen unseren Völkern kommt mir daher wie ein Wunder vor. // Um dieses Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, brauchte und braucht es Menschen, die politische Vernunft und einen starken Willen einbringen. Politische Vernunft, um den Weg weiter zu beschreiten, den Westeuropa 1950 mit der Schaffung einer europäischen Völkerfamilie begann und nach 1989 gemeinsam mit Mittel- und Osteuropa fortsetzte. Ferner den starken Willen, die schmerzhafte Vergangenheit wohl zu erinnern, aber letztlich doch hinter sich zu lassen - um einer gemeinsamen Zukunft willen. // Ich kenne die langen Schatten, mit denen Leid und Unrecht die Seelen der Menschen verdunkeln. Ich weiß, dass Leid betrauert werden will und dass Unrecht nach ausgleichender Gerechtigkeit ruft. Deshalb brauchen wir weiter den aufrichtigen Umgang mit der Vergangenheit, der nichts verschweigt und nichts beschönigt und den Opfern Anerkennung zuteilwerden lässt. Ich weiß allerdings auch, dass Wunden nicht heilen können, wenn Groll oder Ressentiments die Versöhnung mit der neuen Wirklichkeit verhindern und dem Menschen die Zukunft rauben. // Um eben dieser Menschen willen dürfen wir altem und neuem Nationalismus keinen Raum geben. Um eben dieser Zukunft willen lassen Sie uns weiter vereint das friedliche und demokratische Europa bauen und mit Dankbarkeit an jene Deutschen und Polen erinnern, die schon früh aufeinander zugingen: mutige Menschen in den evangelischen und katholischen Kirchen, in der Aktion Sühnezeichen, unter den Intellektuellen beider Länder. Gerade wir Deutschen werden nicht den Kniefall von Willy Brandt in Warschau vergessen, jene Geste der Demut, mit der er um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bat. In unserer Erinnerung bleibt auch die Umarmung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz Mazowiecki im schlesischen Kreisau - nur drei Tage nach dem Fall der Mauer 1989. Auf berührende Weise symbolisierte sie das Ende von Feindschaft, von Misstrauen, von Krieg und den Wunsch nach Verständigung und Aussöhnung. // Als sich vor genau fünf Jahren hier auf der Westerplatte 20 europäische Staats- und Regierungschefs versammelten, um gemeinsam der Gräuel des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, sahen wir uns auf dem Weg zu einem Kontinent der Freiheit und des Friedens. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass auch Russland, das Land von Tolstoi und Dostojewski, Teil des gemeinsamen Europa werden könnte. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass politische und ökonomische Reformen unseren Nachbarn im Osten der Europäischen Union annähern und die Übernahme universeller Werte in gemeinsame Institutionen münden würden. // Wohl niemand hat damals geahnt, wie dünn das politische Eis war, auf dem wir uns bewegten. Wie irrig der Glaube, die Wahrung von Stabilität und Frieden habe endgültig Vorrang gewonnen gegenüber dem Machtstreben. Und so war es ein Schock, als wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird. Eine kriegerische Auseinandersetzung um neue Grenzen und um eine neue Ordnung. Ja, es ist eine Tatsache: Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent sind wieder in Gefahr. // Nach dem Fall der Mauer hatten die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen jeweils besondere Beziehungen zu Russland entwickelt und das Land auf verschiedene Weise integriert. Diese Partnerschaft ist von Russland de facto aufgekündigt worden. Wir allerdings wünschen uns auch in Zukunft Partnerschaft und gute Nachbarschaft. Aber die Grundlage muss eine Änderung der russischen Politik und eine Rückkehr zur Achtung der Prinzipien des Völkerrechts sein. // Weil wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten lassen sich in diesen Grundfragen nicht auseinanderdividieren, auch nicht in der Zukunft. // Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht. Und deshalb strebt Deutschland - wie die ganze Europäische Union - nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit und Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit und Elastizität miteinander verbindet - und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten ohne politische Auswege zu verstellen. // Europa steht vor neuen, vor großen Herausforderungen. Was wir augenblicklich erleben ist die Erosion alter Ordnungen und das Aufflackern neuer Formen von Gewalt an unserer Peripherie. Das gilt auch für den Nahen Osten und Nordafrika. Nur an wenigen Orten führte der Arabische Frühling zu Demokratie und Stabilität, vielerorts halten die Unruhen und die Machtkämpfe an. Starken Einfluss gewannen islamistische Gruppen, besonders gewalttätige Fundamentalisten setzten sich in Teilen von Syrien und im Irak durch. // Im Unterschied zu früheren Rebellionen geht es diesen Gruppen nicht um einen Machtwechsel im nationalstaatlichen Rahmen. Sie sind viel radikaler und zielen auf die Errichtung eines terroristischen Kalifats im arabischen Raum. Fanatisierte und brutalisierte Frauen und Männer aus unterschiedlichen Ländern missbrauchen die Religion und die Moral, um alle zu verfolgen und unter Umständen zu ermorden, die sich ihnen widersetzen - Muslime ebenso wie Andersgläubige. Unsere westlichen Staaten und Städte halten sie für Orte der Verderbnis. Die aus der Aufklärung erwachsene Gesellschaftsform der Demokratie wird von ihnen bekämpft und die Universalität der Menschenrechte, sie wird von ihnen geleugnet. // Verhinderung wie Bekämpfung dieses Terrorismus liegen ganz existentiell im gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft und damit Europas. Erstens wegen der geographischen Nähe: Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten kommen zu uns nach Europa, und die Terroristen werben neue Rekruten auch in unseren Staaten an. Zweitens, weil der Konflikt unsere europäischen Länder erreichen kann. Nicht auszuschließen ist, dass auch europäische Staaten zum Ziel islamistischer Angriffe werden. // Wenn wir den heutigen Jahrestag hier auf der Westerplatte gemeinsam begehen, so konfrontieren wir uns nicht nur mit dem, wozu Menschen im Zweiten Weltkrieg fähig waren. Wir konfrontieren uns heute gemeinsam auch ganz bewusst mit dem, wozu Menschen heute fähig sind. // Ja, uns führt heute das Gedenken zusammen, aber genauso stehen wir zusammen angesichts der aktuellen Bedrohungen. Niemand sollte daran zweifeln: Deutsche und Polen stehen beieinander und ziehen am selben Strang. Gemeinsam nehmen wir die besondere Verantwortung an, die uns mit den Konflikten in unserer Nachbarschaft zugewachsen ist. Wir handeln entsprechend und engagieren uns für friedliche Lösungen. // Auch die Europäische Union muss angesichts der neuen Herausforderungen zusammenstehen. Denn nur gemeinsam können wir das demokratische und friedliche Europa der Zukunft bauen. Und nur gemeinsam können wir es verteidigen.
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Joachim Gauck
Ich bin sicher, dieser Mann kann uns wichtige Impulse geben für die Herausforderung unserer Zeit und der Zukunft, die Globalisierung, die europäische und internationale Staatsschuldenkrise, die Energiewende, die innere und äußere Sicherheit und nicht zuletzt das immer wieder neu zu schaffende Vertrauen in die Demokratie und unsere freiheitliche Grundordnung.
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Joachim Gauck
Ich habe mich auf meinen Antrittsbesuch bei der Bundeswehr ganz besonders gefreut. Sie können sich wahrscheinlich nur sehr bedingt vorstellen, warum das so ist und warum ich so gerne zu Ihnen gekommen bin, hier an die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. // Soldaten und Militär - das war nämlich in meinem früheren Leben allgegenwärtig, in den Gesellschaften, in denen ich lebte bis zu meinem 50. Lebensjahr. Es sind keine guten Gefühle, die in mir hochkommen, wenn ich an diese Zeit denke. Wenn ich mich erinnere an all diese Aufmärsche, an die Militarisierung unserer Schulen, an die Erziehung zum Hass auch im Offizierscorps und unter den Soldaten, an die Ablehnung eines Zivildienstes durch Partei und Staat, an die militärische "Absicherung" einer unmenschlichen Grenze - und zwar nicht gegen einen Aggressor, sondern gegen das eigene Volk. Ich habe also in einem Land gelebt, in dem die Armee einer Partei verpflichtet war. Eine Armee, die "Volksarmee" hieß, aber es nicht war. Eine Partei, die von sich behauptet hat, den Volkswillen zu vertreten und die sich nicht gescheut hat, Soldaten unter Umständen auch gegen das Volk einzusetzen. Ich habe das Militärische also kennengelernt als eine - nicht nur physische - Begrenzung von Freiheit. // Und nun stehe ich vor Ihnen hier in Hamburg als Bundespräsident des vereinigten Deutschland. Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit zweiundzwanzig Jahren auch "meine Armee" sagen kann. Und bin froh, weil ich zu dieser Armee und zu den Menschen, die hier dienen, aus vollem Herzen sagen kann: Diese Bundeswehr ist keine Begrenzung der Freiheit, sondern eine Stütze der Freiheit. // Jetzt ahnen Sie vielleicht, wie wertvoll dieser Besuch für mich ist und wie wertvoll die Begegnungen mit gebildeten Offizieren, die ich heute haben konnte, für mich sind. Welch ein Glück, dass es uns gelungen ist, nach all den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland und nach den Gräueln des Krieges, in diesem Land eine Armee zu schaffen: eine Armee des Volkes, diesmal im besten Sinne, kein Staat im Staate in preußischer Tradition, keine Parteienarmee, sondern eine "Parlamentsarmee", an demokratische Werte gebunden, an Grundgesetz und Soldatengesetz; eine Armee unter der Befehlsgewalt eines Zivilisten, rekrutiert aus eigenverantwortlichen Bürgern und heute auch Bürgerinnen, die zu kritischen Geistern ausgebildet werden in Institutionen wie dieser; eine Armee, deren Einsätze unter dem Vorbehalt und der Zustimmung durch unsere Volksvertreter stehen und - wenn auch nicht genügend - öffentlich diskutiert werden. // All das kann einer wie ich, der zwei Drittel seines bisherigen Lebens in Diktaturen verbracht hat, nicht als selbstverständlich empfinden. In vielen Ländern der Welt ist es leider auch heute keine Selbstverständlichkeit. Und so ist für mich die Bundeswehr Teil dessen, was ich kürzlich in meiner Antrittsrede als "Demokratiewunder" in Deutschland bezeichnet habe. Ein Demokratiewunder, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen vollzogen hat - und vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten dann auch im Osten unseres Landes mit einer ganz eigenen Dynamik. // Ich denke daran, wie in den Jahren nach 1990 die Bundeswehr eine "Armee der Einheit" wurde - und wie aus Soldaten, die einst vielleicht aufeinander hätten schießen müssen, Kameraden wurden. Daran hat übrigens auch die engagierte Bildungsarbeit der Bundeswehr einen großen Anteil und ich denke an die verantwortlichen Offiziere und Politiker, die daran maßgeblich mitgewirkt haben, mit Dankbarkeit. Und ich möchte mit meinem Antrittsbesuch an diesem Ort, an diese komplizierte Phase ganz bewusst erinnern. Es gehört mit zu den Führungsaufgaben die Sie begleitet und gestaltet haben. // Liebe Soldatinnen und Soldaten, Sie schützen und verteidigen das, was uns am wichtigsten ist, auch über die Grenzen unseres Landes hinaus: Freiheit und Sicherheit, Menschenwürde und das Recht jedes Einzelnen auf Unversehrtheit. Sie handeln dabei im Auftrag einer freiheitlichen Demokratie. Sie sind als "Staatsbürger in Uniform" Teil dieser Gesellschaft, Sie stehen mit Ihrem Dienst für diese Gesellschaft ein. // Diese Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, und auch Sie in der Bundeswehr stehen vor Aufgaben des Wandels. Ich nenne nur ein paar Stichworte: zunehmende finanzielle Zwänge, Reformen, damit haben Sie hier natürlich eine jahrzehntelange Übung, technische Neuerungen, Schließung von Standorten; die vollständige Öffnung der Bundeswehr für Frauen und, erst kürzlich, der Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht, was viele in Deutschland noch bis heute nicht richtig verstanden haben, dazu gemeinsame Auslandseinsätze mit verbündeten Nationen und neue Arten von Bedrohungen und asymmetrischen Kriegen. // Vieles haben Sie gemeistert, vieles müssen Sie noch meistern. Sie werden es meistern, da bin ich mir sicher. Denn Sie stellen sich hier professionell und mit einem hohen Ethos darauf ein. // Diese Bundeswehr hat nie auf starre Strukturen und Prinzipien gesetzt. Sie hat sich bewusst und bedacht von vielen unguten militärischen Traditionen abgesetzt, auch wenn das in der Geschichte der Bundeswehr sicher manchem alt gedienten Offizier anderer Armeen nicht immer leicht gefallen ist. Sie hat mit ihrer Kultur der "inneren Führung" Diskussion und Reflexion möglich gemacht und damit auch Veränderungsfähigkeit. Bei meinem Rundgang hier in der Führungsakademie war ich sehr beeindruckt von dem, was Sie "Veränderungsmanagement" nennen. Diese Lernfähigkeit bei gleichzeitig fester Wertebasis ist das Fundament, auf das die Bundeswehr auch in Zukunft bauen kann. // Die Welt um uns verändert sich rasant. "Wir übernehmen jetzt Verantwortung für Dinge, über die wir früher nicht einmal nachgedacht hätten", so hat es kürzlich General Carl-Hubertus von Butler ausgedrückt, bis vor kurzem Befehlshaber des Heeresführungskommandos. Vor wenigen Tagen ging durch die Presse, wie sich die Bundeswehr für den sogenannten "Cyberkrieg" rüstet. Und während wir hier sitzen, stehen Tausende von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf drei Kontinenten in Einsätzen ihren Mann und ihre Frau. // Die Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn von Afrika, im Einsatz gegen Terror und Piraten - wer hätte so etwas vor zwanzig Jahren für möglich gehalten? Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, werden heute ausgebildet mit der klaren Perspektive, in solche Einsätze geschickt zu werden - mit allen Gefahren für Leib, Seele und Leben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir, die Zivilen, uns bewusst machen, was Ihnen abverlangt wird und welche Aufgaben wir von Ihnen in der Zukunft erwarten. All das darf nicht allein in Führungsstäben und auch nicht allein im Parlament debattiert werden. Es muss da debattiert werden, wo unsere Streitkräfte ihren Ort haben: in der Mitte unserer Gesellschaft. // Sie werden jetzt vielleicht - und zu Recht - sagen: bitte, an uns soll's nicht liegen, das kann ja geschehen. Wir hätten gerne mehr als bloß das heute sprichwörtliche "freundliche Desinteresse", das schon der frühere Bundespräsident Horst Köhler bedauernd festgestellt hat. Die Bundeswehr steht zwar mehr denn je unter Beobachtung der Medien. Und doch ist sie im öffentlichen Bewusstsein nicht sehr präsent. // Es liegt wohl zum einen an der unvermeidlichen räumlichen Distanz: Viele Standorte der Bundeswehr mussten geschlossen werden, Sie sind als Soldatinnen und Soldaten im Alltag unserer Städte und Gemeinden einfach weniger präsent. Und wer kann sich schon vorstellen, als Zivilist in dem so friedlichen Deutschland, wie es sich lebt in Masar-i-Scharif oder in Prizren, welche Entbehrungen diejenigen in Kauf nehmen müssen, die außerhalb der Feldlager ihren Auftrag erfüllen, welchen Belastungen sie tatsächlich tagtäglich ausgesetzt sind? // Zum anderen ist es aber so, dass bei vielen ein Nicht-Wissen-Wollen existiert. Das ist irgendwie menschlich: Wir wollen nicht behelligt werden mit Gedanken, dass es langfristig auch uns betreffen kann, wenn anderswo Staaten zerfallen oder Terror sich ausbreitet, wenn Menschenrechte systematisch missachtet werden. Wir denken eben nicht gerne daran, dass es heute in unserer Mitte wieder Kriegsversehrte gibt. Menschen, die ihren Einsatz für Deutschland mit ihrer seelischen oder körperlichen Gesundheit bezahlt haben. Und noch viel weniger gerne denken wir daran, dass es wieder deutsche Gefallene gibt, das ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen. // Die Abscheu gegen Gewalt ist dabei verständlich. Gewalt, auch militärische Gewalt, wird ja immer ein Übel bleiben. Aber sie kann - solange wir in der Welt leben, in der wir leben - eben nicht in einer geheilten, sondern in einer tief gespaltenen Welt, sie kann in einer solchen Welt notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden oder zu unterbinden. Allerdings müssen wir dann, wenn wir zu dem letzten Mittel der militärischen Gewalt greifen, diese gut begründen. Wir müssen diskutieren: darüber, ob wir mit ihr die gewünschten Ziele erreichen oder ob wir schlimmstenfalls neue Gewalt erschaffen. Wir müssen auch darüber diskutieren, ob wir im Einzelfall die Mittel haben, die für ein sinnvolles Eingreifen nötig sind. Alle diese Fragen gehören - mit den handelnden Personen - gehören sie in die Mitte unserer Gesellschaft. // Dass Frieden, Freiheit und Achtung der Menschenrechte vielfach nicht von alleine entstehen - wer wüsste das besser als wir Deutschen? Es waren ausländische Soldaten, die unserem Land die Möglichkeit der Freiheit schenkten, als sie selbst für ihre eigene Freiheit kämpften. Deshalb: "Ohne uns" als purer Reflex kann keine Haltung sein, wenn wir unsere Geschichte ernst nehmen. Unsere Bundeswehr hat sich von unseligen militärischen Traditionen gelöst, sie ist fest verankert in einer lebendigen Demokratie. Sie hat deshalb unser Zutrauen verdient, nicht nur in Debatten um den "gerechten Krieg" zu bestehen, sondern auch einem "gerechten Frieden" den Weg zu bahnen, indem sie beiträgt zur Lösung von Konflikten, indem sie friedliche Koexistenz zu schaffen sucht, dort wo Hass regiert. // Freiheit, so haben wir gelernt, ist ohne Verantwortung nicht zu haben. Sie entbehrt auch ihres Wertes und ihrer Würde ohne diesen Begriff. Für Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist diese Haltung schrittweise selbstverständlich geworden. Ist sie es auch in unserer Gesellschaft? Freiheit und Wohlergehen sehen viele als Bringschuld der Demokratie und des Staates. Manche verwechseln dabei aber Freiheit mit Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit oder auch Hedonismus. Andere sind wiederum sehr gut darin, ihre Rechte wahrzunehmen oder gegebenenfalls sie auch vehement einzufordern. Und vergessen dabei allzu gern, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz fordert, Aufmerksamkeit, Mut, und eben manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben. // Diese Bereitschaft zur Hingabe ist selten geworden in Zeiten, da jeder für sich selbst Verantwortung zu übernehmen hat - und zu viele meinen, damit schon genug Verantwortung zu tragen. Hier, in der Bundeswehr, treffe ich überall auf Menschen mit der Bereitschaft, sich für etwas einzusetzen - gewissermaßen treffe ich auf "Mut-Bürger in Uniform"! // Man trifft diese Bereitschaft selbstverständlich auch an anderen Orten, in sehr vielen zivilen sozialen Berufen etwa oder etwa wenn man die Orden verleiht, wie es Bundespräsidenten regelmäßig tun dürfen. Diejenigen, die ich jetzt anspreche, sind nicht die einzigen, die Freiheit als Verantwortung definieren, sondern es gibt ganze Netzwerke in unserer Gesellschaft von Menschen, die es genauso sehen, ob als Zivilisten oder in Uniform. Für solche Menschen hat das Wort "dienen" keinen altmodischen Klang. Es ist Teil ihres Lebens oder - wie in Ihrem Fall - auch ihres Berufes. Darum ist ja auch die Bezeichnung "Staatsbürger in Uniform" so gut, wir wollen sie bewahren: Sie sind eben nicht nur Bürger, sondern auch Staatsbürger, diesem Land verpflichtet. // Ihr Werbespruch "Wir. Dienen. Deutschland." trifft es auf den Punkt - das heißt, mit gleich drei Punkten nach meinem Geschmack fast zuviel, aber Sie haben ja etwas beabsichtigt mit dieser Punktierung. Er trifft, nicht allein, was das "dienen" betrifft. Er lässt eben auch einen Patriotismus aufscheinen, der sich - frei nach Johannes Rau - darin zeigt, dass man sein Heimatland liebt, die Heimatländer der anderen darum aber nicht verachten muss. // Und auch dem "Wir" dient diese Bundeswehr in einem ganz besonderen Sinn: Keine Institution hat so umfassend und so früh junge Menschen, junge Männer aus beiden Teilen Deutschlands zusammengebracht, unmittelbar nach der Neuvereinigung unseres Landes. Hier arbeiten Menschen aus Ost und West, aus Nord und Süd, junge und ältere, solche mit und ohne ausländische Wurzeln zusammen. Und durch die Tore dieser Führungsakademie laufen täglich Militärangehörige aus rund 60 Nationen. Gemeinsame Einsätze mit befreundeten Streitkräften und insbesondere auch Ausbildungen wie der "Lehrgang Generalstabs-/ Admiralstabsdienst mit internationaler Beteiligung", der heute sein 50. Jubiläum feiert, sind wichtige Motoren der Verständigung zwischen ganz unterschiedlichen Völkern. Ich gratuliere Ihnen zu dieser guten Tradition. Die Bundeswehr ist - gerade durch solche Lehrgänge und Begegnungen - zu einem Friedensmotor geworden. Sie befördert das große "Wir", ohne das ein dauerhafter Friede nicht möglich ist. // Wie bildet man Menschen aus, die solch wichtige Aufgaben übernehmen? An dieser Führungsakademie, das habe ich gespürt, wird kein geistiger Gleichschritt gelehrt. Hier werden Persönlichkeiten gebildet und eine Fülle von Fähigkeiten entwickelt: Entscheidungsvermögen und Übersicht in fordernden Gefechtssituationen, aber auch politisches Urteilsvermögen und diplomatisches Fingerspitzengefühl, die Fähigkeit, Widerspruch in Rede und Gegenrede zu begründen, interkulturelle Kompetenz und der Umgang mit Medien. Alles in allem: die hohe Kunst, Verantwortung zu übernehmen. // "Sie stehen nicht nur persönlich vor ihren eigenen Soldaten im Rampenlicht, sondern als Verantwortliche der Bundeswehr mitten in den Fragestellungen unserer ganzen Gesellschaft." So hat es Richard von Weizsäcker vor 25 Jahren - und bis heute zutreffend - formuliert. Für diese wichtige Aufgabe wünsche ich Ihnen weiterhin viel Glück, Mut, Selbst- und Gottvertrauen. Ich bin froh, Ihnen heute aus vollem Herzen sagen zu können: Für diese unsere Bundeswehr bin ich dankbar! Das sagt der Bürger Joachim Gauck genauso wie der Bundespräsident.
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Joachim Gauck
In tiefer Trauer verneigen wir uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Deutschen und einem herausragenden Präsidenten. Wie nur wenige stand er für unser Land - und wie nur wenige hat er für unser Land weltweit Achtung und Sympathie erworben. // Die deutsche Geschichte hat ihn geprägt. Und er hat selber tiefe Spuren in der Geschichte unseres Landes hinterlassen. Richard von Weizsäcker hat uns in den langen Jahren seines Wirkens Inspiration und Orientierung gegeben. // Wir waren es gewohnt, ihn bis ins hohe Alter zu wesentlichen Fragen zu hören. Seine Stimme, seine Art zu denken und zu sprechen, sind uns in den Jahrzehnten seines Wirkens so vertraut geworden wie die eines väterlichen Freundes. Er war ein Pater Patriae, so hätte man es früher gesagt. Er war uns vertraut - und wir haben Vertrauen zu ihm gehabt. // Wenn auch nicht jeder mit allem einverstanden gewesen ist, was er gesagt hat, so haben wir doch immer gewusst: Was er sagt, ist die Frucht einer großen Lebenserfahrung, eines unabhängigen Geistes und einer gründlichen Gewissensbefragung. Weil er nicht auf schnellen Applaus aus war, sondern auf Mitdenken; weil er auf die Kraft des Arguments baute und nicht auf schnelle Überredung; weil er auch beim Anderen voraussetzte, was ihn selber leitete: der Wille zum moralisch begründeten Handeln. All das hat dazu beigetragen, dass er glaubwürdig war. // Im Grundgesetz steht nicht geschrieben, dass ein Bundespräsident eine moralische Instanz zu sein hat. Es ist auch nicht vorgeschrieben, dass er intelligent sein, der sittlichen Vernunft folgen und auch noch durch tiefgründige Reden überzeugen können soll. Aber Richard von Weizsäcker hat all dies beherrscht oder hat es gelebt - souverän, freundlich und selbstverständlich. // Er hat damit Maßstäbe für das Amt gesetzt. Das galt für seine vielbewunderte Fähigkeit, unter praktisch allen Umständen Würde und Souveränität auszustrahlen. Er überzeugte besonders, weil Amt und Person so passgenau zur Deckung kamen. Und weil seine Reden und seine Handlungen, seine ganze Unabhängigkeit so sehr dem entsprachen, was die Deutschen sich von einem Staatsoberhaupt wünschten. // Das galt übrigens nicht nur für die Bundesdeutschen der Bonner Republik. Auch für uns Deutsche in der DDR war er eine Integrationsfigur. Mit unzähligen Menschen in der DDR wünschte ich einst, er könnte auch unser Präsident sein. Später wurde er zu unser aller Glück der erste Bundespräsident im wiedervereinigten Land. Er war es, der 1987 zu Michail Gorbatschow, der damals von einer "offenen deutschen Frage" nichts wissen wollte, gesagt hatte: "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist". // Die äußerlich wahrnehmbare Souveränität kann nur dem gelingen, dessen Souveränität aus innerer Stärke kommt. // Woher die innere Stärke dieses Mannes kam, bleibt letztlich, wie bei jedem Menschen, ein Geheimnis. Aber wir dürfen schon vermuten, dass seine Erziehung dazu beitrug: in einer Familie, in der der Dienst am Gemeinwesen in hohen und höchsten Ämtern über Generationen üblich war. // Die Erfahrung mit seinem Vater hat ihn andererseits auch gelehrt, vor welche Gewissensfragen ein solcher Dienst einen Menschen stellen kann. Wohl sein Leben lang hat er sich innerlich mit seinem Vater auseinandergesetzt, dem Staatssekretär im nationalsozialistischen Deutschland, den er, nicht nur vor dem Nürnberger Gericht, sondern immer verteidigt hat. // Geprägt haben ihn gewiss auch seine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg: Schon am ersten Tag des Krieges musste er dabei sein, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Am zweiten Tag wurde sein Bruder, wenige hundert Meter von ihm entfernt, tödlich verletzt. Der Kriegsteilnehmer von Weizsäcker hat vieles gesehen, vieles erlebt und später vieles verarbeiten müssen. Er hat darüber nur wenig gesprochen. Aber zeitlebens hat ihm die eigene Zeit mit ihren Brüchen und Kontinuitäten vor Augen gestanden. Das hat ihn nicht nur zu einem Zeugen der Zeiten, sondern später zu einem Deuter der Zeit gemacht. // Und ganz gewiss haben ihn die Erfahrungen seiner jungen Jahre zu einem überzeugten Demokraten gemacht. Auch dass eine Demokratie wehrhaft und stark sein muss, war ihm bewusst als eine nie zu vergessende Lehre aus dem Scheitern von Weimar. // Dass Politik im demokratischen Rechtsstaat durch Parteien gestaltet wird, war Richard von Weizsäcker vollkommen klar. Er ist 1954 Mitglied der CDU geworden, und ohne diese Mitgliedschaft hätte er damals keine politischen Ämter erreichen können. Sein "Ja" zur Parteiendemokratie hinderte ihn nicht, später auf die Gefahr hinzuweisen, dass Parteien versucht sein können, den eigenen Machterhalt vor das Interesse des Gemeinwesens zu setzen. // Freiheitliche Gesinnung und demokratische Überzeugung bedeuteten für ihn nicht, sich immer der Mehrheit zu fügen. 1972 stellte er sich gegen die überwältigende Mehrheit seiner Bundestagsfraktion und kündigte an, für die Annahme der Ostverträge stimmen zu wollen. Sein politischer Einsatz führte letztlich dazu, dass sich die allermeisten Abgeordneten von CDU und CSU der Stimme enthielten. So half er, diese Verträge und damit die historische Leistung von Bundeskanzler Willy Brandt zu ratifizieren. // Ohne die enge Einbindung in das Atlantische Bündnis je in Frage zu stellen, knüpfte er an sein eigenes langjähriges und leidenschaftliches Engagement für eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands an. Richard von Weizsäcker war nicht nur 1965 an der Formulierung der wegweisenden Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland beteiligt. Durch vielerlei Kontakte knüpfte er Bande des Vertrauens, die sich als haltbar erwiesen und die sich später, bei der Überwindung der Teilung Europas, als ungemein wichtig herausstellten. Angesichts seines Todes sind deshalb gerade aus Polen große Zeichen der Anteilnahme gekommen. // Es war nicht immer einfach, seine eigenen Parteifreunde von der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen. Auch die Gelassenheit, mit der er den Protestbewegungen der 1980er Jahre begegnete, als Regierender Bürgermeister von Berlin sogar den Hausbesetzern, betrachtete mancher aus dem konservativen Milieu mit Skepsis. Aber er half doch damit, die Verankerung des demokratischen Staates in den Köpfen und Herzen gerade der kritischen Geister zu stärken. Auch so wurde Richard von Weizsäcker zu einem der glaubwürdigsten Repräsentanten dieser Republik, gerade für die jüngere Generation. // Zu seiner inneren Stärke und zu seiner klaren Orientierung trug nicht zuletzt sein christlicher Glaube bei. Bei Richard von Weizsäcker waren Wort und Tat erkennbar die eines engagierten Christen. Die Aufgabe, die er lange Jahre als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages wahrgenommen hat, sie hat ihm entsprochen. // Von großer Bedeutung war für ihn die Kraft, die er aus seiner Familie schöpfte und ganz besonders aus der jahrzehntelangen Liebe zu und von seiner Frau Marianne. // Liebe, verehrte Frau von Weizsäcker, wir alle konnten sehen, was Sie beide einander bedeuteten. Deshalb sind wir Ihnen auch dankbar für Ihre Unterstützung dieser bedeutenden Präsidentschaft. Und es ist uns ein tiefes Bedürfnis, in diesen Tagen des Abschieds Ihren Schmerz mitzutragen. Wenn schon für uns, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, der Tod Richard von Weizsäckers ein so großer Verlust ist, dann erst recht doch für seine Familie, seine Kinder, seine Enkel, auch für seine Freunde. Ihnen allen gilt unser Mitgefühl. // Richard von Weizsäcker hat ein wahrhaft biblisches Alter erreicht. Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts. In seiner Lebensgeschichte begegnet uns eine Existenz, die noch ganz andere Prägungen erfahren hat als unsere Gegenwart sie kennt. Als er im Stuttgarter Neuen Schloss geboren wurde, war die württembergische Monarchie, der sein Großvater noch gedient hatte, gerade einmal zwei Jahre abgeschafft. // Als gebürtiger Schwabe gehörte er einem Deutschen Reich an, das von Aachen bis Königsberg reichte. Und als er Bundespräsident wurde, gehörten nicht einmal mehr Erfurt und Weimar, Leipzig oder Dresden zu dem Staat, den er repräsentierte, nicht einmal "Unter den Linden" in Berlin oder die Wilhelmstraße, wo 40 Jahre zuvor das Auswärtige Amt seinen Sitz hatte, in dem sein Vater Dienst tat. All das gehörte nicht zu diesem Deutschland, dessen Präsident er wurde. // Richard von Weizsäcker wusste nicht nur intellektuell, was Deutschland durch Diktatur, Völkermord und Krieg verspielt hatte. Er erlebte es sozusagen mit seiner ganzen Biographie einschließlich seiner Familiengeschichte. Vielleicht war er deswegen - wagen wir es ruhig, dieses Wort zu benutzen: berufen dazu, uns Deutschen zu einer endgültigen Klarheit über den Krieg und seine Folgen zu verhelfen. // Im Leben eines jeden Menschen, da gibt es Momente, auf die gleichsam die ganze Existenz zuläuft, Augenblicke, in denen der Mensch "Ja" sagt zu dem, was unvertretbar auf ihn und niemanden anderes jetzt zukommt. Das war für den politischen Menschen Richard von Weizsäcker zweifellos seine Rede am 8. Mai 1985. // Richard von Weizsäcker hat sich mit dieser Rede um sein Vaterland verdient gemacht. Nicht, weil er gesagt hätte, was damals niemand gewusst hat. Er hat vielmehr das gesagt, was 1985 alle wissen mussten, was aber auch 1985 noch immer nicht alle wissen wollten. In einer langen und intensiven Vorbereitung dieser Rede hat er nicht nur Spuren aufgenommen, die frühere Bundespräsidenten gelegt hatten, hat nicht nur Stimmen und Stimmungen der bewegten Jahre nach 1968 wahrgenommen, sondern er hat all dem seine eigenen Erfahrungen beigefügt. Als Zeitgenosse des blutigen Jahrhunderts war es sein eigenes inneres "Ja", das ihn zu einer Erkenntnis geführt hat, die die Öffentlichkeit als Bekenntnis empfunden hat. Es war ein Bekenntnis. // Die zentralen Sätze beschrieben die Erkenntnis, dass die schlimmen Leiden, die die Deutschen selbst erlebten am Kriegsende, nicht als unverschuldetes Schicksal über uns gekommen waren: "Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen." Seine Worte. // Als er mit der Autorität des Staatsoberhauptes den 8. Mai einen Tag der Befreiung nannte, vergaß er nicht diejenigen, für die mit diesem Tag das Schlimmste noch lange nicht zu Ende war oder gar erst begann. Aber für Viele hat er damit dem Lavieren ein Ende gesetzt, so dass sie nun freier in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft gehen konnten. Im Laufe der Zeit wuchs deswegen die Zustimmung zu dieser Rede auch bei denen, die erst nicht applaudieren konnten. // Und noch etwas: Richard von Weizsäcker förderte mit dieser Rede und mit seiner Haltung den Mut zur Wahrhaftigkeit. Er lebte diese Wahrhaftigkeit hier selber vor. In dieser Rede ist in eindringlichen Worten ausgedrückt, dass Menschen, dass wir aus eigener Kraft und aus eigener Erkenntnis jene Einsichten formulieren konnten, die uns befreiten zu einem neuen Selbstverständnis. Es waren nicht zuletzt diese Rede und - vergessen wir es nicht - die Politik des Bundeskanzlers Helmut Kohl, die in der Welt das Vertrauen in ein wahrhaft gewandeltes Deutschland befestigten, ein Vertrauen, das den Prozess der Vereinigung Deutschlands enorm unterstützt hat. // So sind wir dankbar, wenn wir zurückschauen: Wir sehen Richard von Weizsäcker, den Mann, der mit der Geschichte und aus der Geschichte lebte - und gerade so den Fragen der Gegenwart ungewöhnlich offen zugetan war; einen Mann, der wusste, was pragmatisches Regieren bedeutete - und gerade deshalb eine Politik ohne Wertegrundlage ablehnte; einen eminent politischen Präsidenten, der notwendigen Kontroversen nicht aus dem Wege ging - und trotzdem auf Konsens zielte; einen Mann des disputierenden Abwägens, vertraut mit den Ambivalenzen und Paradoxien der Politik - und gleichzeitig fähig zu glasklarer Eindeutigkeit in Grundfragen. // In ihm, Richard von Weizsäcker, sahen die meisten Deutschen die Verkörperung guter Präsidentschaft. Das war für die Befreundung der Deutschen mit ihrem Land, mit ihrer Demokratie wichtig. Wir könnten es auch einfacher sagen: Indem sie ihn mochten, lernten die Deutschen sich selber zu mögen. Etwas Heilendes war mit ihm in das politische Leben gekommen. Denn nur wer Vertrauen zu sich selbst hat, wird erfahren, dass auch andere ihm vertrauen. // In tiefer und großer Dankbarkeit tragen wir ihn jetzt hier in Berlin zu Grabe, in der Stadt, die auch durch seinen leidenschaftlichen Einsatz die Hauptstadt eines vereinten Deutschlands geworden ist. // Wir verneigen uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Bundespräsidenten, der, als es an ihm war, das Richtige sagte und das Richtige tat.
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Joachim Gauck
Liebe Bürgerinnen und Bürger! // Wir haben eine Wahl. Wir haben etwas, wovon Millionen Menschen in der Welt noch träumen. // Es gehört zur Freiheit in unserem Land, auf dieses Recht zu verzichten. Aber es gehört auch zur Freiheit, daran zu erinnern: Demokratie passiert nicht einfach, sie wird gemacht: von uns. // Demokratie ist gemeinsames Handeln von allen, die sich einbringen wollen. Und wie viel Kompetenz und Hingabe, wie viel Mut und Ehrlichkeit wir in der Politik vorfinden, ist kein Zufall, sondern Folge unserer Entscheidungen. Diejenigen, denen wir unsere Stimme geben, werden unser Land gestalten. Was wir aktiv beitragen, wird zum Programm. Was wir passiv hinnehmen, ebenso. // Deshalb möchte ich Sie ermutigen: Überlassen Sie unsere parlamentarische Demokratie nicht der Beliebigkeit oder gar dem Verdruss. // Eigentlich ist uns das Wählen vertraut: Jeden Tag treffen wir unsere Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten - in allen möglichen Lebensbereichen. Warum soll das für die Politik nicht gelten? // Unsere Demokratie lebt davon, dass wir eine Stimme haben und diese Stimme nutzen. Sie lebt davon, dass Bürger andere Bürger auf Zeit damit beauftragen, die öffentlichen Dinge zu regeln. Und sie lebt davon, dass die Gewählten ihren Auftrag ernst nehmen. // Unsere Demokratie ist nicht perfekt und ihre Ergebnisse überzeugen nicht jeden jederzeit. Aber sie ist vital, offen für Veränderung, lernfähig und damit die Ordnung, die das Kostbarste schützt, was wir haben: selbstbestimmt und eigenverantwortlich unser Leben, unsere Zukunft zu gestalten. // 61,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind in diesem Jahr wahlberechtigt. Jede und jeder einzelne kann gewiss sein: Ihre Stimme hat am Sonntag Gewicht und zwar genauso viel wie die Stimme Ihres Nachbarn, Ihres Vorgesetzten oder die des Bundespräsidenten. // Wir alle haben die Wahl. Wollen wir abwarten, zuschauen oder mitwirken? Indem wir wählen, entscheiden wir uns für eine lebendige Demokratie.